Sonntag, April 28, 2019

Journalist, der EKRE kritisierte: Mir gab man die Wahl zwischen Selbstzensur und Kündigung

Kaum habe ich ein Artikel über die Pressefreiheit in Estland geschrieben, da gibt es einen aktuellen Fall. Auto Lobjakas ist meiner Meinung nach der intellektuellste linksliberale Journalist in Estland, mehr von seinen Texten habe ich nur aus dem Grund nicht übersetzt, weil sie viel zu komplex waren.

Dieser Text ist eine Übersetzung einen Artikel aus Postimees.
Ahto Lobjakas
Photo: SCANPIX

Seit gestern wurde bekannt, dass die Estnische Staatsgesellschaft für Rundfunk und Fernsehen (ERR) den Anstellungsvertrag mit dem Moderator der Sendung Olukorrast riigis („Über die Situation im Staat“) auf dem Sender „Radio 2“ Ahto Lobjakas gekündigt hat

Heute hat Ahto Lobjakas bestätigt, dass er gezwungen wurde den Platz des Radiomoderators wegen seiner kritischen Aussagen zu verlassen. Er kommentierte die Situation auf seiner Seite in Facebook.

„Mit wurde nicht gekündigt. Mir gab man die Wahl zwischen Selbstzensur und Kündigung. Ich habe die Sendung „Über die Situation im Staat“ über vier Jahre lang moderiert. In den Jahren, als die Partei der Reform die Macht innehatte, hat man auf mich als den Moderator kein einziges Mal Druck erzeugt, unabhängig davon, wie scharf meine Kritik war. Dasselbe kann ich sagen über die Regierung der Zentrumspartei.

Nach den Wahlen hat sich etwas geändert. Es kamen Signale an, dass die Kritik an die Adresse der erschaffenen Koalition zu scharf wäre und es ist unzulässig auf die Politik einzuwirken. Es wurde die Wortwahl kritisiert, es wurde empfohlen intelligente Euphemismen oder indirekte Aussagen zu machen. Es wurde mir geraten den Druck zu erniedrigen und anstatt über die unwürdige Personen und Ideen zu sprechen, sich auf das Programm der neuen Regierung zu konzentrieren. Es wurde die Wichtigkeit „des Ausgleichs“ betont. Laut dieser Logik kann das letztgenannte nur heissen, dass man Rassisten, Antisemiten und Neonazis nicht nur in EKRE, sondern auch in anderen Parteien suchen sollten, und falls solche dort fehlen, dieses Thema überhaupt nicht zu erwähnen.

Als die Gespräche anfingen, dass man mir riet, dass es für meine geistige Gesundheit nützlich wäre für ein paar Monate eine Pause zu nehmen, damit es bei mir wir bei den Herrn X und Herrn Y kein Burnout gibt,, dann habe ich verstanden, dass das Ende nah ist und es zu verschieben, bedeutet nur, dass man kollektive Qualen aller Beteiligten verlängert.

Als einem ehemaligen Korrespondenten von Radio Liberty Europe ist mir das alles beklemmend bekannt vorgekommen und erinnerte mich an die post-sowjetische und andere halbfreie Gesellschaften. In der staatlichen Journalistik duldet man keine kritische Stimmen. Niemand macht den Druck aus bösem Willen heraus, doch der Druck existiert und sein klarer Subtext besteht darin, dass man oben nervös wird und von denen, die ohne Schutz sich unter ihrer Führung befinden, Mitarbeit und Wegducken erwarten. In jungen Demokratien ist das ein einfacher aber glitschiger Weg, am Anfang steht die Selbstzensur, und am Ende nichts anderes als eine freie Gesellschaft.

Ich kann nicht sagen, warum die Lage in ERR so geworden ist. Doch ich muss eins sagen: wenn ich lange Texte der Ratsvorsitzender und Führung des ERR in den letzten Wochen lese, in ihnen birgt sich der Wunsch die Spannungen in der Gesellschaft zu glätten und der Riss zu kitten. Das ist wunderbar, doch es hat keinerlei Bezug zur freien Journalistik als Wert und Institution, die diese Leute verteidigen sollten. Umgekehrt, in den heutigen Bedingungen diese Texte kann man lesen als den Versuch den Kompromiss zu verteidigen - zu Nutzen der Mächtigen, gegen die Journalistik. Ich glaube, das ist die Erklärung, warum ERR es nicht wagt, seine Leute zu verteidigen. Mein unmittelbarer Vorgesetzter, der Hauptredakteur von „Radio 2“ Kristo Rajasaare, den sich nicht zu Schulden kommen liess, bemerkt in seiner gestrigen Behauptung, dass in den letzten Wochen ich angegriffen wurde. „Radio 2“ war immer auf meiner Seite, doch ERR als Institution, die von der Führung vertreten wird, hat im Falle des Angriffs auf die Journalisten entweder eine neutrale Position eingenommen, oder hat Zugeständnisse den Angreifern gemacht. Das ist nur zu einem kleinen Teil mein Problem als Journalist: in großem Maße ist das ein Problem des Estnischen Allgemeinen Rundfunks und aller seinen Journalisten.

Wie das Schicksal so spielt, hat sich auch in mir selbst seit einigen Monaten gewissen Müdigkeit angesammelt, von der immer aggressiver werdenden politischen Agenda. Vier Jahre ist eine lange Zeit, um so eine Sendung immer auf eine frische Art zu machen, mein Plan war Anfang Juni zu gehen. Doch ich konnte es noch gar nicht kund tun, als man mir die Fortsetzung meiner Arbeit in der Sendung unmöglich gemacht hat.

Ich wünsche Erfolg meinem nachfolgendem Moderator (der für die Geschlechtergerechtigkeit auch weiblich sein könnte).

Ich danke Andrus für seine riesige Geduld, ich weiss, dass zumindest bis er auf seinem Platz bleibt, in der Sendung „Über die Situation im Staat“ man die Situation im Staat besprechen wird, und nicht, ob die Züge pünktlich sind oder nicht.

So wie ich es verstanden habe, wird meine letzte Sendung am 2. Juni gesendet“.

Mittwoch, April 24, 2019

Pressefreiheit auf Estnisch

Der Artikel ist eine Übersetzung von hier.

Die amerikanische NGO „Freedom House“ veröffentlichte am 5. Februar 2019 das alljährliche Rating „Freiheit in der Welt-2019“ in dem Estland zu freien Ländern gezählt wurde, der Level der Pressefreiheit wurde mit 94 aus 100 Punkten bewertet (gleich mit Deutschland und Island).

Am 18. April 2019 nahm Estland laut dem alljährlichem Rating, das von der Organization „Reporter ohne Grenzen“ erstellt wurde, den hohen 11-ten Platz unter den 180 Ländern bei der Pressefreiheit ein.

Die Experten von „Freedom House“ und „Reporter ohne Grenzen“ erstellen ihre Ratings, die wohl auf den Ergebnissen der Befragungen von Journalisten, Menschenrechtsaktivisten, Soziologen und Juristen basieren. Doch hinterlassen solche hohen Ratings zumindest Unverständnis unter den Leuten, die mit der Situation der Pressefreiheit in Estland vertraut sind.

Der unabhängige analytische Zentrum „Euroexperte“, ein Partner der Stiftung des Schutzes der nationalen Werte, führte eine Untersuchung durch, die den Verletzungen der Pressefreiheit in Estland gewidmet ist.

Im Land mit einem „hohen Level“ der Pressefreiheit kontrollieren estnische Geheimdienste nicht nur die unabhängige, sondern auch die sogenannte Mainstreampresse, die estnischen privaten oder staatlichen Firmen gehört. Es macht ihnen nichts aus das Ansehen eines Journalisten zu „zerstören“ und mit Drohungen und „Erklärungen“ auf potentielle Werbekunden Druck auszuüben. Es finden reguläre „ausgewählte“ Überprüfungen bei Grenzüberquerungen statt, ausgedachte Strafuntersuchungen oder administrative Vergehen werden in Gang gesetzt.

Besonders muss man den alljährlichen Bericht der Geheimpolizei KAPO anmerken, der am 12. April erscheint. Dort werden Journalisten und Medien erwähnt, die einen anderen Blickwinkel auf die Geschehnisse in Estland und der Welt haben, als der von den regierenden Parteien. Die Erwähnung im Bericht ist eine „schwarze Marke“, nach deren Vergabe all die obenbeschriebene Prozesse in Gang gesetzt werden, bis zu Herausdrängen aus dem Beruf derer, die grundsätzlich nicht verstehen wollen. Die Organisationen, die sie bekommen haben, verlieren die Unterstützung des Staates, Sponsoren, Finanzierung aus europäischen Fonds und anderer Strukturen.

In Estland, wo es nur etwas mehr als eine Million potentieller Leser gibt, dienen die Ereignisse, die unten aufgeführt werden, als Warnungen für die Journalisten, Menschenrechtsaktivisten, Mitgliedern von NGOs für mehrere Jahre voraus.

Sofort nach den erinnerungswürdigen Ereignissen im April 2007 wurde der Hauptredakteur des in Estland populärsten Nachrichtenportals "Delfi" Igor Kuldmaa entlassen, weil er versucht hat mehr oder weniger objektive Information über die Situation rund um den Bronzenen Soldaten zu vermitteln.

Laut der Meinung von „Reporter ohne Grenzen“ nahm Estland zusammen mit Slowakei im Jahr 2007 3-4. Plätze im Rating der Freiheiten ein.

Im Jahr 2009 wurden populäre estnische Blogger Inno und Irja Tähismaa für ihre kritische und manchmal satirische Publikationen über die Geschehnisse in Estland unter die aufmerksame Beobachtung seitens der estnischen Geheimdienste genommen. Am 28. April drang in ihr Haus die Polizei ein, eine Durchsuchung wurde durchgeführt, es wurden Fotoapparate und Videokameras, als auch IT-technik, private Sachen und Telefone beschlagnahmt. Die berechtigte Forderung des Ehepaares, den Anwalt abzuwarten, wurde ignoriert.

Im November 2010 hat das Parlament Estlands trotz der zahlreichen Proteste der Gesellschaft, einer Reihe von Politikern, der Gemeinschaft der Journalisten (am 18. März erschienen die sechs am meisten verbreiteten Zeitungen Estlands, die in der Union der estnischen Zeitungen Mitglieder sind, mit leeren Spalten auf der Vorderseite) das sogenannte Lang-Gesetz über den Schutz der Journalistenquellen angenommen. Das Gesetz verpflichtet die Journalisten nach Anfragen vom Staat ihre geheimen Informationsquellen ohne Gerichtsbeschluss offenzulegen.

Das angenommene Gesetz hat den Level der Pressefreiheit in Estland nicht verschlechtert, sondern verbessert, nach dem Rating, das von der internationalen Organisation „Reporter ohne Grenzen“ erstellt wurde, nahm Estland 9-10. Plätze im weltweiten Vergleich ein.

Für „falsche Berichtserstattung“ der Aktionen des Machtapparates während des Angriffes vom estnischen Staatsbürger, dem Juristen Karen Dramjan, auf das Gebäude des estnischen Verteidigungsministeriums im August 2012, wurde der Nachrichtenhauptredakteur des estnischen staatlichen Radios Vallo Kelmsaar entlassen.

Der Mitglied des Parlaments Prijt Toobal, der auch Mitglied des Rates der Estnischen Staatsgesellschaft für Rundfunk und Fernsehen (ERR) war, sagte damals, dass die Entlassung von Kelmsaar, der 15 Jahre beim Radio gearbeitet hat, politisch motiviert war. Laut seiner Meinung, könnte der Journalist sich kritisch über die Aktionen des Machtapparates bei der Tötung von Drambjan geäußert haben.

Im selben Jahr 2011 trat ein einflußreicher Journalist des populären estnischen Radiosenders Vikkerradio Mart Ummelas, der im Jahr 2009 als bester Journalist Estland anerkannt wurde, zurück, als Zeichen des Protests gegen die Politik der Redaktion, die „Schönmalerei der Wirklichkeit“ betrieben hat, das Fehlen einer argumentierten Kritik gegen die Regierung und Erscheinen einer Liste der Personen, die nicht in Massenmedien auftreten dürfen. Ummelas behauptete, dass die Journalistik, die laut Definition ein Wachhund der Demokratie sein sollte, in Estland diese Funktion nicht mehr erfüllt und die Leiter der größten Mediagruppen nur solche politischen Partner auswählen, die nicht nur helfen das Business zu führen, sondern auch enge Verbindungen zwischen der Regierung und den Massenmedien herstellen.

„Reporter ohne Grenzen“ stellten in ihrem Rating im Jahr 2011 Estland zusammen mit den Niederlanden auf die Plätze 3-4.

Am 7. März 2014 wurde ein Journalist mit 20-jährigen Erfahrung, Redakteur des Nachrichtendienstes der Staatsgesellschaft für Radio Estlands (ERR) Evgenij Levik entlassen. Der Grund für die Entlassung waren die „falschen“ Ansichten von Levik auf die Situation in der Ukraine und die Berichtserstattung der Ereignisse, die in Kiev stattfanden, in Estland.

Am 15. Dezember 2014 wurde in Tallinn der italienische Journalist, Publizist und Aktivist, ex-Mitglied des Europäischen Parlaments (2004-2009) Giulietto Chiesa im Hotel verhaftet, in eine Polizeiwache verfrachtet und später aus dem Land ausgewiesen. Er sollte vor den Journalisten und Publikum im internationalem Media-Club „Impressum“ in Tallinn zum Thema „Sollte man in Europa Russland fürchten?“ auftreten.

Im November 2014 hat der damalige Redaktor des russisch-sprachigen Teiles des Portals „Delfi“ Margarita Kornyscheva, bei der Diskussion über die Probleme der russischen Presse in Estland, die in Brüssel vom Mitglied des europäischen Parlaments Yana Toom organisiert wurde, behauptet, „so schwer wie jetzt, war es für die Journalisten in Estland noch nie gewesen. Der Grad der Gehorsamkeit in den estnischen Massenmedien nimmt einfach überhand“.

Am 15. April 2015 wurde der Vertrag mit dem Redakteur von „Delfi“ Kornyscheva aufgelöst, weil der Mitarbeiter „trotz der Warnungen, vernünftige Weisungen seitens des Arbeitgebers ignorierte und Arbeitsverpflichtungen nicht befolgte“, auch hat er „Misstrauen einer dritten Partei gegenüber dem Arbeitgeber verursacht“.

Kornyscheva ist eine der bekanntesten Journalisten des letzten Jahrzehnts, sie arbeitete und wurde publiziert in den führenden Verlagen Estlands. Sie ist Autor von hunderten journalistischen Untersuchungen zum Thema politische Korruption, Privatisierung, Wirtschaft und Kriminalität, als auch der für die russischen Journalisten Estlands „gefährlichen“ Themen, wie Wiedergeburt des Nazismus, Russophobia und der Tätigkeit der Geheimpolizei KAPO.

Kornyscheva selbst behauptete, dass ihre Entlassung einen politischen Charakter habe und mit den „unbequemen“ Themen ihrer Publikationen verbunden wäre, hauptsächlich in Verbindung mit russischen Themen, als auch mit der politischen Tätigkeiten der Geheimpolizei, die Kornyscheva anhand von konkreten Beispielen in ihren Artikeln aufzeigte.

Estland blieb im Jahr 2015 auf dem 11. Platz aus 180 in dem alljährlichen Rating der Pressefreiheit, der von der internationalen Menschenrechtsorganisation „Reporter ohne Grenzen“ erstellt wurde.

In diesen Jahren gab es auch mehrere „stille“ Abgänge nach „beidseitigem Einverständnis“. So hat das Management dem Journalisten des „Postimees“ Andrej Babin, der eine ehrenvolle Prämie, eine Journalistenreise nach Russland bekommen hat, mit der Entlassung gedroht, falls er die Prämie annimmt. Babin hat die Prämie angenommen und wurde entlassen.

Vier Jahre nach der Entlassung von Kornyscheva hat sich die Situation mit der Pressefreiheit in Estland nicht geändert. Nach der Säuberung der Mainstreammedien riskieren es die Journalisten nicht die „rote Linie“ zu überqueren und schalten den Modus der Selbstzensur ein.

Alle Fakten, die wir aufgeführt haben, sollten auch den Experten von „Freedom House“ und „Reporter ohne Grenzen“ bekannt sein, doch Jahr für Jahr bekommt Estland hohe Plätze. Es stellt sich das Gefühl ein, dass die Analysten dieser Organisationen automatisch „gute Noten“ der Presse der Länder ausstellt, die ihnen freundlich gesonnen sind, ohne die Sachlage in den fernen und unverständlichen Ländern besonders zu begutachten.

Wir merken an, dass wir bewußt nicht die zahlreichen Beispiele der Verfolgung von Journalisten, Verlegern, Media-Experten - „Propagandisten“ und „Agenten des Kreml“, wie von der lokalen Geheimpolizei und den „zahmen“ Mainstreammedia behauptet wird, aufgeführt haben. Ihre ganze Schuld besteht in anderen, gegensätzlichen zu der Regierung, Ansichten zum zwischengemeinschaftlichen Leben von Esten und Russen und der Entwicklung des Verhältnisses mit Russland. Auch wurden in die Übersicht nicht ständige Aktionen zur Behinderung der Arbeit der russländischen Journalisten aufgeführt, wie Einreiseverbote und Nichtausstellung von Visas.

Aleksander Kornilov

Sonntag, April 14, 2019

FAQ zur jetzigen politischen Lage in Estland

Das was noch vor ein paar Wochen undenkbar erschien, ist in greifbare Nähe gerückt: In Estland könnte eine rechts-radikale Partei EKRE an die Macht kommen zusammen mit der Zentrumspartei und rechts-konservativen Vaterlandspartei. Ich werde versuchen die wichtigsten Fragen sehr voreingenommen zu beantworten.

1. Was zum Teufel ist da los?

Die Zentrumspartei hat die Parlamentswahlen verloren. Die Reformisten haben gewonnen und wollten anfangen eine Koalition mit Zentristen zu schmieden. Dabei ging die Vorsitzende der Reformpartei Kaja Kallas etwas forsch vor und war wohl etwas arrogant am Telefon (so die Version der Zentristen). Es kam zu keinen Koalitionsverhandlungen. Stattdessen haben Zentristen angekündigt mit rechtskonservativen Isamaa-Partei (die schon immer die Rolle der deutschen FDP als Mehrheitsbeschaffer in Estland inne hatten) und rechtsradikalen EKRE eine Koalition zu machen. Die Reformisten und Sozialdemokraten haben den Anstand gehabt schon vor den Wahlen jede Zusammenarbeit mit EKRE auszuschliessen und sind immer noch anständig genug, dieses Versprechen nicht zu brechen. Zentrumspartei hat dieses Versprechen nicht gegeben, aber da die Partei im Vergleich zu den anderen Parteien für die linkeste Politik in Estland steht (links sein ist in Estland sehr relativ, ähnlich wie in den USA), war eine Koalition mit rechts-aussen nicht vorstellbar. Aber der Machthunger von dem Ministerpräsidenten Jüri Rattas ist wohl zu groß, deswegen scheint das Unvorstellbare plötzlich zum Greifen nahe. Der Koalitionsvertrag ist unterschrieben und die Minister benannt.

2. Was fehlt denn noch, damit die Koalition an die Macht kommt?

Der estnische Präsident Kersti Kaljulaid darf sich zwar nicht allzudeutlich zu ihren Parteipreferenzen äußern und sie selbst steht politisch Isamaa recht nahe. Doch gibt sie in öffentlichen Reden zu verstehen, dass sie Populismus von der linken und rechten Seiten nicht mag und gerade diese Koalition trieft vor Populismus. Ihr Vorgänger Toomas Hendrik Ilves äußerte sich ähnlich, obwohl er einer derjenigen war, der der derzeitigen politischen Stimmung fruchtbaren Boden bereitet hat. Deswegen hat sie den Regierungsbildungsauftrag an Kaja Kallas gegeben, die auf eine Minderheitsregierung mit Reformisten, Sozialdemokraten und Abweichlern aus der Zentrumspartei hofft. Die Wahrscheinlichkeit, dass es so kommt, ist recht gering, sie braucht sieben Stimmen von Zentristen, ständig wird an die russisch-sprachigen Parlamentsmitglieder appeliert, doch nicht einer Koalition mit Russophoben zuzustimmen, aber inzwischen wurden die gewählten russisch-sprachigen Politiker, aus dem Parlament mit verschiedenen Pöstchen belohnt (Yana Toom kandidiert wieder fürs Europaparlament, Michael Kõlvart wurde operativ zum Bürgermeister von Tallinn ernannt), so dass sie schon nicht dazwischenfunken werden. Warum nicht an das Gewissen der estnisch-sprachigen Zentrumspolitikern appelliert wird, entzieht sich meinem Verständnis, vielleicht hat man jegliche Hoffnung auf das Vorhandensein eines Gewissens verloren. Die einzige Variante, die möglich ist, dass nach der gescheiterten Wahl von Kaja Kallas zur Ministerpräsidentin, der Präsident nach einer gewissen Zeit das Parlament auflöst und Neuwahlen ansetzt.

3. Was ist so schlimm an EKRE?

Kurzversion: Weil es Nazis sind

Langversion gibt es hier.

4. Wie reagieren die Wähler und die Medien?

Das russisch-sprachige Internet quillt über. "Verräter" ist noch die harmloseste Bezeichnung für die Zentrumspolitiker. Laut einer Umfrage unterstützen nur 38% der Wähler der Zentrumspartei die Koalition mit EKRE. Die Zentrumspolitiker verteidigen sich und argumentieren, dass die russische Schule gerettet wurde, im Koalitionsvertrag steht kein Zeitplan, wann sie abgeschafft wird. Was der Koalitionsvertrag wert ist, bewies Jüri Rattas ein paar Tage nach der Unterzeichnung, in einem Interview der Zeitung Maaleht sagte er, dass für die Erfüllung der großspurigen Versprechen aus dem Koalitionsvertrag dieses Jahr kein Geld vorhanden ist.

Es bildete sich eine Facebookgruppe Kõigi Eesti (das gemeinsame Estland), die von einem amerikanischen Komiker Stewart Johnson initiiert wurde. Angeblich waren 20 Leute damit beschäftigt den Facebook-Auftritt und die Webseite zu bauen, momentan sind über 28.000 Leute Mitglieder, die Seite hat 1000 Admins. Die Mitglieder der Gruppe haben ein weisses Herzchen auf dem Facebook-Profil, das propagierte Ziel der Bewegung ist überparteilich zu sein und ein „demokratisches, sicheres und in die Zukunft schauendes europäisches Staat zu bauen, die sich um jeden sorgt und wo die Rechte und Interesse jeden berücksichtigt werden. Diese Werte sind höher als die Politik und einigen uns alle“. Am 14.04. findet am Sängerfeld in Tallinn ein kostenloser Konzert mit estnischen Stars statt, wo politische Losungen unerwünscht sind. Also etwas politisch harmloseres habe ich in meinem Leben noch nicht gesehen. Doch für Frau Präsident ist selbst diese Gruppe zu politisch, auf dem Konzert war sie nicht anwesend. EKRE reagierte mit einer Facebook-Gruppe „Eestlasteesti“, also Estland der Esten. Wer hier Parallelen mit Deutschland 1933 findet, kann sie behalten.

Am 31.03 fand in Tallinn eine Demonstration „Für die Freiheit, gegen das Lügen“ gegen die Koalition statt. Obwohl der Aufruf an alle Gegner der Koalition ging, blieben die meisten russischen Einwohner Tallinns zu Hause, hauptsächliche Teilnehmer der Demo waren Vertreter der LGBT Community, die ebenfalls um Verlust ihrer hart erkämpften Rechte unter einer EKRE-Regierung fürchten. Es scheint, dass die russisch-sprachigen Einwohner eine Extra-Einladung brauchen und sich nicht überwinden können mit Schwulen und Lesben um ihre Rechte zu kämpfen.

Der große Zahltag für den Verrat am Wähler steht Zentrumspartei bei den Europawahlen und Kommunalwahlen bevor, wo ich der Partei große Stimmenverluste prophezeie und wünsche.

5. Wer sind die Minister der Koalition?

Viele der Minister der Koalition sind alte Bekannte für den Leser diesen Blogs. Darunter sind viele, mit denen die russisch-sprachigen Einwohner Estlands ihre Kinder erschrecken, damit sie brav bleiben. Die (unvollständige) Liste des Schreckens:

Minister für Verteidigung: Jüri Luik (Isamaa): Wir müssen aggressiv proamerikanisch sein

Minister für Kultur: Tõnis Lukas (Isamaa): Erklärter Feind der russischen Schulen, möchte antiestnische Propaganda auf estnischen Territorium begrenzen

Aussenminister: Urmas Reinsalu (Isamaa): Ich finde, dass es eine sehr gefährliche Tendenz für die nationalen Interessen Estland darstellt. Ich würde sie nicht unterschätzen (Reinsalu über die Zentristen).

Innenminister: Martin Helme: Während der Bronzenen Nächte bedauerte er, dass er nur einen Tibla mit dem Schlagstock treffen konnte (Tibla ist eine beleidigender Ausdruck für einen Russen)

Minister für Finanzen: Mart Helme: einfach Bilder anschauen, Kommentare sind überflüssig

Überflüssig zu sagen, dass es nicht einen einzigen russisch-stämmigen Minister gibt, wenn man die russische Uroma von Mart Helme nicht mitrechnet.

6. Gibt es auch Helden?

Ja, den gibt es. Raimund Kaljulaid ist zuerst aus dem Vorstand der Zentrumspartei und dann aus der Partei ausgetreten, weil er es nicht mit seinem Gewissen vereinbaren konnte, dass seine politische Heimat mit Nazis paktiert. Kaljulaid hat viel Zuspruch von den Wählern erhalten, hoffentlich kann er das in naher Zukunft politisch ummünzen.


Raimund Kaljulaid

Freitag, April 05, 2019

Der Massenmörder pendelte eine Woche zwischen Estland und Lettland

Weswegen kam der neuseeländische Terrorist?


Der Massenmörder Brenton Tarrant zeigt eine rassistische Geste im Gerichtssaal.
Photo: Mark Mitchell/Afp/Scanpix

Der kaltblütige Mörder von 50 Leuten in Neuseeland, Terrorist Brenton Tarrant kam im Dezember nach Estland. Zwei Tage vor der Attacke teilte er in sozialen Netzen Verschwörungstheorien über Estland, auch erwähnt er die Esten in seinem „Manifest“, schreibt Postimees.

Tarrant äußerte sich mehrmals über Estland und Lettland. Zum Beispiel hat er weniger als zwei Tage vor dem Blutbad einen propagandistischen Artikel des White Genocide Projects geteilt, in der er behauptete, dass die US-Botschaft in Estland, die Esten manipulieren würde, damit sie Multikulturalism annehmen würden. An gleichen Tag teilte er ein Video vom Sängerfest in Lettland und schrieb: „Das wollen sie vernichten“.


Zwei Tage vor dem Angriff veröffentlichte der Terrorist in sozialen Netzen ein propagandistisches Artikel über Estland.
PHOTO: Kuvatõmmis

Estland erwähnte Tarrant auch in seinem „Manifest“, in der er ein aktives Interesse zu den Geschehnissen in Europa zeigte.

„Ein Marokkaner kann kein Este sein, so wie ein Este kein Marokkaner sein kann“, schrieb er.

Später ist bekannt geworden, dass sein Interesse an Estland nicht platonischer Natur was, im Dezember letzten Jahres kam er ins Land.

Was machte er hier?

Das österreichische Innenministerium und die estnische Polizei bestätigten, dass Tarrant aus Österreich nach Estland, am 4. Dezember letzten Jahres hingeflogen ist.

Laut der Information von Postimees leihte er sich in Estland ein Auto, mit dem er einen Tag später nach Lettland fuhr.

Aus Lettland nach Estland kehrte er nach zwei Tagen, am 8. Dezember zurück. Zwei Tage später, am 10. Dezember, machte sich Tarrant wieder nach Riga auf, diesmal mit dem Bus.

Dass der neuseeländische Schütze tatsächlich in Lettland gewesen ist, wurde den Journalisten von Postimees auch von staatlichen Sicherheitsdiensten Lettlands bestätigt.

Die Sicherheitspolizei Estlands (KAPO, Anmerkung des Übersetzers), die die Tätigkeit von Extremisten beobachtet, kann nichts über den Besuch Tarrants nach Estland sagen. In Sicherheitskreisen behauptet man, dass die Polizei nicht genügend Daten über seine Tätigkeiten im Land hat.

Der Pressesprecher der Sicherheitspolizei Estlands bemerkte, dass es keine Gründe gibt zu glauben, dass Tarrant ein erhöhtes Interesse zu Estland hatte.

Es ist momentan auch unklar, ob der Terrorist sich mit jemanden in Estland getroffen hat und was konkret er hier machte.

Laut der Information der Postimees verbrachte er in baltischen Ländern ca. eine Woche.

Ihn haben verstärkt die Geschehnisse in Europa interessiert. Damals, im Dezember, war in Westeuropa eines der meistdiskutierten Fragen der Migrationspakt der UNO.

Österreich und Estland haben gemeinsam, dass der Konflikt der Meinungen bezüglich diesen Paktes, bestimmte Unruhen in beiden Ländern hervorgerufen hat.

Das besondere Ereignis, das während des Aufenthalts Tarrant in Estland stattgefunden hat, war die Demonstration am 9. Dezember in Tallinn am Vabaduseväljak gegen den Migrationspakt der UNO.

Was verbindet noch Estland, Tarrant und Österreich?

Ultrarechte Gruppierungen haben in ganz Europa enge Kontakte miteinander. Sie unterstützen sich gegenseitig, treffen sich, organisieren Demonstrationen, um sich gegenseitig zu unterstützen und treten auf denselben Konferenzen auf.

Am Mittwoch berichtete die BBC, dass österreichische Ermittler Durchsuchung im Haus des lokalen Anführers der rechtsradikalen Gruppierung IBÖ (Identitäre Bewegung Österreichs) Martin Sellner durchgeführt haben, weil er eine Spende in Höhe von 1500 EUR bekommen hat, die mit dem Terroristen Tarrant in Verbindung gestanden ist. Der Bundeskanzler Sebastian Kurz merkte an, dass gleichzeitig untersucht wird, ob IBÖ eine terroristische Organisation sei. Auf die Spende wurde man aufmerksam, weil sie viel höher als sonstige Spenden gewesen war. Martin Sellner selbst sagte der Associated Press, dass er danach mit Tarrant einige Emails ausgetauscht hat, dabei ist es geblieben. Eine Verbindung mit den Angriffen auf die Moschee in Christchurch bestreitet Sellner.

IBÖ und das estnische „Blaues Erwachen“

Die Organisation von Sellner ist eine der Zellen des sogenannten Identitären Bewegung. Identitäre Bewegung ist eine ultrarechte Bewegung, die die Idee der ethnisch reiner Nationalstaaten propagandiert.

In Estland werden solche Ideen von dem Jugendflügel der Estnischen Konservativen Volkspartei (EKRE) - „Blaues Erwachen“ verbreitet. Sowohl dort, als auch in IBÖ sind die Mitglieder hauptsächlich junge Leute, die für die Verbreitung ihrer Ideen soziale Netzwerke und Mems-Kampagnen benutzt. Als im Sommer letzten Jahres „Blaues Erwachen“ eine Demonstration vor der britischen Botschaft organisierte, war einer der Gründe die Ausweisung von Sellner und seiner Freundin Brittany Pettbon aus Großbritannien. Der Anführer des „Blauen Erwachens“, der jetzt ins Riigikogu gewählte Ruuben Kaalep, nennt sich einen europäischen Identitären. Das steht schwarz auf weiß im im letzten Jahr veröffentlichten englischsprachigen 500-seitigen Buch „Die Identitäre Bewegung. Eine Bewegung gegen die Globalisierung und Islam“.

„Es ist ausserordentlich wichtig ein Europäer zu sein, im Rahmen der heutigen demographischen Krise, der sich alle europäischen Nationen gegenüberstehen. Wir können nur dagegen kämpfen, wenn alle europäischen Nationalisten miteinander kooperieren werden“, sagte Kaalep dem Buchautor. Ausserdem war Kaalep Teilnehmer und trat auf Konferenzen in Schweden, die der Idee der Identitären Bewegung gewidmet waren auf.

Im denselben Buch wird das Wort Dutzenden Identitären gegeben. Unter ihnen auch Martin Sellner, einer der bekanntesten Vertretern der Bewegung in Europa.

„Mit Martin Sellner haben wir uns nicht getroffen“, antwortete gestern auf schriftliche Anfrage Postimees Ruuben Kaalep. „Doch sympathisieren wir den nationalistischen Jugendbewegungen in Westeuropa“.

Unter den gemeinsamen Freunden von Sellner und Kaalep in Facebook ist das junge Stern der ukrainischen Ultrarechten Olena Semenjaka, die schon mehrmals auf den Konferenzen des „Blauen Erwachens“ aufgetreten ist. Das letzte Mal trat sie in Tallinn auf der Konferenz „Ethnofutur“ Ende Februar auf. Auf der Konferenz traten Vertreter von mehreren Ländern auf, im Zentrum der Diskussionen stand die Weltordnung, die die Stammvölker begünstigt.

Wir können bestätigen, dass nichts auf eine direkte Verbindung zwischen den estnischen Nationalisten und Tarrant hinweist, im „Blauen Erwachen“ bestätigte man uns, dass der neuseeländische Schütze kein Kontakt mit ihnen gesucht hat. „Dieser Mensch hatte niemals Kontakte zum „Blauen Erwachen“ und er hat unsere Tätigkeit nie unterstützt“, schrieb gestern uns Ruuben Kaalep. „Ich kann bestätigen, dass ich nicht den geringsten Anhalt habe, dass er jemals mit irgendeinem Mitglied des „Blauen Erwachens“ Kontakt hatte“.


Account von Brenton Tarrant in sozialen Netzwerken
PHOTO: Kuvatõmmis

Möglicherweise zeigt alles darauf, dass der mit der Zeit sich immer mehr radikalisierender Tarrant sich selbst für europäische Nationalisten interessierte.

Junge Mitglieder EKRE machen sich mit australischen Faschismus bekannt


Drei Tage nach dem terroristischen Angriff warb „Blaues Erwachen“ für seine Veranstaltung mit einem wenigverbreiteten Mem, der von Brenton Tarrant benutzt war.
PHOTO: Kuvatõmmis

Eine Woche nach dem terroristischen Angriff in Neuseeland, am 22 März, gab es im Tartuer Office von EKRE eine interessante Veranstaltung: die Jugend aus dem „Blauen Erwachen“ organisierte einen Vorlesungsabend, in dem es um die „australische Kultur“ ging.

Die Seite der Konferenz des „Blauen Erwachens“ in Facebook hat man mit dem Mem „australian shitposter“ verschönert, den auch in den sozialen Netzwerken der Terrorist Tarrant nutzte. Das ist ein recht wenigverbreitetes Bild, es wurde vor allem von australischen Altright benutzt, und auch schon vor mehreren Jahren.

Das Mem wurde berühmt nach dem terroristischen Angriff in Neuseeland, es war das Profilbild Tarrants in sozialen Netzwerken und die Illustration zu dem Forumpost, wo vor dem Angriff gewarnt wurde.

Auf dem Event des „Blauen Erwachens“ wurde das Essay von P.R. Stevenson „Foundations of Culture in Australia“ über den australischen Nationalismus und der Identität der weissen Bevölkerung vorgelesen. Stevenson war ein bekannter australischer Antisemit und Propagandist von Faschismus.

Warum beschlossen die jungen Teilnehmer des „Blauen Erwachens“ eine Woche nach dem Angriff, der von einem australischen Rechtsradikalen verübt wurde, so ein Event zu veranstalten und es auf solche Weise zu bebildern?

Im „Blauen Erwachen“ behauptet man, dass die Veranstaltung keinesfalls mit dem Angriff in Verbindung stünde. „Das, was in Neuseeland geschehen ist, ist schrecklich. Wir entschlossen verurteilen es“, sagte einer der Redner auf der Veranstaltung, ein junger Mitglied der EKRE Remi Sebastian Kits.

„Es ist so, dass einer unserer neuen Mitglieder vor kurzem dieses Werk gelesen hat und hat beschlossen mit einem Vortrag aufzutreten. Es war nichts weiteres“, sagte er.

Kits behauptete, dass Aufzeigen solcher Parallelen für ihn eine Überraschung war, zu der Veranstaltung bereitete man sich seit einem Monat vor.

Doch öffentlich verfügbare Daten zeigen, dass das Photo der Veranstaltung drei Tage nach dem Angriff auf Facebook veröffentlicht wurde.