Mittwoch, Juli 23, 2014

Gedanken über Russland und Ukraine

In seiner neuesten Kolumne in Spiegel Online beklagt Jan Fleischhauer, dass russische Gesellschaft unter kollektiven Psychose leidet und in einer alternativen Wirklichkeit lebt, die mit Argumenten nicht zu durchdringen ist. Es macht sich eine gewisse Ratlosigkeit breit, einzelnen Leuten verabreicht Psychopharmaka, aber wie heilt man eine ganze Gesellschaft?

Die Diagnose ist durchaus richtig, deutlich wurde es, wenn man die Reaktionen auf den Abschuss des zivilen Flugzeugs in der Ukraine im russischen Teil des Internets anschaut, auch seriöse Medien zitieren anonyme Tweets einen „spanischen“ Fluglotsen, der angeblich am Kiewer Flughafen arbeitet und die Provokation der ukrainischen Regierung aufgedeckt haben will. Der Account ist inzwischen gelöscht, es gibt also keine Möglichkeit den Wahrheitsgehalt dieser Aussagen zu überprüfen, aber das scheint die russischen Journalisten nicht zu stören, denn was nicht sein kann, das kann nicht sein. Einer der Separatistenführer mit dem Künstlernamen Strelkov (also der Schütze) schreibt in seinen weitverbreiteten Kolumnen, dass mit dem Flugzeug etwas nicht gestimmt haben muss, es hatte eine Menge von Blutkonserven an Bord und die Leichen waren schon kalt, also müssen sie schon vor dem Absturz tot gewesen sein. Anstatt ihn für verrückt zu erklären, wird er eifrig zitiert, laut Der Spiegel sogar im Staatsfernsehen. Auch die Pressekonferenz des russischen Militärs sollte nahelegen, dass ein Flugzeug des ukrainischen Militärs in der Nähe gewesen war (was durchaus möglich wäre), aber dass es auch die tödliche Rakete abgefeuert hat. Also am helligsten Tag in einer durchaus bevölkerten Gegend schiesst ein Flugzeug ein anderes Flugzeug ab und man ist sich sicher, dass es niemand am Boden merkt? Wozu dann die Einleitung über die ukrainischen BUKs, die wohl eifrig hin- und herfahren? Wohl als Plan B, wenn festgestellt wird, dass keine Luft-Luft Rakete solche Zerstörungen anrichten kann. Die nächste Verschwörungstheorie wartet schon. Es fing übrigens nicht erst mit dem Ukraine-Konflikt an, ich habe heisse Diskussionen ausgefochten, als es um die Frage ging, ob Assad für den Giftgasangriff verantwortlich gemacht werden kann oder nicht. Nachdem eine Theorie aufgrund von Fakten unhaltbar geworden war, wurde sofort behauptet, dass man es eh längst wüsste und es wurde sofort die nächste Theorie präsentiert in die sich die Fakten gerademal so einfügen ließen. Mein Verdacht ist, dass es am Ende unmöglich sein wird einen endgültigen Beweis zu präsentieren, denn selbst wenn man die Überreste der BUK-Rakete findet, wird man nicht nachweisen können, aus wessen Beständen sie nun stammte und selbst wenn man die Abschussstelle zweifelsfrei feststellen kann, dann wird es unklar sein, wer am 17. Juli dieses Stückchen Land unter seiner Kontrolle hatte.

Aber zurück zu der Frage, was macht man mit einer Gesellschaft, die in einer alternativen Realität lebt? Hier tut Fleischhauer so, als ob es zum ersten Mal in der Geschichte vorkommt. Gerade die Deutschen müssten eigentlich wissen, wie es passieren kann, dass eine Gesellschaft den Sinn für die Realität verliert. Neuere Beispiele gibt es in Serbien, in Ruanda. Und ja, auch die Ukraine ist davor nicht gefeilt, die Erwartungen, die Maidan entfacht hat, die auch von den dort auftretenden ausländischen Politikern geschürrt wurden, werden noch an der harten Realität zerbrechen.

Wo Fleischhauer evtl. Recht hat, das ist dass man mit so einem grossen Land keine Erfahrung hat, wie man es in die Realität zurückholt. Die Allierten im befreiten Deutschland führten ein 3D-Programm durch: Demokratisierung, Demilitarisierung, Denazifizierung, da hatten die Deutschen gar keine Wahl. Russland ist nicht besetzt, d.h. die Einflußmöglichkeiten sind viel geringer. Serbien wurde mit dem Eintritt in die EU gelockt und überstellte die Kriegsverbrecher an das UN-Tribunal in Den Haag, aber Russland will gar nicht in die EU. Was also tun? Helfen die Wirtschaftssanktionen? Ziemlich sicher nicht. Momentan wird jede Sanktion als Bestätigung des jetzigen Kurses gesehen und regelrecht gefeiert. Die Kreativität des russischen Volkes kennt keine Grenzen, also werden im Privaten Gegensanktionen proklamiert, wie „Obama darf diesen Hund nicht streicheln“. Es gibt zwei Gegenströmungen, einerseits werden die sanktionierten Einrichtungen, wie die Banken erst recht genutzt, um seinen Patriotismus auszudrücken, andererseits wird eine Schadensfreude empfunden, wenn einer der Oligarchen betroffen ist. Wenn die Sanktionen derart massiv werden, dass Russland zurück in die Wirtschaftsverhältnisse der 90er Jahre zurückschlittert, weiss ich nicht, ob es ein Ziel der europäischen Mächte sein kann, einen derart unberechenbaren Nachbarn zu haben (Stichwort Waffen- und Menschenschmuggel und andere Arten von Kriminalität, die nicht vor den russischen Grenzen halt machen wird, ausserdem Gefahr von Auseinanderfallen von Russischen Föderation in zahlreiche top-bewaffnete und sich hassende Staaten). Erst recht helfen die Sanktionen nicht die kurzfristigen Ziele, wie die Befriedung in der Ostukraine zu erreichen.

Was kann man denn kurzfristig tun? Die derzeitige ukrainische Führung will unter allen Umständen Kontrolle über die umkämpften Gebiete erreichen und scheut nicht vor dem Einsatz von Waffen, die großflächig alles Lebende dort vernichten. Wenn man Israel gerade noch glauben kann, dass sie hochpräzise Waffen benutzen, um nur bestimmte Ziele zu bekämpfen, ist es in der Ukraine keineswegs der Fall, woher sollen die sündteueren Präzisionswaffen auch herkommen? Der ukrainische Präsident Poroschenko hat schon um die Lieferung solcher Waffen gebeten, aber auf welchem Träger sollen die lasergeführten Bomben befestigt werden und wer soll sie abschiessen? Also bedeutet das die Lieferung ganzer Flugzeugverbände samt Personal (zu welchem Preis eigentlich?). Ausserdem kommt mir das alte Sprichwort in den Sinn: Bombing for peace is like fucking for virginity. Ausserdem ist es unklar, was Poroschenko eigentlich will, wenn er die Gebiete zurückerobert hat. Sein Plan mit der Föderalisierung und russischen Sprache mit Spezialstatus war ganz nett vor den Kampfhandlungen, ob nach hunderten von getöteten Brüdern, Schwestern, Töchtern, Söhnen, Eltern, Freunden, der Frieden in diese Region einkehrt, wage ich zu bezweifeln. Kann die Ukraine überhaupt die gesamte zerstörte Infrastruktur aufbauen und will sie es überhaupt, denn das würde das Wiedererstarken der Region bedeuten, was schon wieder gefährlich werden kann?

Die einzige Lösung, die ich sehe, ist ein Blauhelmeinsatz der UNO (und nicht der NATO). Dieser Vorschlag wird schon in der deutschen Politik diskutiert, doch schreiben Massenmedien, dass höchstwahrscheinlich Russland diesen Vorschlag ablehnen wird. Ich sehe nicht den Grund, warum Russland das ablehnen sollte, ist es doch die einzige reele Möglichkeit einigermassen würdevoll aus dem Konflikt herauszukommen. Eher wird die Ukraine dagegen sein, denn damit wiederholt sich quasi das transnistrische Szenarium, ein Teil des Landes ist abgetrennt und steht unter fremden Verwaltung. Doch hier liegt es an Europäern und Amerikanern Poroschenko trotz den Drucks in seinem Land zu überzeugen, dass es keine andere Möglichkeit gibt. Das weitere Schicksal der beiden Gebiete wird sich später entscheiden, wenn die Gemüter soweit abgekühlt wurden, dass man sich an einen Tisch setzen kann und es wird sich auch herausstellen, wie überlebensfähig diese beiden Gebiete überhaupt sind. Das wichtigste momentan ist das Stoppen von Blutvergiessen, alles andere ist nebensächlich.

Was ist aber mit mittel- und langfristigen Perspektiven mit Russland? Ich weiss, ich klinge langweilig, aber EU muss sich weiter gegenüber Russland öffnen. Ein sehr beliebtes Spiel der russischen Elite und der Massenmedien ist das „mitdemFingerzeigen“ auf die Europäer, wenn ihr das und das dürft, dann dürfen wir das auch. Die Beispiele werden komplett an den Haaren herbeigezogen, der deutsche Blasphemie-Artikel wird als Rechtfertigung gegenüber den Repressionen gegen Pussy Riot verwendet, Einsätze der Polizei an 1.Mai-Krawallen, als Rechtfertigung für das Zusammenprügeln der Opposition, die 100 Mann-NPD-Auftritte werden als Erstarken des Faschismus gewertet, die Gleichstellung der Homosexuellen, als Untergang des Abendlandes. Dagegen muss vorgegangen werden:

1. Erleichterung des Visums. Wenn jemand schon mal versucht hat, jemanden aus Russland einzuladen, weiss wovon ich rede. Selbst um ein 4-Tage Visum zu bekommen, muss die betreffende Person zu einer persönlichen Unterredung erscheinen, die Einladung wird von der deutschen Botschaft im Original erwartet, wobei die russische Post wohl das unzuverlässigste Transportmedium überhaupt ist. Alleine das lässt die Ressentiments gegenüber dem Westen wachsen und schreckt reisewillige Besucher ab. Es muss dringend was passieren, damit nicht nur die Oligarchen, die für sowas ihre Leute haben, sondern auch einfachere Russen in den Westen kommen und sich selbst ein Bild vom Leben hier machen können.

2. Natürlich gilt der Einwand, dass eine touristische Reise nicht unbedingt das politische Leben eines Landes einem zeigt. In Deutschland gibt es ja politische Bildungsreisen in verschiedene Länder, also sollten politische Bildungsreisen aus Russland nach Deutschland für russische Bürger ermöglicht werden, ich bin sicher, Interesse wäre da.

3. Studentenaustausch. Nach dem faktischen Untergang der russischen Hochschulbildung sind die deutschen Hochschulen in Russland heiss begehrt. Deutschland sollte so vielen jungen Russen wie möglich Ausbildung in Deutschland ermöglichen, so dass sie das Leben hier kennenlernen und mit frischen Ideen zurück nach Russland kehren. Aber auch an den russischen Hochschulen sind ausländische Gäste gerngesehen, die Vorträge sind gut besucht.

4. Zusammenarbeit mit den russischen Massenmedien. Es gab einen Projekt von der Deutschen Welle mit lenta.ru, einem der beliebtesten Nachrichtenportale in Russland. Es wurden nicht nur politische, sondern auch Artikel aus dem deutschen Alltagsleben online gestellt, um das Leben in Deutschland zu zeigen. Solche Kooperationen müssen ausgebaut werden. Der Süddeutschen Zeitung liegt/lag regelmässig Beilage von Russland Heute bei. Gibt es eine entsprechende deutsche Beilage in russischen Zeitungen?

5. Portal mit Übersetzungen der westlichen Massenmedien. Einer der beliebtesten Nachrichtenportale in Russland ist inosmi.ru. Dort werden Übersetzungen aus verschiedenen westlichen Massenmedien veröffentlicht, meistens das, was das *mitdemFingerzeigen* erleichtert. Es muss ein gleichwertiges Portal aufgebaut werden, in dem nicht nur ausgewählte Materialien, sondern generell eine Übersicht der führenden westlichen Massenmedien in russischen Übersetzung veröffentlicht wird. Es müssen nicht nur Zeitungen sein, sondern auch andere Medien, wie Fernsehprogramme (z.B. eine heisse Bundestagsdebatte, um zu zeigen, dass das Parlament durchaus ein Ort zum Debattieren ist). Die Artikel müssen nicht russland-spezifisch sein, es dürfen keinesfalls Artikel sein, die speziell für dieses Portal in propagandistischen Absicht geschrieben wurden, das Portal soll das europäische Leben reflektieren.

6. Russische politische Diskussionen, besonders im Fernsehen, sind immer scharf an der Grenze zu Hysterie und zwar an beiden Seiten, wer lauter ist, hat Recht. Es fehlt an Sachlichkeit, an Fakten. Deutsche Vertreter, die des Russischen mächtig sind, sollten versuchen an solchen politischen Talk-Shows teilzunehmen und ihre Sicht der Dinge klar, sachlich und präzise darstellen. Ihnen wird zugehört, es gilt auch hier Welpenschutz, so dass man einem ausländischen Gast gegenüber nicht so ausfällig wird, wie gegenüber einem Russen.

7. Die russische Regierung und andere Mächtige müssen kritisiert werden, doch auf keinen Fall darf man in plumpe Russophobie abgleiten, wie es insbesondere Politiker der baltischen Länder gerne tun. Das säht nichts als Hass und ist absolut kontraproduktiv. Die Russen dürfen nicht als demokratieunfähiges, paranoides Barbarenvolk dargestellt werden, es wird aufmerksam registriert, auf inosmi.ru übersetzt und entsprechend propagandistisch ausgeschlachtet. Jedes Volk ist demokratiefähig, dieser Satz von Fukuyama ist nach wie vor gültig.

8. Wie schon geschrieben, Propaganda als solche wird erkannt und ruft Gegenpropaganda hervor. Es ist nicht notwendig Extra-propaganda zu erzeugen, die demokratischen Standards in alten EU-Ländern und Russland unterscheiden sich derart massiv, dass es mit unbewaffneten Auge sichtbar ist. Vor kurzem habe ich zwei russische Schwule auf einer Demo gegen Abtreibungsgegnern kennengelernt, sie waren zum ersten Mal überhaupt demonstrieren und waren hellauf begeistert über die deutsche Demonstrationskultur, wo weder die Demonstranten gekauft sind, noch die Polizei hart durchgreift.

9. Was notwendig ist, ist eine klare Gegendarstellung gegenüber russischen Propaganda. Gerade was Blasphemie-Gesetz angeht, wurde im russischen Internet eine Gegendarstellung verbreitet, die gut fundiert erklärte, warum die Aktion von Pussy Riot nicht unter das deutsche Gesetz fallen würde. Etwas anders ist die Situation in den baltischen Ländern, wo recht viele russisch-sprachige Leute wohnen, die teilweise willkürlichen Einschränkungen unterliegen. Hier sollte die EU möglichst schnell für Abhilfe sorgen. Wobei meine Beobachtung der letzten Monate ist, dass aus Furcht vor illoyalen Kreml-Anhängern, die Regierungen der baltischen Staaten momentan zumindest verbale Anstrengungen unternehmen, um das gesamte Volk um sich zu scharren und nicht die dort lebenden Russen zu vergessen, wie es in der Vergangenheit regelmäßig der Fall war.

10. Wirtschaftliche Zusammenarbeit. Wie ich tagtäglich sehe, baut alleine schon gemeinsames Arbeiten mit russischen Kollegen an einem gemeinsamen Projekt beidseitige Vorurteile ab. Fachspezifische Konferenzen sind immer gut besucht, das Interesse und Wohlwollen sind immer da. Es wird durchaus anerkannt, dass in Russland Know-How fehlt und Deutschland ein Land ist, von dem man lernen kann.

11. Sorgfältige Abwägung, welche oppositionelle Kräfte man unterstützt. Als Lakmustest sollte man die Kräfte unterstützen, die man auch im eigenen Land an die Schalter der Macht lassen würde. Die stärkste oppositionelle Bewegung in Russland sind ultraliberale und nationalistische Kräfte, also eine Mischung von FDP und NPD, die in Deutschland keine Chance hätten gewählt zu werden. Warum soll man Russland eine Arztnei verschreiben, die man selbst nicht einnehmen würde? Die Leute in Russland spüren doch auch, dass ultra-liberale Politik nur denjenigen was nützt, die genügend Geld haben, vom staatlichen Leistungen unabhängig zu sein und die nationalistische Politik zum Zerfall Russlands führen wird. Also sollten Kräfte unterstützt werden, die eher dem Ideal der sozialen Marktwirtschaft und Sozialdemokratie entsprechen, soweit es diese Kräfte in Russland überhaupt gibt.

Das ist alles Politik der kleinen Schritte, mit nicht messbaren Ergebnissen, aber auf lange Sicht viel erfolgversprechender als kurzfristige politischen Dividenden durch Russland-bashing.

Freitag, Juli 18, 2014

Bild der Woche

Aus der Performance "Der Trojanische Elefant", die während des Festivals der alternativen Kunst "Kutuuritolm" in Tallinn aufgeführt wurde

Dienstag, Juli 15, 2014

Bild der Woche

Estnischer Soldat auf einer Mission in der Zentralafrikanischen Republik

Worte der Woche

Ihr bereitet Euch auf die Wahlen vor, ich bereite mich auf den Krieg vor.

Toomas Hendrik Ilves, Präsident Estlands im Interview mit der lettischen Zeitschrift ir