Samstag, März 24, 2018

Kleine Anfrage im Bundestag

Kleine Anfrage der Abgeordneten Andrej Hunko, Ulla Jelpke, Friedrich Straetmanns, Dr. Kirsten Tackmann und der Fraktion DIE LINKE.

Staatenlose in Estland und Lettland

Mit der Unabhängigkeit Estlands und Lettlands im Jahr 1990 erhielt der Bevölkerungsteil, der nach dem 16. bzw. 17. Juni 1940 nach Estland oder Lettland zugezogen war, keine Staatsbürgerschaft. Selbst Kindern der betroffenen Familien wird bis zum heutigen Zeitpunkt die Einbürgerung bei ihrer Geburt verweigert. Bei den Betroffenen handelt es sich meist um Personen, die nach dem Jahr 1940 aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion in das heutige Gebiet der Republik Estland und der Republik Lettland übersiedelt sind. Die beiden Staaten begründen die Verweigerung der automatischen Staatsbürgerschaft damit, dass nach ihrer Auffassung die ehemalige Zugehörigkeit ihrer Länder zur Sowjetunion völkerrechtlich eine Annexion darstellen würde. Da laut Artikel 49 der Genfer Konvention die Besiedlung besetzter Gebiete illegal ist, verweigern die estnische und die lettische Regierung den nach 1940 eingewanderten Personen die automatische Staatsbürgerschaft (vgl. http://gleft.de/22j).

Die Einwohnerzahl Lettlands beträgt ca. 2 Millionen, von denen 520 000 Menschen aus anderen Teilen der ehemaligen Sowjetunion stammen, etwa aus der Ukraine oder aus Weißrussland. Der Anteil der nach dieser Definition nichtlettischen Bevölkerung beträgt insofern ca. 38 Prozent. Die Einwohnerzahl in Estland betrug Anfang 2016 ca. 1,32 Millionen Menschen, von denen 330 263 aus anderen Teilen der ehemaligen Sowjetunion stammen, dies macht ca. 25 Prozent der Gesamtbevölkerung aus (vgl. http://gleft.de/22j). Die Mehrheit dieser Personen verfügt über keine Staatsangehörigkeit und ist somit in grundlegenden bürgerlichen Rechten stark eingeschränkt.

Estland und Lettland gehören zahlreichen Konventionen und Abkommen an, in denen sie sich zum Schutz von Minderheiten verpflichten und Diskriminierung ächten. Die beiden Staaten sind, wie Deutschland, a) dem Internationalen Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung, b) der Europäischen Menschenrechtskonvention, c) dem Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten des Europarates, d) dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte („VN-Sozialpakt“) sowie zahlreichen anderen Verträgen beigetreten, die die Rechte ethnischer Minderheiten schützen (http://gleft.de/22j).

Zudem sind Estland und Lettland Mitgliedstaaten in zahlreichen internationalen Organisationen, die auch dem Minderheitenschutz verpflichtet sind, wie EU, Vereinte Nationen (VN), Organisation der Vereinten Nationen für Bildung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO). Trotz jahrelanger Integration und vertraglicher Verpflichtung zur Einhaltung der Menschenrechte und Schutz von Minderheiten sind laut Amnesty International ca. 247 000 russischstämmige Bürgerinnen und Drucksache 19/1114 – 2 – Deutscher Bundestag – 19. Wahlperiode Bürger in Lettland (http://gleft.de/22n) und 79 597 russischstämmige Bürgerinnen und Bürger in Estland (http://gleft.de/22o) staatenlos und werden als „Nichtbürger“ (lettisch „nepilsoņi“) bezeichnet.

Die Annahme der lettischen und estnischen Staatsbürgerschaft ist mit der Überprüfung von Kenntnissen in Sprache, Geschichte und Verfassung verbunden. Diese Tests sind durch Kosten und den Zeitaufwand mit Hürden versehen, insbesondere für den älteren Teil der Bevölkerung. „Nichtbürger“ können in Lettland und Estland das Wahlrecht nicht vollständig ausüben, sie sind von bestimmten Berufen ausgeschlossen, beispielsweise von Berufen, die mit einer Verbeamtung einhergehen, zudem wird dieser Bevölkerungsteil bei der Rentenberechnung benachteiligt (http://gleft.de/22p).

Wir fragen die Bundesregierung:

1. Welche Vertreterinnen und Vertreter der Bundesrepublik Deutschland (Bundespräsident, Bundesministerinnen oder Bundesminister) haben seit 2014 und in welcher Form (Staatsbesuch, Arbeitsbesuch, Terminbesuch, offizieller Besuch) die Republik Lettland und/oder die Republik Estland besucht (bitte aufzählen)?

2. Inwieweit wird die Behandlung der „Nichtbürger“ in Lettland und Estland von der Bundesregierung bei den bilateralen deutsch-lettischen oder deutschestnischen Regierungstreffen thematisiert, und wie positioniert sich die Bundesregierung zu der Thematik gegenüber der beiden Staaten (bitte unter Nennung aller Details auflisten)?

3. Welche konkreten gesellschaftlichen Nachteile entstehen den ca. 247 000 staatenlosen Personen in Lettland und ca. 80 000 staatenlosen Personen in Estland nach Informationen der Bundesregierung (bitte unter Nennung aller Details auflisten)?

4. Wie bewertet die Bundesregierung die Einhaltung des Schutzes von sprachlichen sowie ethnischen Minderheiten seitens der lettischen und estnischen Regierungen?

5. Wie hat die Bundesregierung auf die Verweigerung der automatischen Staatsbürgerschaft im Jahre 1990 an bestimmte Teile der auf dem Territorium der ehemaligen Lettischen Sozialistischen Sowjetrepublik und der ehemaligen Estnischen Sozialistischen Sowjetrepublik lebenden Bevölkerung reagiert, und inwiefern hat sich die Bundesregierung gegenüber der beiden Staaten positioniert?

6. Welche konkreten Maßnahmen zur Integration der nicht estnischen bzw. der nicht lettischen Bevölkerung in Estland und Lettland ergreifen die estnische und die lettische Regierung nach Kenntnis der Bundesregierung aktuell?

7. Inwiefern entspricht oder widerspricht die Verweigerung der automatischen Staatsbürgerschaft nach Ansicht der Bundesregierung den Grundsätzen der Europäischen Union nach dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) (bitte ggf. ausführen, welchen Rechtsgrundsätzen das Vorgehen widerspricht)?

8. Inwieweit sind nach Ansicht der Bundesregierung die Konditionen zur Erlangung der lettischen und estnischen Staatsbürgerschaft für die betreffenden Bevölkerungsteile in Lettland und Estland angemessen oder unzumutbar erschwert?

9. Wie bewertet die Bundesregierung die Einhaltung der oben genannten Verträge für den Schutz von Minderheiten und gegen Diskriminierung seitens Lettland und Estland (siehe Vorbemerkung)?

10. Wie genau gestaltet sich nach Kenntnis der Bundesregierung der Prozess der Visabeantragung für die staatenlosen Bewohner Lettlands und Estlands in unterschiedlichen Rechtsräumen außerhalb der Europäischen Union und der Russischen Föderation (bitte unter Nennung aller Details auflisten)?

11. Welche Nachteile entstehen nach Kenntnis der Bundesregierung den Nichtbürgerinnen und Nichtbürgern aus Lettland und Estland bei der Beantragung von Visa, etwa in die Nicht-EU-Staaten, die Schengenstaaten oder die Russische Föderation (bitte aufzählen, wo Visapflicht für diese Personengruppe besteht)?

12. Für welche Staaten gilt nach Kenntnis der Bundesregierung für die betreffenden Personen aus Estland oder Lettland ein Einreiseverbot (bitte aufzählen)?

13. Inwiefern sind die betreffenden Personen nach Kenntnis der Bundesregierung durch die fehlende Staatsbürgerschaft von der Teilnahme an deutschestnischen bzw. deutsch-lettischen kulturellen, wissenschaftlichen, schulischen und ähnlichen Austauschprogrammen ausgeschlossen (bitte die Programme auflisten, an denen die Teilnahme der betreffenden Personen möglich ist bzw. von welchen Programmen die betreffenden Personen ausgeschlossen sind)?

Berlin, den 6. März 2018

Dr. Sahra Wagenknecht, Dr. Dietmar Bartsch und Fraktion

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