In den letzten zwei Wochen war ich auf Island, einer sehr faszinierenden Insel, vor allem wegen der überwältigenden Natur. Doch die Geschichte und die Gegenwart haben mich ziemlich an Estland erinnert, deswegen möchte ich diese beiden Länder miteinander vergleichen, was die Gemeinsamkeiten und was die Unterschiede sind.
Fangen wir mit der Geschichte an. Island wurde um das Jahr 800 von Wikingern besiedelt. Schon von Anfang an gehörte das Thing, ein Rat der Familienoberhäupter zu den wichtigsten Instrumentarien bei der Beschlussfindung und Gerichten in Island. Um 930 wurde der Althing veranstaltet, eine Versammlung von isländischen Männern, was als erste freie Republik der Welt bezeichnet wird. Der Althing hatte allerdings keine Exekutivgewalt, so dass die mächtigen Clans die Entscheidungen des Things ignorieren konnten, siehe die Njal-Saga, das ist woran letztendlich diese Republik gescheitert ist. Island wurde von Norwegern und nach der Kalmar-Union von Dänen besetzt, die bis zum ersten Weltkrieg Island besetzten und laut Isländern wie Haldor Laxness "Die Islandglocke" bis auf den letzten Blutstropfen aussaugten, der Wohlstand vieler dänischen Adelsfamilien gründete sich auf exklusiven Handelskonzessionen mit Island. Nach dem ersten Weltkrieg wurde Island formal unabhängig, unterstand aber nach wie vor der dänischen Krone, ähnlich wie bis zum heutigen Tage Grönland. Erst nach dem zweiten Weltkrieg konnte Island komplette Unabhängigkeit von Dänemark verkünden. Doch die strategisch günstige Lage machte Island für Amerikaner interessant, die eine größere Militärbasis dort errichteten einerseits eine Radarstation, um eine rechtzeitige Warnung vor über Nordatlantik ankommenden sowjetischen Interkontinentalraketen zu bekommen, andererseits starteten von hier die atomar bestückten Bomber, um die Grenzen der NATO abzusichern. Erst vor einigen Jahren wurde die Basis geschlossen.
Wirtschaftlich gesehen erlebte Island erst in den letzten Jahrzehnten einen wirtschaftlichen Aufschwung. Fischerei war lange Zeit der wichtigste Wirtschaftsfaktor, bis Island zum Finanzzentrum aufstieg. Isländische Bank Kaupthing öffnete Zweigstellen in ganz Europa und versprach hohe Zinsen auf dem Tageskonto und günstige Zinsen auf Kredite. Daheim wurde ein Immobilienboom losgetreten, die Isländer kauften alles auf Kredit, Häuser, neue Autos, neueste Haushaltstechnik. Riesige Einkaufszentren wurden eröffnet, es erfolgte Grundsteinlegung für gigantomanische Häuser wie die Oper in Reykjavik, die Bauindustrie boomte. Es kam wie es kommen musste, die Blase platzte, die Regierung musste für die Einlagen der EU-Bürger einstehen, die das Bruttosozialprodukt Islands um ein mehrfaches übertrafen. Die Krone verlor 30% an Wert und die Isländer standen nicht nur bis zum Hals in Privatschulden, die natürlich in fremdländischer Währung aufgenommen wurden, sondern ihr Staat, der auch so in der nicht sehr lebensfreundlichen Umgebung viel Geld für funktionierende Infrastruktur aufwenden muss (was kostet alleine die Instandsetzung der Ringstrasse N1 nach den Vulkanausbrüchen) stand am Rande des Bankrotts. Die verantwortlichen Bankiers, Isländer und ausländische Manager, verschwanden von der Insel, die konservative Regierung wurde abgewählt, das Vertrauen in die Politiker ist derart zerrüttet, dass der Bürgermeister von Reykjavik ein Vertreter der Spasspartei ist, die Ministerpräsidentin ist eine ehemalige Stewardess.
Ausser Schwefel hat Island keine natürlichen Bodenschätze, aber es hat einen Überschuss an Energie. Zum einen sind es geothermale Kraftwerke, die aus Tiefbohrungen heissen Dampf an die Erdoberfläche befördern und damit Turbinen antreiben und über Wärmetauscher heisses Wasser ohne Schwefel den Bewohnern zur Verfügung stellen. Zum anderen ist es die Wasserkraft, die durch einige Staudämme aufgestaut wurde und den Verbrauch der Isländer schon im Überfluss deckt. Doch wozu braucht man sonst Energie? Export lohnt sich (noch nicht), doch wurde auf Island der energiehungrigste Wirtschaftszweig angesiedelt, die Aluminumproduktion. Und hier fangen die Probleme an. Die bereits gebauten Aluminiumwerke gehören der US-Firma Alcoa. Die kanadische Firma Magma Energies übernahm durch einige Tricks die Mehrheit an dem isländischen Energieversorger HS Orka die 95%-ige Mehrheit, so dass die einzige Naturressource, die im Überfluss gibt, in Hand von Ausländern ist. Alcoa strebt nach Expansion, Island hat durchaus Chancen zum weltweit größten Aluminiumproduzenten aufzusteigen, die dafür notwendige Energie soll Magma Energies liefern. Dafür müssen erheblich mehr Flüsse aufgestaut werden, die berühmtesten Wasserfälle, wie Dettifoss, der größte Wasserfall in Europa, drohen verlorenzugehen, sogar das Nationalheiligtum Gullfoss, der Goldene Wasserfall, der hunderttausende von Besuchern jährlich anzieht, ist nicht mehr sicher.
Doch was hat das alles bisher mit Estland zu tun? Nun, genau wie Estland ist Island von aussen ganz gut wie unter einem Mikroskop zu beobachten, die Probleme sind klarer identifizierbar, der Nachrichtenfluss ist überschaubar. In Estland wohnen zwar 4x so viele Menschen wie auf Island, aber verglichen mit solchen komplexen Gesellschaften wie Russland oder Deutschland, ist die Struktur der Bevölkerung übersichtlicher. Die Probleme sind ähnlich, nach der Finanzkrise und dem Verlust der Aktiva an ausländische Investoren suchen beide Länder nach einer Lösung für ihre ähnliche Probleme, wie Arbeitslosigkeit, private Überschuldung, Umweltverschmutzung, Aussterben der Landwirtschaft. Estland ist bereits in der EU, Island hat Beitrittsverhandlungen aufgenommen.
Doch der grosse Unterschied ist, dass isländische Gesellschaft viel offenere Diskussionen über die Zukunft ihres Landes führt und ihr Schicksal nicht nur der Politik überlässt. Gerade die Übernahme von HS Orka durch Magma Energies hat eine wütende Welle des Protestes unter den Isländern ausgelöst, die ihre nationale Ressourcen nicht in Hand von Ausländern sehen wollen, wie schon viele Jahrhunderte lang vorher. Die Anführerin der Protestbewegung ist die bekannte Sängerin Björk. Wie sieht es in Estland aus? Mit Schulterzucken wird zur Kenntnis genommen, dass die letzte bekannte estnische Marke Kalev von skandinavischen Süssigkeitsproduzenten übernommen wurde. Die Isländer wollen mitbestimmen, was aus ihrem Land wird, auch ihre Politiker sind auf der Suche nach der isländischen "Nokia", also einer singulären Lösung für alle Probleme des Landes, in ihrem Fall wäre das die Aluminium-Produktion. Doch scheint die Bevölkerung sich nicht mit der auf den ersten Blick einfachen Lösung abfinden zu wollen, es herrscht kein Mangel an Ideen, was man machen kann, ohne großindustrielle Eingriffe in das Land vornehmen zu müssen. Zu einem Bestseller für isländische Verhältnisse (18.000 Exemplare) wurde das Buch von Andri Snær Magnason "Dreamland, A Self-Help Manual for a Frightened Nation", wo der Autor vieles vorschlägt, was man in Island machen könnte, wie nachhaltiges Tourismus mit Produktion von hochwertigen Lebensmitteln, Museum des Kalten Krieges aus der amerikanischen Radarstation, statt dem Abriss, einfache Ideen, deren Kombination eine isländische Nokia überflüssig machen könnten. Andere schlagen vor Datenverarbeitungszentren auf Island aufzumachen, denn Transport von Bits und Bytes erfordert viel weniger Energie, als Transport von Energie zu den Datenzentren auf dem Kontinent. Vor kurzem las ich von einem Plan, auf Island ein Übungszentrum für Kampfflugzeuge aufzumachen, so dass Piloten Übungsangriffe gegen Flugzeuge sowjetischen Bauart trainieren könnten. Ideen gibt es genug, man muss nur den Mut haben sie auch zu verwirklichen und nicht nach den heavy industries zu schreien. Dieselbe offene Diskussion würde ich mir auch in Estland wünschen.
Bezeichnend ist auch ein Kommentar des Vorsitzenden des EU Verhandlungsteams, der mit Island Verhandlungen über den Beitritt führt: "Während die Osteuropäer alles unterschrieben haben, um an das Geld des deutsches Steuerzahlers ranzukommen, sind die Verhandlungen mit den Isländern viel schwieriger". Eine der Fragen, die sich Isländer im Zusammenhang mit dem EU-Beitritt stellen, was passiert, wenn eine EU-Armee Wirklichkeit wird, müssen wir dann auch unsere Männer hinschicken? Island hat keine Armee und ist sehr stolz darauf. Weitere Streitpunkte sind der Walfang und die Konditionen zu denen die Island die Schulden den ausländischen Gläubigern abzahlen muss. Alle diese Themen werden offen und unter Beteiligung der Bevölkerung diskutiert, so dass es noch gar nicht klar ist, ob Island überhaupt beitreten wird.
Zusammenfassend kann man sagen, dass trotz vieler Gemeinsamkeiten die Isländer vorleben, wie man trotz der Krise, nicht alles abnicken muss, was die Regierung vorschlägt, die wichtigsten Ressourcen für sich behält und viele kleine Ideen zu einem grossen Ganzen werden können, so dass eine "Nokia" nicht notwendig ist.
Dienstag, September 21, 2010
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