Nachdem schon Befürchtungen laut wurden, dass wegen der vielen Estland-Artikeln ich womöglich dorthin gehen werde, um den Bronzenen Soldaten zu verteidigen, kann ich alle beruhigen. Dies ist mein letzter Eintrag über England und ab nächster Woche bin ich wieder in Beckstein-Land.
1. Angeblich existiert in England ein Gesetz, der einen Fahrer, der einen Hund überfahren hat, verpflichtet, auszusteigen und die Polizei zu rufen. Für Katzen, Füchse, Hasen und sogar Rehe die teilweise massenweise platt auf der Strasse rumliegen (besonders in der Gegend von Stonehenge), gilt es nicht.
2. Stonehenge. Ein Beweis, dass auch frühere Engländer Exzentriker waren. Wem würde es sonst einfallen riesige Steine über Hunderte von Kilometer zu schleifen und an einem Platz, wo Fuchs und (später überfahrene) Hasen sich gute Nacht sagen, so was aufzubauen? Die Anlage selbst ist gar nicht gross, die Steine sind aber riesig. Man kann nicht mehr reingehen, weil man Angst vor Graffitis hat. Ein Graffiti ist aber dort und zwar von Christopher Wren persönlich (der Erbauer von St.Pauls). Das ist dann wohl erhaltenswerte Kunst.
3. Falls jemand in der Stimmung ist, sich einen schottischen Kilt zu kaufen, muss unbedingt nicht nur auf die passenden Muster schauen, sondern sich beim Verkäufer erkundigen, welchem Clan dieses Muster (Tartan) gehört. Es gibt da eine Geschichte über die MacDonalds und Campbells, die seit 1692 miteinander im Streit sind (das kennen wir ja schon aus Oxford). Wenn man also in der falschen schottischen Gegend einen falschen Kilt trägt, kann man durchaus auf die Fresse kriegen, auch wenn das ein Schotte niemals zugeben würde
4. Apropos Schotten. Eine der Begründungen meinem Chef gegenüber warum ich nach England möchte, war, dass ich meinen schottischen Chef besser verstehen möchte. Dieses Ziel wurde definitiv nicht erreicht, selbst jetzt kriege ich nur 50% davon mit, was einem erzählt. Die Engländer haben mich beruhigt, ihnen geht's es auch nicht viel anders.
5. Indische Restaurants in England sind köstlich. Ich würde nie freiwillig in ein deutsches indisches Restaurant reingehen, hier würde ich nie freiwillig wieder rausgehen.
6. Was chinesische Restaurants angeht, duck with pancake ist wirklich chinesisches Essen und nicht englisch-chinesisch, so wie der deutsch-türkische Döner. Ich war bei einem chinesischen Kollegen zum Essen eingeladen, es gab duck with pancake, dumplings und eine sehr seltsame Nachspeise mit Sesamfüllung und klebrigem Reis als Mantel in Kugelform. In Deutschland ist so was komplett unbekannt.
7. Wo steht die älteste Topfpflanze der Welt? Natürlich in den Kew Gardens, wohl dem ältesten botanischen Garten der Welt. Es ist eine recht schiefe Palme, die zu der Zeit der französischen Revolution gepflanzt wurde und immer noch gut gedeiht. Daneben noch eine Zeittafel, wie viele englische Könige diese Palme überlebt hat. Erinnert mich an die Biographie von Fidel Kastro, wie viele amerikanische Präsidenten er schon überlebt hat. Mit dem Unterschied, kein englischer König wollte der Palme was zu Leide tun.
8. Den George IV hat die Palme übrigens auch überlebt. Dieser König ist für den englischen Neuschwanstein verantwortlich, den Royal Pavilion in Brighton. Sieht aus, wie eine gewagte Kopie von Tajj Mahal inmitten von normalen englischen Häusern. Zu Brighton kann man nur sagen, wenn man aus dem Zug steigt, sollte man sich links halten, sonst landet man nicht in Brighton, sondern in Hove, was an Hässlichkeit kaum zu überbieten ist. Brighton selbst ist auch nicht gerade eine Schönheit (definitiv hässlicher als Bournemouth), aber es ist eine grosse Musik- und alternative Szene dort (remember Fat Boy Slim: You're not from Brighton, you're not from Brighton) beheimatet.
9. Der Spiegel schreibt ellenlange Artikel über die Sorgen der Engländer wegen den vermissten Soldaten. Während meiner gesamten Zeit hier habe ich nicht ein einziges Mal ein Gespräch über den Krieg gehört, nichts über verschleppte Soldaten, nur über Bush wird gelegentlich gelästert. Über Politik unterhalten sich Engländer überhaupt nicht, eher übers Wetter, übers Verkehr, übers Haus oder über Sport.
10. Ich könnte noch viel und lange schreiben. Leute, die es geschafft haben mich zu besuchen, können das nur bestätigen. Es war definitiv eine sehr gute Entscheidung hierher zu kommen, mal was anderes zu sehen, andere Kultur und Mentalität zu erleben. London ist und bleibt für mich die tollste Stadt der Welt. Ob sich mein Englisch signifikant verbessert hat, weiss ich nicht, ich weiss, dass man anstatt Pfund quits sagt, kann eine council tax erklären und weiss, dass chap das Wort der Stunde ist und dude langsam ablöst. Ich weiss auch, dass England immer eine Insel bleiben wird, sowohl kulturell, als auch politisch, als auch ökonomisch. Das Geheimnis, das ich nicht auflösen konnte, waren die britischen Frauen, mit ihnen kann ich überhaupt nichts anfangen, aber es geht nicht nur mir so. Auf jeden Fall werde ich dieses halbe Jahr in einer warmen Erinnerung behalten.
Happy End
Freitag, März 30, 2007
Freitag, März 16, 2007
Estnische Wirtschaft von einem Nichtvolkswirtschaftler für Nichtvolkswirtschaftler erklärt
Ich habe nie wirklich Volkswirtschaftsvorlesungen gehört, aber ich denke mit etwas Allgemeinbildung ist es auch ganz interessant einen Blick auf die aktuellen Zahlen der estnischen Volkswirtschaft zu werfen und ein bisschen Kaffeesatzleser zu betreiben, zu was es denn alles führen wird. Alle, die mehr Ahnung von der Materie haben, sind herzlich willkommen, mich zu widerlegen.
Schauen wir doch ein paar Zahlen an. Das estnische statistische Department hat gemeldet, dass das der Bruttoinlandsprodukt 2006 satte 11,4% betragen hat. Wenn man die Daten von CIA Worldbook of Facts ranzieht, sieht man dass Estland damit unter den 10 am schnellsten wachsenden Wirtschaften weltweit befindet. Wie kommt denn dieser enorme Wachstum zu Stande? Die Binnennachfrage wuchs um 15,1%, der Aussenhandel um 10%, der Import um 14,7%. Der Leistungsbilanzdefizit beträgt ca. 12%, das bedeutet, dass mehr Waren importiert, als exportiert werden.
Diese Zahlen sagen aus, dass estnische Bevölkerung gerade sehr konsumorientiert eingestellt ist. Die inländische Wirtschaft hält mit der Nachfrage nicht schritt, bzw. produziert Waren, die nicht für estnisches Konsum geeignet sind. Woraus besteht denn die estnische Wirtschaft?
Die Landwirtschaft trägt 11% zu dem Bruttoinnenprodukt, die Industrie 28% und der Dienstleistungssektor die restlichen 69%. Die Industrie fertigt hauptsächlich Halbfabrikate, die ins Ausland zur Weiterverarbeitung exportiert werden. Die größte Produktionsfirma in Estland ist Norma, die Sicherheitsgurte für Autos produziert, die alle exportiert werden, da Estland keine Automobilfabrik hat. Dasselbe gilt für die holzverarbeitende Firmen. Wie jeder Zwischenverarbeiter bestätigen kann, werden die grossen Gewinne nur am Ende der Produktionskette generiert, ansonsten versucht der Endproduzent die Lieferantenkette so weit wie möglich zu optimieren, so dass die Gewinnmargen der Zwischenverarbeiter recht klein sind. Warum das wichtig ist, sehen wir später. Estland ist auch ein Transitland für russische Waren, die per Eisenbahn oder LKW zu einem der estnischen Häfen geleitet werden, wo sie auf dem Schiffsweg weiter transportiert werden.
Im Dienstleistungssektor sind Finanzwesen, ITK und Tourismus die wichtigsten Zweige. Starkes Finanzwesen und der Fakt, dass nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Bauwirtschaft zum Erliegen kam (von jährlichem Zuwachs der Wohnfläche in den 80ern Jahren um 60000m^2 fiel dieser Wert auf nahezu 0 in den 90ern und ist momentan unter 10000m^2), führte zu einem anderen Effekt, der starken Einfluss auf estnische Volkswirtschaft hat, nämlich Explosion der Immobilienpreise. Die teuersten Objekte werden zu Preisen von 100000 Kronen/m^2 verkauft, das sind 6410 EUR/m^2 (zum Vergleich Eigentumswohnungen in Köln und Düsseldorf (deutsche Spitzenreiter) kosten 5000 EUR/m^2). Günstige Finanzierungsangebote ermöglichen Kauf selbst solcher komplett überteuerter Immobilien. Was dadurch natürlich steigt, ist die Verschuldung der Bevölkerung.
Damit wären wir bei den Gefahren, die der estnischen Wirtschaft in der nahen Zukunft drohen angelangt. Niedrige Zinsen ist nicht der einzige Anreiz, einen hohen Kredit aufzunehmen. Weiterer Anreiz ist Garantie, dass der Kaufobjekt nicht an Wert verliert, so dass man es notfalls wieder zum höheren oder mindestens dem gleichen Preis wieder verkaufen kann. Also muss der Immobilienboom immer weiter angeheizt werden. Bei sinkender Bevölkerung eher kein leichtes Unterfangen. Wenn die Preise für Immobilien sinken und womöglich der Schuldner sich überschätzt hat und die Kredite nicht zurückzahlen kann, wird sein Pfand (nämlich die Immobilie) viel weniger Wert sein, als das Kredit, so dass die Bank das Kredit abschreiben muss (sogenanntes faules Kredit). Passiert das in grosser Zahl, kann es für die Bank bedrohlich werden.
Eine weitere Voraussetzung für die Aufnahme eines Kredites ist die Annahme, dass die persönliche Zukunft des Kreditnehmers ausreichend gesichert ist. Auf den ersten Blick ist das tatsächlich der Fall. Die Arbeitslosenquote beträgt in Estland 4.5%, es herrscht quasi Vollbeschäftigung. Ausserdem hilft eine höhere Inflation von 5% die Schulden schneller abzubauen. Das Problem dabei ist, dass mit so einer hohen Inflation Estland nicht in näheren Zeit ein Mitglied der Eurozone werden kann, was eine weitere Annäherung an die europäische Wirtschaft zumindest erschwert. Und ein weit schärferes Problem ist, dass bereits jetzt ein klarer Arbeitskräftemangel in Estland vorherrscht. Das hat zwei Effekte. Erstens steigen die Löhne überproportional, jedenfalls viel schneller als die Produktivität, so dass die estnische Waren auf den Weltmärkten immer weniger konkurrenzfähig werden (die Lieferantenketten können schnell auf günstigere Konkurrenten umgestellt werden). Zweitens führt der Mangel an Arbeitskräften, dass die Inventionen aus In- und Ausland ausbleiben, was der estnischen Wirtschaft einen erheblichen Schlag versetzen könnte. Gerade der Mangel an IT-Experten könnte sogar estnische IT-Firmen ihre Geschäfte nach Russland oder Indien outsourcen.
Ein weiteres Problem ist recht kurzsichtige estnische Politik, die zwar Finanzwirtschaft stützt und von ihr unterstützt wird, andere Wirtschaftszweige werden von ihr aber in Mitleidenschaft gezogen. Durch eine Verschlechterung der Beziehungen zu Russland, warnt die Transportwirtschaft vor Zusammenbruch ihres Hauptgeschäftes. Die Grenzpunkte haben zu niedrige Kapazität für die Abfertigung des LKW-Verkehrs, eine zusätzliche Brücke über den Fluss Narva wird nicht gebaut, der Grenzvertrag wurde (in Unterschied zu Lettland) nicht geschlossen und die komplett veraltete Eisenbahn wird nach Reprivatisierung nicht erneuert. In der Zwischenzeit bauen die Russen an der Ostsee Ölterminals und die Letten vergrössern die Transitkapazitäten, so dass Estland bald auf dem Trockenen sitzen bleiben könnte. Ebenso könnte die Exportwirtschaft leiden, ein Grossteil der Sicherheitsgurte der Firma Narva geht an russische Autohersteller, die jedoch schon von russischen Politikern aufgerufen werden, russische Lieferanten zu bevorzugen.
Das estnische Staatsbudget ist zwar in Profizit, aber die Wahlversprechen, die während der letzten Wahlen gegeben wurden, werden das sicher ändern. Die bereits niedrigen Einheitssteuern werden noch weiter auf 18% gesenkt, die Renten um 20% erhöht. Der Staat wird seiner Handlungsfähigkeit und der Möglichkeit selbst zu investieren beraubt.
Wie man sieht, ist jeder Zweig der estnischen Wirtschaft auf eigene Art gefährdet: die Banken durch das Abflauen des Immobilien-Booms, die IT-Wirtschaft durch den Mangel an hochqualifizierten Arbeitern, die Tourismusindustrie durch den Mangel an niedrigqualifizierten Kräften, die Fertigungsindustrie durch die steigende Gehälter und die Transportwirtschaft durch eine russland-unfreundliche Politik. Was kann/muss also getan werden?
Estland braucht Einwanderung. Durch den zusätzlichen Bedarf an Wohnraum, bleiben die Preise für Immobilien zumindest stabil. Zusätzliche Arbeitskräfte drücken die Arbeitspreise, so dass die estnischen Unternehmen wieder konkurrenzfähiger auf dem Weltmarkt werden. Hochqualifizierte Spezialisten erhalten den Ruf Estlands ein hochtechnisiertes Land zu sein. Servicepersonal ermöglicht weitere Entwicklung von Tourismusindustrie.
Allerdings ist die Frage der Einwanderung ein wunder Punkt in estnischen Geschichte. Bis zum heutigen Tage besteht ein drittel der Bevölkerung Estlands auf russisch-sprachigen Einwanderern, die während des letzten Wirtschaftsbooms im sowjetischen Estland in den 50-60ern Jahren eingewandert sind. Es wurden zahlreiche Gesetze und Verordnungen erlassen, um diese Gruppe in die estnische Gesellschaft zu integrieren, doch wenn eine neue Einwanderungswelle über Estland rüberschwappt sind alle diese Gesetze, alle Sprachkommissionen hinfällig, denn es ist nicht realistisch von den neuen Einwanderern zu verlangen estnische Sprache und estnische Kultur zu erlernen. Die Angst vor dem Verlust derselbigen ist so gross, dass manche eher ein Absacken der Wirtschaft in Lauf nehmen, anstatt neue Einwanderer.
Normalisierung der Beziehungen zu Russland. Trotz der zahlreichen Verflechtungen mit den skandinavischen Ländern darf Estland nicht den grossen Nachbarn übersehen und die vielfältigen Möglichkeiten der wachsenden russischen Wirtschaft nutzen. Auch darf nicht vergessen werden, dass Estland höchstgradig abhängig von russischen Energielieferungen ist. Durch die Erweiterungen der Kapazitäten der Transitpunkte an der Grenze, Unterzeichnung des Vertrages über die russisch-estnische Grenze und Modernisierung der Verkehrsinfrastruktur (insbesondere der Eisenbahn) kann Estland ihre einzigartige Verkehrslage voll ausnutzen.
Stoppen und Umkehren des Auswanderungstromes. Trotz niedriger Arbeitslosigkeit und rasant steigenden Löhnen, verlassen viele junge und hochgebildete Leute Estland. Die Ursachen müssen festgestellt und beseitigt werden. Gerade auf diese Leute kann estnische Wirtschaft am wenigsten verzichten.
Stärkung der Wirtschaftszweige, die Endprodukte für Verbraucher produzieren. Dadurch müssen weniger Waren importiert werden, so dass der Aussenhandelsdefizit geringer wird.
Verbindlicher Termin zur Einführung des Euros festlegen. Nachdem letztes Jahr die Möglichkeit verpasst wurde den Euro als Währung einzuführen, gibt es nicht mal einen Fahrplan, wann Estland den Euro einführen möchte und welche Anstrengungen dafür getan werden müssen.
Alle diese Massnahmen sollten Estland helfen, weiterhin die fantastische Wirtschaftserfolgsstory fortzuführen, die allen Bürgern nutzt und Estland als Musterland der EU darstellt.
Schauen wir doch ein paar Zahlen an. Das estnische statistische Department hat gemeldet, dass das der Bruttoinlandsprodukt 2006 satte 11,4% betragen hat. Wenn man die Daten von CIA Worldbook of Facts ranzieht, sieht man dass Estland damit unter den 10 am schnellsten wachsenden Wirtschaften weltweit befindet. Wie kommt denn dieser enorme Wachstum zu Stande? Die Binnennachfrage wuchs um 15,1%, der Aussenhandel um 10%, der Import um 14,7%. Der Leistungsbilanzdefizit beträgt ca. 12%, das bedeutet, dass mehr Waren importiert, als exportiert werden.
Diese Zahlen sagen aus, dass estnische Bevölkerung gerade sehr konsumorientiert eingestellt ist. Die inländische Wirtschaft hält mit der Nachfrage nicht schritt, bzw. produziert Waren, die nicht für estnisches Konsum geeignet sind. Woraus besteht denn die estnische Wirtschaft?
Die Landwirtschaft trägt 11% zu dem Bruttoinnenprodukt, die Industrie 28% und der Dienstleistungssektor die restlichen 69%. Die Industrie fertigt hauptsächlich Halbfabrikate, die ins Ausland zur Weiterverarbeitung exportiert werden. Die größte Produktionsfirma in Estland ist Norma, die Sicherheitsgurte für Autos produziert, die alle exportiert werden, da Estland keine Automobilfabrik hat. Dasselbe gilt für die holzverarbeitende Firmen. Wie jeder Zwischenverarbeiter bestätigen kann, werden die grossen Gewinne nur am Ende der Produktionskette generiert, ansonsten versucht der Endproduzent die Lieferantenkette so weit wie möglich zu optimieren, so dass die Gewinnmargen der Zwischenverarbeiter recht klein sind. Warum das wichtig ist, sehen wir später. Estland ist auch ein Transitland für russische Waren, die per Eisenbahn oder LKW zu einem der estnischen Häfen geleitet werden, wo sie auf dem Schiffsweg weiter transportiert werden.
Im Dienstleistungssektor sind Finanzwesen, ITK und Tourismus die wichtigsten Zweige. Starkes Finanzwesen und der Fakt, dass nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Bauwirtschaft zum Erliegen kam (von jährlichem Zuwachs der Wohnfläche in den 80ern Jahren um 60000m^2 fiel dieser Wert auf nahezu 0 in den 90ern und ist momentan unter 10000m^2), führte zu einem anderen Effekt, der starken Einfluss auf estnische Volkswirtschaft hat, nämlich Explosion der Immobilienpreise. Die teuersten Objekte werden zu Preisen von 100000 Kronen/m^2 verkauft, das sind 6410 EUR/m^2 (zum Vergleich Eigentumswohnungen in Köln und Düsseldorf (deutsche Spitzenreiter) kosten 5000 EUR/m^2). Günstige Finanzierungsangebote ermöglichen Kauf selbst solcher komplett überteuerter Immobilien. Was dadurch natürlich steigt, ist die Verschuldung der Bevölkerung.
Damit wären wir bei den Gefahren, die der estnischen Wirtschaft in der nahen Zukunft drohen angelangt. Niedrige Zinsen ist nicht der einzige Anreiz, einen hohen Kredit aufzunehmen. Weiterer Anreiz ist Garantie, dass der Kaufobjekt nicht an Wert verliert, so dass man es notfalls wieder zum höheren oder mindestens dem gleichen Preis wieder verkaufen kann. Also muss der Immobilienboom immer weiter angeheizt werden. Bei sinkender Bevölkerung eher kein leichtes Unterfangen. Wenn die Preise für Immobilien sinken und womöglich der Schuldner sich überschätzt hat und die Kredite nicht zurückzahlen kann, wird sein Pfand (nämlich die Immobilie) viel weniger Wert sein, als das Kredit, so dass die Bank das Kredit abschreiben muss (sogenanntes faules Kredit). Passiert das in grosser Zahl, kann es für die Bank bedrohlich werden.
Eine weitere Voraussetzung für die Aufnahme eines Kredites ist die Annahme, dass die persönliche Zukunft des Kreditnehmers ausreichend gesichert ist. Auf den ersten Blick ist das tatsächlich der Fall. Die Arbeitslosenquote beträgt in Estland 4.5%, es herrscht quasi Vollbeschäftigung. Ausserdem hilft eine höhere Inflation von 5% die Schulden schneller abzubauen. Das Problem dabei ist, dass mit so einer hohen Inflation Estland nicht in näheren Zeit ein Mitglied der Eurozone werden kann, was eine weitere Annäherung an die europäische Wirtschaft zumindest erschwert. Und ein weit schärferes Problem ist, dass bereits jetzt ein klarer Arbeitskräftemangel in Estland vorherrscht. Das hat zwei Effekte. Erstens steigen die Löhne überproportional, jedenfalls viel schneller als die Produktivität, so dass die estnische Waren auf den Weltmärkten immer weniger konkurrenzfähig werden (die Lieferantenketten können schnell auf günstigere Konkurrenten umgestellt werden). Zweitens führt der Mangel an Arbeitskräften, dass die Inventionen aus In- und Ausland ausbleiben, was der estnischen Wirtschaft einen erheblichen Schlag versetzen könnte. Gerade der Mangel an IT-Experten könnte sogar estnische IT-Firmen ihre Geschäfte nach Russland oder Indien outsourcen.
Ein weiteres Problem ist recht kurzsichtige estnische Politik, die zwar Finanzwirtschaft stützt und von ihr unterstützt wird, andere Wirtschaftszweige werden von ihr aber in Mitleidenschaft gezogen. Durch eine Verschlechterung der Beziehungen zu Russland, warnt die Transportwirtschaft vor Zusammenbruch ihres Hauptgeschäftes. Die Grenzpunkte haben zu niedrige Kapazität für die Abfertigung des LKW-Verkehrs, eine zusätzliche Brücke über den Fluss Narva wird nicht gebaut, der Grenzvertrag wurde (in Unterschied zu Lettland) nicht geschlossen und die komplett veraltete Eisenbahn wird nach Reprivatisierung nicht erneuert. In der Zwischenzeit bauen die Russen an der Ostsee Ölterminals und die Letten vergrössern die Transitkapazitäten, so dass Estland bald auf dem Trockenen sitzen bleiben könnte. Ebenso könnte die Exportwirtschaft leiden, ein Grossteil der Sicherheitsgurte der Firma Narva geht an russische Autohersteller, die jedoch schon von russischen Politikern aufgerufen werden, russische Lieferanten zu bevorzugen.
Das estnische Staatsbudget ist zwar in Profizit, aber die Wahlversprechen, die während der letzten Wahlen gegeben wurden, werden das sicher ändern. Die bereits niedrigen Einheitssteuern werden noch weiter auf 18% gesenkt, die Renten um 20% erhöht. Der Staat wird seiner Handlungsfähigkeit und der Möglichkeit selbst zu investieren beraubt.
Wie man sieht, ist jeder Zweig der estnischen Wirtschaft auf eigene Art gefährdet: die Banken durch das Abflauen des Immobilien-Booms, die IT-Wirtschaft durch den Mangel an hochqualifizierten Arbeitern, die Tourismusindustrie durch den Mangel an niedrigqualifizierten Kräften, die Fertigungsindustrie durch die steigende Gehälter und die Transportwirtschaft durch eine russland-unfreundliche Politik. Was kann/muss also getan werden?
Estland braucht Einwanderung. Durch den zusätzlichen Bedarf an Wohnraum, bleiben die Preise für Immobilien zumindest stabil. Zusätzliche Arbeitskräfte drücken die Arbeitspreise, so dass die estnischen Unternehmen wieder konkurrenzfähiger auf dem Weltmarkt werden. Hochqualifizierte Spezialisten erhalten den Ruf Estlands ein hochtechnisiertes Land zu sein. Servicepersonal ermöglicht weitere Entwicklung von Tourismusindustrie.
Allerdings ist die Frage der Einwanderung ein wunder Punkt in estnischen Geschichte. Bis zum heutigen Tage besteht ein drittel der Bevölkerung Estlands auf russisch-sprachigen Einwanderern, die während des letzten Wirtschaftsbooms im sowjetischen Estland in den 50-60ern Jahren eingewandert sind. Es wurden zahlreiche Gesetze und Verordnungen erlassen, um diese Gruppe in die estnische Gesellschaft zu integrieren, doch wenn eine neue Einwanderungswelle über Estland rüberschwappt sind alle diese Gesetze, alle Sprachkommissionen hinfällig, denn es ist nicht realistisch von den neuen Einwanderern zu verlangen estnische Sprache und estnische Kultur zu erlernen. Die Angst vor dem Verlust derselbigen ist so gross, dass manche eher ein Absacken der Wirtschaft in Lauf nehmen, anstatt neue Einwanderer.
Normalisierung der Beziehungen zu Russland. Trotz der zahlreichen Verflechtungen mit den skandinavischen Ländern darf Estland nicht den grossen Nachbarn übersehen und die vielfältigen Möglichkeiten der wachsenden russischen Wirtschaft nutzen. Auch darf nicht vergessen werden, dass Estland höchstgradig abhängig von russischen Energielieferungen ist. Durch die Erweiterungen der Kapazitäten der Transitpunkte an der Grenze, Unterzeichnung des Vertrages über die russisch-estnische Grenze und Modernisierung der Verkehrsinfrastruktur (insbesondere der Eisenbahn) kann Estland ihre einzigartige Verkehrslage voll ausnutzen.
Stoppen und Umkehren des Auswanderungstromes. Trotz niedriger Arbeitslosigkeit und rasant steigenden Löhnen, verlassen viele junge und hochgebildete Leute Estland. Die Ursachen müssen festgestellt und beseitigt werden. Gerade auf diese Leute kann estnische Wirtschaft am wenigsten verzichten.
Stärkung der Wirtschaftszweige, die Endprodukte für Verbraucher produzieren. Dadurch müssen weniger Waren importiert werden, so dass der Aussenhandelsdefizit geringer wird.
Verbindlicher Termin zur Einführung des Euros festlegen. Nachdem letztes Jahr die Möglichkeit verpasst wurde den Euro als Währung einzuführen, gibt es nicht mal einen Fahrplan, wann Estland den Euro einführen möchte und welche Anstrengungen dafür getan werden müssen.
Alle diese Massnahmen sollten Estland helfen, weiterhin die fantastische Wirtschaftserfolgsstory fortzuführen, die allen Bürgern nutzt und Estland als Musterland der EU darstellt.
Mittwoch, März 07, 2007
Wahlen in Estland (Versuch einer Analyse)
Am Sonntag hat Estland endlich gewählt, endlich weil man sich nichts sehnlicher gewünscht hat, dass der Vorwahlkampf aufhört, so dass nicht noch mehr Geschirr in der Küche der estnischen Politik zerschlagen wird. Ich gebe zu, die Wahlergebnisse sind nicht so, wie ich sie mir gewünscht hätte und eigentlich hat kaum jemand mit so einem Ergebnis gerechnet.
Kaum jemand gab dem jetzigen Premier-Minister Ansip noch eine Chance, sämtliche Vorhersagen sagten einen hohen Sieg der Zentrumspartei voraus, so dass der Vorsitzende der Partei Edgar Saavisaar ein neuer PM werden könnte. Doch die Reformparei mit dem Vorsitzenden Ansip wurde mit Abstand die stärkste Kraft, danach kam die Zentrumspartei, danach die rechte Heimatpartei, danach die Sozialdemokraten aus deren Mitte der jetzige estnische Präsident Toomas Hendrik Ilves stammt, an fuenften Platz kam noch eine rechte Volksfrontpartei und aus dem Stand haben die Grünen 6 Sitze im Parlament erobert. Somit finden sich im jetzigen Parlament sechs Parteien wieder, die gerade komplizierte Koalitionsgespräche beginnen.
Es ist kaum damit zu rechnen, dass es zu einer zweier Koalition zwischen der Reformpartei und der Zentrumspartei kommt, dazu sind die Gräben, die während des Wahlkampfes sichtbar wurden viel zu tief. Die Unterschiede beginnen bei der Frage nach dem Einfluss des Staates in der Wirtschaft, gehen über das Verhältnis zu Russland (die Zentrumspartei hat enge Bindungen zu der russischen Einiges Russland-Regierungspartei) und enden bei der Behandlung der Minderheiten in Estland (mehr dazu später). Ich rechne eher damit, dass die rechten Volksparteien, die Reformpartei und evtl. die Grünen eine Koalition bilden werden.
Eine interessante Frage ist wie die Grünen aus dem Stand so viele Stimmen bekommen haben. Es ist grundlegend falsch die estnischen Grünen mit den deutschen Grünen zu vergleichen, die Wurzeln der beiden Parteien liegen in ganz unterschiedlichen Milieus (wobei ich ehrlich gesagt gar nicht weiss, wo die Wurzeln der estnischen Grünen liegen). Erinnern wir uns, aus der Umweltbewegung gegen die Phosphorgewinnung in Maardu ist die estnische Volksfront entstanden, die sich für die estnische Unabhängigkeit eingesetzt hat. Die Reste der Volksfrontpartei sind die fünftstärkste Kraft in Parlament, haben also mit den jetzigen Grünen nichts zu tun. Die Umweltsituation in Estland ist bei weitem nicht so dramatisch, wie in Deutschland in den 80ern Jahren, als die deutschen Grünen ihre Hochblüte hatten. Die meisten Dreckschleuder sind mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion geschlossen worden, das Meer ist wieder sauber, das dünn-besiedelte Estland hat viel unberührte Natur und Nationalparks, über die Phosphorgewinnung spricht niemand mehr, die Landwirtschaft ist nicht industrialisiert und selbst für Kohtla-Järve, die Stadt, die eine einzige ökologische Katastrophe war, gibt es Tourismuskonzepte, ist also vorzeigbar geworden. Das einzige Umweltthema, dass die estnischen Grünen also ernsthaft beackern können, wäre eine möglichst hohe Nutzung von Alternativenergien. Da ist die estnische Bilanz tatsächlich recht schlecht, viel Energie wird durch schlecht isolierte Häuser und fehlende Thermostate verschwendet und der reichhaltige Potenzial der Windkraft wird in Estland kaum genutzt. Doch neben dem Umweltschutz-Gedanken hat ein möglichst hoher Anteil an selbsterzeugten Energie einen gewaltigen politischen Vorteil, nämlich energetische Unabhängigkeit von Russland. Somit liegen die Grünen auf der selben Linie mit der Reform- und Heimatpartei, sind also durchaus koalitionsfähig.
Was bedeutet denn das Wahlergebnis für die russisch-sprachige Minderheit? Als erstes muss man feststellen, dass trotz der Tatsache, dass diese Wahl durchaus als Schicksalswahl für sie anzusehen war und sie definitiv die Möglichkeit hätten das Wahlergebnis zu ihren Gunsten zu beeinflussen, haben sie diese Möglichkeit nicht genutzt. Die Wahlbeteiligung in Ida-Virumaa, also dem Wahlbezirk in dem die meisten Russen leben, mit 50% am niedrigsten. Die Konstitutionspartei, die sich als einzige klar von Anfang an für die Interessen der russisch-sprachigen Bevölkerung und gegen den Abriss des Bronzenen Soldaten ausgesprochen hat, bekam knapp 1% der Stimmen (insgesamt ca. 5000). Da helfen auch keine Erklärungen, dass knapp 17% der Bevölkerung nicht wählen durfte, weil sie entweder keine, oder russische Staatsangehörigkeit hat. Wenn wir davon ausgehen, dass ca. 33% der Gesamtbevölkerung der russisch-sprachigen Minderheit angehört, müssten erheblich mehr Stimmen für die Konstitutionspartei drin sein. Viele der russisch-sprachigen Bürger haben ihre Stimme der Zentrumspartei gegeben (die Partei bekam >50% der Stimmen in Ida-Virumaa), aber es wäre durchaus mehr drin gewesen. Die niedrige Beteiligung der Minderheiten erklärt sich mit dem tiefen Misstrauen der estnischen Politik insgesamt gegenüber und der tiefverwurzelten Vorstellung, dass die Politiker generell nur an ihrem eigenen Wohl interessiert sind. Diese Meinung kommt auch in Deutschland besonders bei den sozial benachteiligten Gruppen durchaus oft vor, nur das eine Wahlabsistenz keine Antwort darauf sein kann, denn man durchaus genügend Gewicht hat die Verhältnisse zu ändern und eine Gruppe darstellt, die für Politik durchaus lohnenswert wäre zu beackern. Jetzt wurde wieder jegliche Chance verspielt seine Interessen geltend zu machen. Es reicht nicht in Internet-Foren Ansip mit Doppel "s" möglichst in Runenschrift zu schreiben und im Fernsehen die Reformpartei als Faschisten zu beschimpfen und sich zu beklagen.
Wie wird denn die estnische Politik nach den Wahlen aussehen? Als erstes muss man feststellen, dass es der Reformpartei durchaus genutzt hat die Nationalismusdebatte zu entfachen. Viele Stimmen, die die rechten Parteien verloren haben, gingen auf das Konto der Reformpartei. Ansip steht also in der Pflicht sein Versprechen zu erfüllen und den Bronzenen Soldaten zu entfernen. Falls die von mir vorhergesagte Koalition wirklich sich zusammenfindet, wird ein korrigiertes Gesetz über die Entfernung der okkupationsverherrlichenden Zeichen das Parlament passieren und wird vom Präsidenten unterschrieben. Das Verhältnis zu Russland wird endgültig zerrüttet, man darf nicht vergessen, dass nächstes Jahr in Russland Präsidentschaftswahlen stattfinden werden, wo ein möglichst starker nationalistisch denkender Putin-Nachfolger gesucht wird. Man braucht sich keine Illusionen zu machen, wie auf jede russland-feindliche Äusserung jeden estnischen Politikers reagiert wird. Ebenso wird es wahrscheinlich auch nicht beim Bronzenen Soldaten bleiben. Es gibt noch genügend Denkmäler der russischen Zeit in Estland, das weitaus sichtbarste steht mitten in Tompea direkt gegenüber dem Regierungssitz. Diese russisch-orthodoxe Kirche war schon der estnischen Regierung in den 20er Jahren ein Dorn im Auge (war auch als solches gedacht), also braucht es nicht viel Phantasie sich vorzustellen, worauf sich die Blicke der estnischen Nationalisten als nächstes richten werden. Mit ein bisschen mehr Phantasie ist sogar der Abriss von dem Kadriorg-Palais durchaus denkbar, schliesslich wurde es vom verhassten Zar Peter I gebaut und an seine Frau Ekatherina geschenkt. Da gibt es aber auch noch Russalka-Denkmal, das dem Untergang eines russischen Kriegsschiffes gewidmet ist. Also Möglichkeiten für Provokationen gibt es mehr als genug.
Ökonomisch gesehen wird die estnische Wirtschaft wohl noch wachsen, bis ein akuter Mangel an Facharbeitskräften spürbar wird. Bereits jetzt wird den Mitarbeitern von Elion (ehemalige Eesti Telekom) eine Prämie versprochen, wenn sie einen potentiellen qualifizierten Mitarbeiter finden (in westlichen High-Tech Firmen durchaus übliche Massnahme, in Estland bis vor kurzem undenkbar). Estland steht momentan am aehnlichen Scheideweg, wie vor einigen Jahren Portugal und Irland. Beide Länder hatten einen hohen Wirtschaftswachstum, doch in Portugal kam er zum Erliegen, während der irische Boom nach wie vor andauert. Die Iren hatten viele hochqualifizierte Spezialisten, viele kamen auch aus dem Ausland, dank der englischen Sprache und offenen irischen Kultur konnten sie sich integrieren und tragen zum irischen Wachstum bei. In Portugal war der Anteil der hochqualifizierten Spezialisten nicht so hoch, der Anteil der Arbeiter in der Fischerei und traditionellen Industrien wie Textilindustrie war hoch und es wurden keine Ausländer angeworben. Wie es aussieht, wird Estland eher den portugiesischen Weg beschreiten, anstatt dass Spezialisten ins Land kommen, gibt es eher ein Brain Drain, die besten Absolventen (viele davon Russen) verlassen das Land wegen der niedrigen Gehälter und entwürdigenden Sprachgesetze (obwohl sie die estnische Sprache durchaus beherrschen). Ich sehe auch nicht, dass Gastarbeiter aus dem Westen sich nach Estland aufmachen, das heisst wahrscheinlicher muss sich Estland auf die Gastarbeiter aus der Ukraine, Weissrussland und evtl. Bulgarien einrichten. Nur lesen diese Leute eher die russische Presse, so dass ein positives Bild von Estland kaum entstehen kann. Eine hohe Einwanderung braucht Estland auch aus einem anderen Grund: die hohen Immobilienpreise, die einen Teil der estnischen Wirtschaft ausmachen, bleiben nur dann oben, wenn genügend Nachfrage besteht. Sollte die Nachfrage (und damit die Preise) fallen, entstehen jede Menge fauler Kredite, die der hochentwickelten Bankenwirtschaft Estlands einen schweren Schlag versetzen können. Irland und Großbritannien, die sich in einer ähnlichen Situation befinden lösen das Problem indem sie eine möglichst hohe Einwanderung zulassen (das sind die beiden Länder, die keine Zuzugsbeschränkungen für die EU-Osteuropäer geschaffen haben).
Neben diesen brennenden Problemen gibt es noch viele Herausforderungen an die estnische Politik in der nächsten Wahlperiode. Die Lebenserwartung ist die niedrigste in ganz Europa, die AIDS-Rate die höchste, Drogen und Alkoholmissbrauch in der Bevölkerung, besonders unter den Jugendlichen grassiert trotz Androhung der hohen Strafen und entsprechend überfüllter Gefängnisse. Die Geburtenrate ist niedrig, die Bevölkerung schwindet. Der Zeitpunkt des Übergangs zum Euro ist unklar. Wegen der niedrigen Steuersätze und dem Wahlversprechen sie noch weiter abzusenken, kann der Staat seine Sozialpflichten, wie Bildung oder Mindestsicherung nur ungenügend erfüllen. Viele Kommentatoren vergleichen Estland mit solchen sozial starken Staaten wie den skandinavischen Ländern, dabei ist Estland eher mit Großbritannien vergleichbar, was die ökonomische Liberalität und die Sozialsicherungsstrukturen angeht. Unter der Führung der liberalen Reform-Partei werden sich die beiden Länder noch mehr angleichen. Bleibt zu hoffen, dass nicht die falschen Antworten für die richtigen Fragen gefunden werden und man nicht die skandinavischen Methoden auf die großbritanische Wirklichkeit anwendet.
Kaum jemand gab dem jetzigen Premier-Minister Ansip noch eine Chance, sämtliche Vorhersagen sagten einen hohen Sieg der Zentrumspartei voraus, so dass der Vorsitzende der Partei Edgar Saavisaar ein neuer PM werden könnte. Doch die Reformparei mit dem Vorsitzenden Ansip wurde mit Abstand die stärkste Kraft, danach kam die Zentrumspartei, danach die rechte Heimatpartei, danach die Sozialdemokraten aus deren Mitte der jetzige estnische Präsident Toomas Hendrik Ilves stammt, an fuenften Platz kam noch eine rechte Volksfrontpartei und aus dem Stand haben die Grünen 6 Sitze im Parlament erobert. Somit finden sich im jetzigen Parlament sechs Parteien wieder, die gerade komplizierte Koalitionsgespräche beginnen.
Es ist kaum damit zu rechnen, dass es zu einer zweier Koalition zwischen der Reformpartei und der Zentrumspartei kommt, dazu sind die Gräben, die während des Wahlkampfes sichtbar wurden viel zu tief. Die Unterschiede beginnen bei der Frage nach dem Einfluss des Staates in der Wirtschaft, gehen über das Verhältnis zu Russland (die Zentrumspartei hat enge Bindungen zu der russischen Einiges Russland-Regierungspartei) und enden bei der Behandlung der Minderheiten in Estland (mehr dazu später). Ich rechne eher damit, dass die rechten Volksparteien, die Reformpartei und evtl. die Grünen eine Koalition bilden werden.
Eine interessante Frage ist wie die Grünen aus dem Stand so viele Stimmen bekommen haben. Es ist grundlegend falsch die estnischen Grünen mit den deutschen Grünen zu vergleichen, die Wurzeln der beiden Parteien liegen in ganz unterschiedlichen Milieus (wobei ich ehrlich gesagt gar nicht weiss, wo die Wurzeln der estnischen Grünen liegen). Erinnern wir uns, aus der Umweltbewegung gegen die Phosphorgewinnung in Maardu ist die estnische Volksfront entstanden, die sich für die estnische Unabhängigkeit eingesetzt hat. Die Reste der Volksfrontpartei sind die fünftstärkste Kraft in Parlament, haben also mit den jetzigen Grünen nichts zu tun. Die Umweltsituation in Estland ist bei weitem nicht so dramatisch, wie in Deutschland in den 80ern Jahren, als die deutschen Grünen ihre Hochblüte hatten. Die meisten Dreckschleuder sind mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion geschlossen worden, das Meer ist wieder sauber, das dünn-besiedelte Estland hat viel unberührte Natur und Nationalparks, über die Phosphorgewinnung spricht niemand mehr, die Landwirtschaft ist nicht industrialisiert und selbst für Kohtla-Järve, die Stadt, die eine einzige ökologische Katastrophe war, gibt es Tourismuskonzepte, ist also vorzeigbar geworden. Das einzige Umweltthema, dass die estnischen Grünen also ernsthaft beackern können, wäre eine möglichst hohe Nutzung von Alternativenergien. Da ist die estnische Bilanz tatsächlich recht schlecht, viel Energie wird durch schlecht isolierte Häuser und fehlende Thermostate verschwendet und der reichhaltige Potenzial der Windkraft wird in Estland kaum genutzt. Doch neben dem Umweltschutz-Gedanken hat ein möglichst hoher Anteil an selbsterzeugten Energie einen gewaltigen politischen Vorteil, nämlich energetische Unabhängigkeit von Russland. Somit liegen die Grünen auf der selben Linie mit der Reform- und Heimatpartei, sind also durchaus koalitionsfähig.
Was bedeutet denn das Wahlergebnis für die russisch-sprachige Minderheit? Als erstes muss man feststellen, dass trotz der Tatsache, dass diese Wahl durchaus als Schicksalswahl für sie anzusehen war und sie definitiv die Möglichkeit hätten das Wahlergebnis zu ihren Gunsten zu beeinflussen, haben sie diese Möglichkeit nicht genutzt. Die Wahlbeteiligung in Ida-Virumaa, also dem Wahlbezirk in dem die meisten Russen leben, mit 50% am niedrigsten. Die Konstitutionspartei, die sich als einzige klar von Anfang an für die Interessen der russisch-sprachigen Bevölkerung und gegen den Abriss des Bronzenen Soldaten ausgesprochen hat, bekam knapp 1% der Stimmen (insgesamt ca. 5000). Da helfen auch keine Erklärungen, dass knapp 17% der Bevölkerung nicht wählen durfte, weil sie entweder keine, oder russische Staatsangehörigkeit hat. Wenn wir davon ausgehen, dass ca. 33% der Gesamtbevölkerung der russisch-sprachigen Minderheit angehört, müssten erheblich mehr Stimmen für die Konstitutionspartei drin sein. Viele der russisch-sprachigen Bürger haben ihre Stimme der Zentrumspartei gegeben (die Partei bekam >50% der Stimmen in Ida-Virumaa), aber es wäre durchaus mehr drin gewesen. Die niedrige Beteiligung der Minderheiten erklärt sich mit dem tiefen Misstrauen der estnischen Politik insgesamt gegenüber und der tiefverwurzelten Vorstellung, dass die Politiker generell nur an ihrem eigenen Wohl interessiert sind. Diese Meinung kommt auch in Deutschland besonders bei den sozial benachteiligten Gruppen durchaus oft vor, nur das eine Wahlabsistenz keine Antwort darauf sein kann, denn man durchaus genügend Gewicht hat die Verhältnisse zu ändern und eine Gruppe darstellt, die für Politik durchaus lohnenswert wäre zu beackern. Jetzt wurde wieder jegliche Chance verspielt seine Interessen geltend zu machen. Es reicht nicht in Internet-Foren Ansip mit Doppel "s" möglichst in Runenschrift zu schreiben und im Fernsehen die Reformpartei als Faschisten zu beschimpfen und sich zu beklagen.
Wie wird denn die estnische Politik nach den Wahlen aussehen? Als erstes muss man feststellen, dass es der Reformpartei durchaus genutzt hat die Nationalismusdebatte zu entfachen. Viele Stimmen, die die rechten Parteien verloren haben, gingen auf das Konto der Reformpartei. Ansip steht also in der Pflicht sein Versprechen zu erfüllen und den Bronzenen Soldaten zu entfernen. Falls die von mir vorhergesagte Koalition wirklich sich zusammenfindet, wird ein korrigiertes Gesetz über die Entfernung der okkupationsverherrlichenden Zeichen das Parlament passieren und wird vom Präsidenten unterschrieben. Das Verhältnis zu Russland wird endgültig zerrüttet, man darf nicht vergessen, dass nächstes Jahr in Russland Präsidentschaftswahlen stattfinden werden, wo ein möglichst starker nationalistisch denkender Putin-Nachfolger gesucht wird. Man braucht sich keine Illusionen zu machen, wie auf jede russland-feindliche Äusserung jeden estnischen Politikers reagiert wird. Ebenso wird es wahrscheinlich auch nicht beim Bronzenen Soldaten bleiben. Es gibt noch genügend Denkmäler der russischen Zeit in Estland, das weitaus sichtbarste steht mitten in Tompea direkt gegenüber dem Regierungssitz. Diese russisch-orthodoxe Kirche war schon der estnischen Regierung in den 20er Jahren ein Dorn im Auge (war auch als solches gedacht), also braucht es nicht viel Phantasie sich vorzustellen, worauf sich die Blicke der estnischen Nationalisten als nächstes richten werden. Mit ein bisschen mehr Phantasie ist sogar der Abriss von dem Kadriorg-Palais durchaus denkbar, schliesslich wurde es vom verhassten Zar Peter I gebaut und an seine Frau Ekatherina geschenkt. Da gibt es aber auch noch Russalka-Denkmal, das dem Untergang eines russischen Kriegsschiffes gewidmet ist. Also Möglichkeiten für Provokationen gibt es mehr als genug.
Ökonomisch gesehen wird die estnische Wirtschaft wohl noch wachsen, bis ein akuter Mangel an Facharbeitskräften spürbar wird. Bereits jetzt wird den Mitarbeitern von Elion (ehemalige Eesti Telekom) eine Prämie versprochen, wenn sie einen potentiellen qualifizierten Mitarbeiter finden (in westlichen High-Tech Firmen durchaus übliche Massnahme, in Estland bis vor kurzem undenkbar). Estland steht momentan am aehnlichen Scheideweg, wie vor einigen Jahren Portugal und Irland. Beide Länder hatten einen hohen Wirtschaftswachstum, doch in Portugal kam er zum Erliegen, während der irische Boom nach wie vor andauert. Die Iren hatten viele hochqualifizierte Spezialisten, viele kamen auch aus dem Ausland, dank der englischen Sprache und offenen irischen Kultur konnten sie sich integrieren und tragen zum irischen Wachstum bei. In Portugal war der Anteil der hochqualifizierten Spezialisten nicht so hoch, der Anteil der Arbeiter in der Fischerei und traditionellen Industrien wie Textilindustrie war hoch und es wurden keine Ausländer angeworben. Wie es aussieht, wird Estland eher den portugiesischen Weg beschreiten, anstatt dass Spezialisten ins Land kommen, gibt es eher ein Brain Drain, die besten Absolventen (viele davon Russen) verlassen das Land wegen der niedrigen Gehälter und entwürdigenden Sprachgesetze (obwohl sie die estnische Sprache durchaus beherrschen). Ich sehe auch nicht, dass Gastarbeiter aus dem Westen sich nach Estland aufmachen, das heisst wahrscheinlicher muss sich Estland auf die Gastarbeiter aus der Ukraine, Weissrussland und evtl. Bulgarien einrichten. Nur lesen diese Leute eher die russische Presse, so dass ein positives Bild von Estland kaum entstehen kann. Eine hohe Einwanderung braucht Estland auch aus einem anderen Grund: die hohen Immobilienpreise, die einen Teil der estnischen Wirtschaft ausmachen, bleiben nur dann oben, wenn genügend Nachfrage besteht. Sollte die Nachfrage (und damit die Preise) fallen, entstehen jede Menge fauler Kredite, die der hochentwickelten Bankenwirtschaft Estlands einen schweren Schlag versetzen können. Irland und Großbritannien, die sich in einer ähnlichen Situation befinden lösen das Problem indem sie eine möglichst hohe Einwanderung zulassen (das sind die beiden Länder, die keine Zuzugsbeschränkungen für die EU-Osteuropäer geschaffen haben).
Neben diesen brennenden Problemen gibt es noch viele Herausforderungen an die estnische Politik in der nächsten Wahlperiode. Die Lebenserwartung ist die niedrigste in ganz Europa, die AIDS-Rate die höchste, Drogen und Alkoholmissbrauch in der Bevölkerung, besonders unter den Jugendlichen grassiert trotz Androhung der hohen Strafen und entsprechend überfüllter Gefängnisse. Die Geburtenrate ist niedrig, die Bevölkerung schwindet. Der Zeitpunkt des Übergangs zum Euro ist unklar. Wegen der niedrigen Steuersätze und dem Wahlversprechen sie noch weiter abzusenken, kann der Staat seine Sozialpflichten, wie Bildung oder Mindestsicherung nur ungenügend erfüllen. Viele Kommentatoren vergleichen Estland mit solchen sozial starken Staaten wie den skandinavischen Ländern, dabei ist Estland eher mit Großbritannien vergleichbar, was die ökonomische Liberalität und die Sozialsicherungsstrukturen angeht. Unter der Führung der liberalen Reform-Partei werden sich die beiden Länder noch mehr angleichen. Bleibt zu hoffen, dass nicht die falschen Antworten für die richtigen Fragen gefunden werden und man nicht die skandinavischen Methoden auf die großbritanische Wirklichkeit anwendet.
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