Samstag, August 03, 2019

Der erste Premierminister Estlands: die Mehrheit der Leute nimmt die antirussländische Hysterie nicht ernst

Eine Übersetzung von einem Artikel vom Baltnews.ee

18 Juli 2019 | 13:25


© Baltnews

Der ehemalige Vorsitzender der Zentristen, ex-Bürgermeister Tallinns und der erste Premierminister des unabhängigen Estlands Edgar Savisaar behauptet im Interview mit Baltnews, dass die Partei, die er vor kurzem anführte, sich von der bisherigen Ideologie abkehrte. Es erzählte, warum Euroskeptiker in Europa an die Macht kommen werden und was er über die Russen Estlands denkt. Er antwortete auch auf die Frage „Wem gehört die Krim?“.

Über die Unabhängigkeit Estlands

- Herr Savisaar, fangen wir mit der Geschichte an. Vor dreissig Jahren haben Sie während einer Sendung im estnischen Fernsehen vorgeschlagen den Volksfront zu gründen. Haben Sie damals geahnt, dass es zu derartigen tektonischen Veränderungen wie Unabhängigkeit Estlands führen wird?

- Tektonisch - das ist zu gross. Ich würde sagen, dass wir dazu bereit waren. Und nicht nur wir. Sagen wir mal in Russland gab es solche Organisationen, in Lettland, Litauen, in den Ländern des Kaukasus. Deswegen würde ich nicht sagen, dass es nur unsere Sache war.

Ja, wir haben etwas früher angefangen. Doch ich würde nicht sagen, dass wir eine besondere Erscheinung waren. Alle waren dazu bereit. Es sieht so dass, dass auch Russland und andere Länder unserer Region bereit waren, dass so etwas passiert. Darunter auch wir.

- Welche Ziele haben Sie damals verfolgt?

- Als erstes Ziel war die Demokratie. Als zweites, die Unabhängigkeit zu erreichen. Ich denke das war für viele Leute wichtig.

- Hat man es geschafft, diese Ziele zu erreichen?

- Ja, war haben einen unabhängigen Staat. Bei uns gab es welche, die als Ziel das Verlassen der Sowjetunion und die Erschaffung einen unabhängigen Staates hatten, das war alles. Ich, zum Beispiel, stellte mir vor, dass Estland ein unabhängiger Staat wird, wie er vor dem Krieg war, vor dem Jahr 1939. Doch es gab es welche, die dachten, dass es wichtig ist, nicht nur unabhängig zu sein, sondern auch ein Mitglied der europäischen Gesellschaft zu werden. Doch für mich war es das wichtigste einen unabhängigen Staat zu erschaffen.


© RIA Novosti
Aktion „Der baltische Weg“ 23. August 1989

- Als Mitglied von NATO und der EU, wurde denn Estland demokratischer, freier und unabhängiger?

- Ich denke, dass Estland zu einem gewissen Mass ein unabhängiger Staat ist. Doch andererseits, sind wir ein Teil der Europäischen Union, der NATO. Deswegen kann man wahrscheinlich kaum sagen, dass wir absolut frei und unabhängig sind.

- Warum ist das passiert?

- Das ist unsere Geschichte. Wie ich Ihnen sagte, gab es solche, die die einen Ziele verfolgte und es waren welche, die die anderen Ziele verfolgte. Der amerikanische Einfluß ist sehr stark. Das ist gut und schlecht.

Über die Zentrumspartei und die linke Ideologie

- Über eine lange Zeit waren Sie in aktive Politik involviert. Sie waren Premierminister, Bürgermeister von Tallinn, Wirtschafts- und Kommuniktationsminister. Jetzt ist eine neue Regierung unter dem Vorsitz der Zentrumspartei an die Macht gekommen. Ausserdem sind an der Macht die Konservative Volkspartei Estlands (EKRE) und Vaterlandspartei (Isamaa). Was halten Sie davon, dass an der Macht jetzt zwei konservative Partei sind?

- Es sind drei. Ich würde sagen, dass die Zentrumspartei jetzt genauso rechts ist wie EKRE und Isamaa. So sind sie alle rechts.

- Warum bezeichnen Sie die Zentrumspartei als rechts?

- Wegen ihrer Ansichten. Mir scheint, die Zentristen haben sich sehr geändert, im Vergleich dazu, wie sie früher mal waren.

- Was denken Sie, die Tatsache, dass an der Macht jetzt drei konservative Parteien sind, verstärkt es die Polarisierung zwischen den Russen und den Esten?

- Ich denke, dass alles was es jetzt gibt, so auch geblieben ist. Ich glaube nicht, dass es eine starke Einwirkung von rechts geben wird. Aber wir werden sehen.

- Und gibt es Perspektiven bei den linken Kräften in Estland?

- Ich habe eine sehr gute Bekannte Julia Sommer. Sie ist die Vorsitzende der Vereinigten Linken Partei Estland (OLPE). Ich wünsche den linken Kräften das Beste, denn wir brauchen die Linken. Nach meiner Ansicht geht es nicht, dass wir jetzt drei rechte Parteien haben. Es gibt praktisch keine Auswahl. Doch ich werde nicht der Mensch sein, der diesen Gedanken in die Massen tragen wird. Wir werden sehen.

- Wie Sie schon anmerkten, gibt es in Estland die OLPE, die bei den letzten Wahlen weniger als 1% der Stimmen bekommen hat. Die Zentristen bekamen recht viele Stimmen. Vielleicht gibt es in der Gesellschaft kein Verlangen nach linken Ideen?

- Ich glaube nicht besonders, dass es keine solche Leute gibt. Natürlich gibt es viele, die überhaupt kein Interesse an nichts haben. Doch unter solchen, die Interesse zeigen, gibt es viele Linke und Rechte.

Über die Beziehungen zwischen Russland und Estland

- lassen Sie uns über die russländisch-estnische Beziehungen sprechen. Wie würden sie den heutigen Status beurteilen?

- Ich bin zufrieden, dass unser Präsident (Kersti Kaljulaid) nach Moskau gefahren ist und dort Putin traf. Ich denke, dass von Nutzen für die einen und die anderen. Ich denke nicht, dass es ihr letztes Treffen war. Ich bin mit so einer Entwicklung zufrieden. Ja, es gibt Leute, denen es nicht gefällt, doch es gibt es auch solche, die das positiv bewerten.


© RIA Novosti
Präsident Estlands Kersti Kaljulaid während des Treffens mit dem Präsidenten der Russischen Föderation Vladimir Putin, 18. April 2019

- Wo sehen Sie Berührungspunkte zwischen Russland und Estland?

- Wir sind Nachbarn. In der Geschichte gab es bei uns viele Treffen. Noch vor dem Peter I. Ich denke, dass so eine Zukunft wichtig ist. Wir können nicht unseren Staat zum Beispiel nach Australien verlegen. Wir sind Nachbarn mit Russländern, und es muss berücksichtigt werden: und bei uns, und bei ihnen.

- Finden Sie nicht, dass Estland an der Krise der russländisch-estnischen Beziehungen Schuld ist, weil es ständig Russland einer potentieller „Aggression“ beschuldigt?

- Es sind immer beide Seiten schuld. Natürlich gibt es in Estland nicht wenige Leute, die wollen, dass die russländisch-estnischen Beziehungen angespannt sind. Es scheint, dass es die Folge von Beziehungen im globalen Massstab ist.

- Wahrscheinlich auch die Sanktionen…

- Die Sanktionen. Als ich vor einem halben Jahr gehört habe, dass die russländischen Zollbeamten 70 Tonnen Fisch vernichtet haben, weil es damit Probleme gab, habe ich in Facebook geschrieben, dass es schlechte Folgen für unsere Fischer haben wird.

Es ist interessant, dass im Ergebnis man mich in der russländischen Presse stark angegriffen hat. Ich war erstaunt. Es gab fünf-sechs nicht sehr kluger Artikel. Ich habe später geschrieben, dass man überhaupt sich von den Sanktionen lossagen sollte: die Europäer und alle anderen. Doch warum hat mich die russländische Presse angegriffen? Meine Bekannte haben mir zugeflüstert, dass es scheint, dass diese Idee von einigen anderen estnischen Politikern aufgegriffen wurde. Das bestreite ich nicht. Doch ich denke, es ist nicht das wichtigste.

Prinzipiell denke ich, dass das Leben ohne Sanktionen besser wäre. Im Prinzip denke ich nicht, dass sie sowohl für die Europäische Union als auch für Russland von Nutzen sind.

- Was haben Sie während der ukrainischen Krise gefühlt, als die Sanktionen im Jahr 2014 eingeführt wurden?

- Fünf Tage nachdem die Frage mit der Krim gestellt wurde, trat ich mit der These auf, dass dieser Entschluss (der Anschluss an Russland - Anm. von Baltnews) dem entsprach, wie die Leute abgestimmt haben. Das ist ihre Sache. So denke ich bis heute.

- Was denken Sie, hätten Sie auf etwas Einfluss nehmen können, was die stark anwachsende antirussische Hysterie damals verhindern könnte?

- Meiner Ansicht nach, nimmt die Mehrheit der Leute die antirussländische Hysterie nicht nicht ernst. Ja, es gibt auch andere, doch sie denken so, wie sie denken. Ich denke unter den Esten, als auch unten den Russen gibt es die so und so denken.

- Sie denken, dass die Krim freiwillig Teil von Russland wurde?

- Und wie denken die Krim-Einwohner?

- Für die Wiedervereinigung mit Russland stimmten mehr als 90% der Krim-Einwohner.

– Na also.

Über die europäische Politik

- Lassen Sie uns über die europäische Politik sprechen. Vor kurzem fanden Wahlen in das Europäische Parlament statt. Sehr viele befürchteten, dass Euroskeptiker an die Macht kommen würden.

- Sie werden früher oder später an die Macht kommen. Ich denke, bei den nächsten Wahlen ins Europäische Parlament; wenn mir die Gesundheit erlaubt, werde ich auch teilnehmen. Ich denke es ist wichtig für Estland und für mich.

- Warum ist das wichtig?

– Weil so, oder so, wie ich schon sagte, wir sind Nachbarn mit Russland, gleichzeitig sind wir Nachbarn mit europäischen Ländern. Ich finde, dass natürlich wir Freunde sein müssen.

- Was denken Sie über die Euroskeptiker? Manche finden, sie wären die neuen demokratischen Kräfte.

- Das ist eine Alternative und das ist immer gut. Ich weiss, dass vor Kurzem bei uns in Tallinn der Leader der Euroskeptiker aus Frankreich Marine Le Pen zu Gast war, ich meine, es gab viele Leute, die das unterstützt haben. Natürlich interessiert mich so eine Frage, wie Brexit. Mir ist interessant, wie es weitergehen wird. Das ist wichtig für Russland und für die Europäische Union. So wird Europa in der Zukunft mit interessanten Erscheinungen zusammenstossen.


© AFP 2019 / Raigo PAJULA
Marine Le Pen tritt auf der Pressekonferenz in Tallinn, Estland auf, 14. Mai 2019

- Wie soll ihrer Ansicht nach Europa sich weiterentwickeln: nach dem Weg der „Vereinigten Staaten Europas“, oder „Europa der Vaterländer“?

- Ich war immer dafür, dass jedes Land selbstständig ist: nicht so, dass jedes Land ein und dasselbe sagt. Das ist unseriös. Europa ist gross.

- Wie ist die Rolle Estlands in Europa?

- In dieser Frage hat jeder seine eigene Meinung. Ich bin kein Euroskeptiker, doch auch nicht unter denen, die meinen, dass alle europäischen Staaten einen Weg gehen sollten. Ich denke, dass im zukünftigen Europa die Positionen aller Staaten berücksichtigt werden sollen.

- Ist der Beitrag Estlands in die Entwicklung der EU ausreichend? Ist die aussenpolitische Strategie richtig gewählt?

- Eine kluge Strategie ist natürlich wichtig. Ich denke, es ist vor allem eine innere Angelegenheit. Unser Traum bestand darin, dass alle Leute, die in Estland leben, ihre Kinder und Enkel glücklich wären und sich gut fühlen würden. Ich glaube, dass ist das Hauptziel nicht nur von dem Moment an, als Estland unabhängig wurde, sondern auch jetzt.

Über die Russen Estlands

- Ihrer Ansicht nach, sind die Estländer jetzt glücklich?

- Wie man’s nimmt. Es gibt solche und solche.

- Und wie ist es mit den Russen Estlands?

- Ich dachte über die Beziehungen zwischen den Esten und den Russen nach. Ich war recht stark mit den Russen verbunden. Ich würde nicht sagen, dass die Esten und die Russen sehr verschieden sind. Doch ich glaube, dass sie gemeinsame Hauptziele haben.

- Und welche Ziele wären das? - Ich denke, Leute fühlen sich immer so, wie es ihnen wichtig ist.

- Sie waren immer als Verteidiger der Russen Estlands bekannt. Glauben Sie, dass ihre Rechte bis heute unterdrückt werden?

– Ich denke, dass alles davon abhängt, stehen sie für ihre Interessen ein, oder nicht. Ich denke, dass Leute, die für sich einstehen, auch für den Staat einstehen. Sie fühlen für ihre Zukunft positiv, es kann aber auch umgekehrt sein.

Soweit ich weiss, besuchen Sie Russland. Fahren Sie wieder dorthin?

- Ja, natürlich. Das letzte Mal war ich im Mai. Die Hauptfrage ist mein Bein (es wurde wegen einer Erkrankung amputiert, Anm. des Übersetzers). Jeder hat seine Probleme.

- Was lieben Sie am meisten in Russland?

- Das Volk. Ich finde, dass das russische Volk sehr toll ist. Das estnische auch.

Keine Kommentare: