Als eine Veranstaltung im Rahmen von Tallinn als europäische Kulturhauptstadt 2011 wurde das XI Sängerfest der Jugend ausgerichtet. Begeisterten Berichten von deutschen Bloggern (1, 2, 3) nach kamen zehntausende SängerInnen und ZuschauerInnen zusammen, um zusammen zu singen und zu feiern. Von ergreifenen Momenten wurde berichtet, einer Kommentatorin stiegen sogar die Tränen in die Augen vor Rührung, als das Lied Mis Maa See On? (Was für Land ist das?) von Chören und Zuschauern angestimmt wurde. Also Friede, Freude, Eierkuchen?
Einer Umfrage der russisch-sprachigen Seite des Nachrichtenportals Delfi zufolge interessierte sich eine verschwindend geringe Minderheit (42 von 324 Stimmen) der russisch-sprachigen Einwohnern Estlands für das Sängerfest, wobei es quasi vor den Türen der Russen-Hochburg Lasnamäe stattfand. Die am häufigsten angeklickte Begründung war: "Das ist ein Fest für die Esten - Russen sind da fehl am Platz". Eigentlich komisch, denn Russen haben nichts gegen volkstümliche Chorlieder und es gibt durchaus russische Chöre in Estland. Nur gilt schon seit Jahren die Regel, dass nur estnisch-sprachige Lieder gesungen werden dürfen, wenn russischer Chor auftreten möchte, bitte schön, aber nur auf Estnisch, selbst Finnisch oder Englisch sind nicht erlaubt. Es ist ein nationales Fest, gegründet, um die estnische Identität zu wahren, also sind alle anderen Kultureinflüsse unerwünscht. Es gab Zeiten, da war es noch anders, die heutige Muschel des Sängerfestes wurde 1957-1960 erbaut und der grosse Dirigent Gustav Ernesaks dirigierte "Mu isamaa on minu arm" für alle und alle sangen mit, Russen und Esten.
Das Sängerfest fand in Estland zum ersten Mal 1869 statt und trug zur nationalen Selbstbestimmung bei. Bei den ersten Festen waren die meisten Lieder finnisch oder deutsch, erst im 20. Jahrhundert waren genügend Lieder auf estnisch geschrieben, so dass die häufigste Sprache, in der die Lieder vorgetragen wurden, Estnisch war. Schaut man was in dieser Zeit in Deutschland passierte, so fällt einem das Hambacher Fest 1832 ein, wo die Studentenburschenschaften als liberal und progressiv wirketen, weil sie vereintes Deutschland, Freiheit und Demokratie forderten. Heute, da alle ihre Forderungen erfüllt wurden, gelten Studentenburschenschaften als progressiv, wenn sie Zivis als Mitglieder aufnehmen. Unter einem ähnlichen Winkel kann man auch das Sängerfest betrachten. War es im 19. Jahrhundert eine revolutionäre Forderung nach der estnischen Selbstbestimmung, eigener Kultur und Unabhängigkeit, so wirkt 20 Jahre nach der Erlangung der Unabhängigkeit die Beschränkung auf rein Estnische sehr rückwärtsgewandt. Wenn Chören aus estnischen Enklaven in Kanada singen dürfen und aus Helsinki und Kiew nicht, dann frage ich mich, was diese Veranstaltung überhaupt unter der Ägide der europäischen Kulturhauptstadt zu suchen hat. Europäer sind da nicht mehr als Zaungäste. Ganz besonders gilt dieser Vorwurf für ein Fest der Jugend. Die Botschaft ist, bleibt unter sich, Austausch mit Chören aus anderen Ländern und Kulturkreisen ist nicht erwünscht, alle sich bitte dem Sprachdiktat unterordnen. Und zwar nicht nur auf dem Fest, sondern auch in der Schule, in der Werbung (offene Frage warum Estnonian Air immer noch so heisst), in Massenmedien, beim Arzt, bei den Behörden usw. Schliesslich steht im ersten Satz der estnischen Verfassung, dass der estnische Staat die Erhaltung der estnischen Nation, der Sprache und der Kultur für Jahrhunderte als oberstes Ziel hat. Für europäischen Gedanken des Kulturaustausches, der Vielfältigkeit der Sprachen und der Völker ist da kein Platz mehr.
Posts mit dem Label Sängerfest werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Posts mit dem Label Sängerfest werden angezeigt. Alle Posts anzeigen
Donnerstag, Juli 07, 2011
Abonnieren
Posts (Atom)