Dienstag, Januar 12, 2010

Tallinn wie im Mittelalter?

Zwei interessante Meldungen rauschten diese Tage über den Newsticker. Zum einen ist Tallinn mehrheitlich von russisch-sprachigen Bürgern bewohnt, zum anderen mehren sich die Anzeichen, dass Tallinn ein Staat im Staate ist, mit eigener Polizei, Medien, Steuern, National- und Sozialpolitik und sogar Aussenpolitik. In der Tat betreibt der Bürgermeister der Stadt Savisaar eine recht unterschiedliche Politik zu der Regierung in Toompea, seine Partei hat enge Beziehungen zu der russischen Regierungspartei Einiges Russland, er besucht öfters Moskau und rühmt sich Freund der russischen Kultur zu sein. Die soziale Arbeitsplätze der Stadt Tallinn, stehen im scharfen Gegensatz zu der Politik der Regierung, dass die Arbeitslosen sich selbst um ihre Arbeitsplätze kümmern müssen. Savisaar hat sich auch nicht eindeutig für die Einführung des Euro im Jahr 2011 ausgesprochen.

Die Zahlen des statistischen Amtes werfen interessante Fragen auf. Im Jahr 2009 waren 404 011 Einwohner in Tallinn registriert, darunter 210 745 Esten. Zum 1. Januar 2010 wurden ca 407 000 Einwohner registriert, darunter 192 000 Esten. Die Frage ist, wohin innerhalb eines Jahres über 18 000 Esten verschwunden wären? Es bieten sich drei Varianten an, entweder bauten sie ihre Einfamilienhäuser fertig und zogen ins vorstädtische Umland, wie die Direktorin des Estnischen Instituts für Demographie Frau Luule Sakkeus vermutet, oder sie zogen zurück in die Dörfer aus denen sie kamen, um am Bauboom in Tallinn teilzunehmen und mangels Arbeit wieder zurückgingen, oder sie wanderten aus, was die Zahlen von World Factbook nahelegen. Ebenso interessant ist die Frage woher die knapp 22 000 Nichtesten nach Tallinn kamen. Einwanderung ist ausgeschlossen, als einzige Erklärung ist die Migration aus den mehrheitlich russisch-sprachigen Städten wie Narva und Kohtla-Järve denkbar, wo die Arbeitslosigkeit (ca 20%) noch viel höher ist, als in der Hauptstadt.

Wie es aussieht kehren die Verhältnisse wie im Mittelalter nach Tallinn zurück, oben auf dem Toompea sitzt die Regierung, die vom Volk abgekoppelt ist, unten in der Stadt sitzt der pragmatischer Bürgermeister, der mit Hilfe von Handwerksbetrieben und Händlern eine recht andere Politik betreibt, als die hochgeistigen und einer Idee verpflichteten Ritter des Livonischen Ordens ähh, nationale Eliten des Landes. Nur es gibt inzwischen mehr Auffahrten in die Hochstadt, so dass das Schliessen des Tores in Lühhike Jälg nicht mehr gegen den Volkszorn helfen wird, sollte es mit der Einführung des Euros nicht klappen.

Freitag, Januar 08, 2010

Russen, was wollt ihr eigentlich?

Nachdem ich seit einigen Jahren viele russisch-sprachige Kommentare über Politik im Internet lese, öfters über propagandistische Nachrichten in russisch-sprachigen Internet-Portalen stolpere und gelegentlich politische Talkshows im russischen TV anschaue, muss ich gestehen, dass ich die Logik der Russen immer weniger verstehe.

In Russland selbst herrscht immer noch der Kampf Slawophile gegen die Westler, wobei in der letzten Zeit die Asien-Bewunderer Fraktion dazugekommen ist. Allen drei Fraktionen ist jedoch eigen, dass sie USA nicht ausstehen können und das auch laut im Fernsehen verkündigen (jede Russland-Kritik im amerikanischen Fernsehen führt umgekehrt zu einer Flut von empörten Artikeln im russisch-sprachigen Internet). Alle drei halten Russland für ein ganz besonderes Land, Moskau ist das Dritte Rom und muss durch die moralische Reife die Welt vor dem Untergang retten. Die westliche Kultur (vor allem US-amerikanische) ist von Grund aus verdorben und führt zum Niedergang des russischen Volkes (Drogen, Pornografie, Toleranz gegenüber (sexuellen) Minderheiten). Russland muss diese Kultur abschütteln, sich von den Knien erheben und der Welt einen ganz neuen Weg zeigen, wie es vor dem Untergang bewahrt werden kann. Nur wie der neue Weg aussehen wird, da sind sich die Fraktionen nicht ganz einig. So ähnlich tönt es tagein, tagaus aus den russischen Fernsehern. Die Fragen, die sich offenbar kaum jemand stellt sind, wer hat den die Russen gezwungen, die westliche Werte anzunehmen? War es vorher besser? Wenn ja, wann war denn diese Periode, an die sich Russland erinnern und orientieren soll? Wenn das klar ist, dann könnte Russland sich den dritten Weg überlegen und wenn sich dieser dritte Weg als erfolgreich herausstellen sollte (z.B. erhebliche Erhöhung des Lebensstandards), erst dann sollte Russland anfangen diesen Weg dem Rest der Welt zu propagieren.

Bei den Russen in Estland kommen noch mehr Ungereimtheiten hinzu. Einerseits bedauert man die helle sowjetische Verangenheit, als die Wirtschaft brummte, als es keine Arbeitslosigkeit gab, kostenlose Bildung und ärztliche Versorgung. Keiner bezeichnete einen als Okkupant, es gab keine sprachliche Inspektion und russische Schulen waren nicht in ihrem Bestand gefährdet. Andererseits ist eine der schlimmsten Beschimpfungen über den estnischen Ministerpräsidenten Andrus Ansip, er wäre ein Kommunist gewesen, der Vorsitzende der Sozialdemokraten Jüri Pihl würde mit KGB zusammenarbeiten und viele der jetzigen Parlamentariern wären auch Mitglieder der Kommunistischen Partei gewesen. Wo ist da irgendeine Logik? Kommentare zu Geschichte sind noch merkwürdiger, Lenin und seine Bande hätten den Tartuer Friedensvertrag mit Esten unterschrieben, daraufhin haben die Esten die Armee des russischen Generals Judenitsch entwaffnet und somit einen Angriff auf Leningrad verhindert, der zum Untergang der Bolschewiken geführt hätte. Wer ist jetzt Lenin eigentlich, ein Bandit und Verbrecher, oder ein Held, der Begründer der Sowjetunion und Erfinder des Sozialismus, der in Estnischen Sowjetrepublik die obenbeschriebenen Zustände ermöglicht hat? Oder vielleicht bedauern die Russen, dass es überhaupt Sozialismus gegeben hat, denn dann wäre Estland nach wie vor ein Teil des zaristischen Russlands geblieben? Nun, diese Hypothese hat so viele historischen Wenns und Abers, dass eine Duskussion darüber müssig ist, genauso müssig übriens, wie die Überlegungen wie hoch der wirtschaftliche Okkupationsschaden für Estland ist, den Russland bezahlen müsste.

Ich denke solange keine Einigkeit über diese Punkte herrscht, ist jede Diskussion über die geistige Erneuerung Russlands vergebens. Solange keine Klarheit herrscht, wie man jetzt mit der sowjetischen Vergangenheit umgehen soll, glorifizieren oder verdammen, solange man mit seiner Vergangenheit nicht im Reinen ist, kann man keine eigenständige Zukunft aufbauen. Wie so oft wird diese Fragestellung mit der Zeit immer unwichtiger, denn für die junge Generation, die nie in sozialistischen Zeit gelebt habt, wird sich diese Frage nicht stellen, genausowenig wie die deutsche Jugend diese Art von Fragen zu der NS-Vergangenheit von Deutschland unmittelbar für sich nicht stellen muss. Es wird sehr interessant zu beobachten sein, welche Art von Diskussionen über die Zukunft Russlands diese Generation führen wird, sobald sie als kompetent genug betrachtet wird, diese Diskussion führen zu können, was frühestens in 10 Jahren der Fall sein wird.