Auszug aus dem Gemeindebrief der Deutschsprachigen Evangelischen Gemeinden in Estland Nr. 26. Der Autor ist der Pfarrer Matthias Burghardt. Homepage der Gemeinde ist hier, der vollständige Gemeindebrief kann hier nachgelesen werden.
In Estland gab es im November wieder eine Demonstration. Nach dem Lehrerstreik im März gingen die Menschen nun im ganzen Land auf die Strasse, um ihren Unmut über die Vorgänge in den politischen Parteien auszudrücken. Motto der Demonstration war: „Uns reicht`s!“. Zum Auslöser wurde das sogenannte „Silvergate“(in Anlehhnung an den „Watergate-Skandal“). Ein junger Parteimitarbeiter der regierenden Reformpartei, Silver Meikar, hatte im Frühjahr zugegeben, Schwarzgelder als unveröffentlichte Spenden anonymer Spender auf Parteikonten transferiert zu haben. Dem damaligen Partei-Generalsekretär Michal, pikanterweise mittlerweile ausgerechnet Justizminister, konnte nicht nachgewiesen werden, von den Vorgängen gewusst zu haben. Vor dem Skandal hatte Michal allerdings, auf einen anderen Skandal einer anderen Partei bezugnehmend, verkündet, schon der Verdacht einer Straftat müsse einen Politiker zum Rücktritt bewegen. Trotz des Prozesses gegen ihn blieb er jedoch bis in den November hinein im Amt. Zwei Tage vor Veröffentlichung der jüngsten politischen Meinungsumfragen (die Parteien bekommen statistische Ergebnisse immer zwei Tage vor ihrer Veröffentlichung), trat Michal dann, mit Dankadresse von Premierminister Ansip, zurück. Er habe keine Schuld, aber spüre Verantwortung für die Zukunft, und wenn sein Rücktritt der Partei helfen würde, sei das nur gut. Kristen Michal ist weiterhin Mitglied des estnischen Parlaments.
Mittlerweile wird auch gegen Umweltministerin Keit Pentus-Rosimannus ermittelt, weil sie dazu beigetragen habe, den Bankrott der Autofirma ihres Vaters zu verschleiern. Sie kommentierte, dass sie sich nichts zu Schulden habe kommen lassen, und ja wohl im Übrigen jeder seinem Vater helfen würde.
Es wird dem Beobachter sofort deutlich, dass die Beschuldigten, aber auch die Regierungsparteien insgesamt darüber verärgert sind, dass die öffentliche Diskussion um solche Vergehen geht, nicht aber um die grossen Verdienste der Regierung, dass nämlich Estland bisher gut durch die Krise gekommen ist und vergleichsweise hohe Stabilität herrsche. Die Medien seien ungerecht.
Auch im anderen politischen Lager gibt es zahlreiche Skandale und Korruptionsvorwürfe, von denen ich in den vergangenen Gemeindebriefen immer wieder berichtet habe. Über die politischen Skandale in Estland aus seiner Sicht hat Edgar Savissaar, Bürgermeister von Tallinn, Vorsitzender der Oppositionspartei Keskerakond und nicht gerade für manipulationsfreie politische Arbeit bekannt, ein Buch geschrieben, das vorige Woche erschien: „Die Wahrheit über Estland“. Auf der Buchvorstellung sagte er: „Lest es und werdet glücklich!“
Erstaunlich ist es immer wieder, dass auch besagte Demonstration gegen Politiker aller Parteien ohne weitere Auswirkungen bleiben. Zwar hat in den Umfragen die Reformpartei ihre Mehrheit verloren, und die Arbeit der parlamentarischen Ethik-Komission wird intensiviert, das ist aber auch alles. Auf den Punkt gebracht wurde die Haltung vieler Berufspolitiker auf einem Empfang, bei dem auch ich eingeladen war. Dort fragte ein deutscher Gast einen estnischen Politiker, wogegen denn eigentlich demonstriert werde. Die gelassene Antwort war, dass wir eine Demokratie seien und jeder demonstrieren dürfe, die Leute allerdings wohl selbst nicht wüssten, wogegen sie eigentlich seien, alles sei doch gut...
Anderes, zumindest die Tallinner, bewegendes Thema ist der öffentliche Personennahverkehr, der seit 1.1. 2013 für die Einwohner Tallinns kostenfrei ist. Für die Opposition in der Stadt (Reformierakond, im Staat regierende Partei) ist das Ganze ein Wahlkampftrick des politischen Gegners, nicht nachhaltig und letztlich aus Steuergeldern finanziert. Für die Stadtregierung ein zukunftweisender Schritt sozialer und ökologischer Art. Die meisten Tallinner freuen sich, dass mal etwas umsonst ist, allerdings ist das Bewusstsein durchaus geschärft dafür, dass das ganze vielleicht ein Propagandatrick und letzlich zu teuer sein könnte.