Am Sonntag hat Estland endlich gewählt, endlich weil man sich nichts sehnlicher gewünscht hat, dass der Vorwahlkampf aufhört, so dass nicht noch mehr Geschirr in der Küche der estnischen Politik zerschlagen wird. Ich gebe zu, die Wahlergebnisse sind nicht so, wie ich sie mir gewünscht hätte und eigentlich hat kaum jemand mit so einem Ergebnis gerechnet.
Kaum jemand gab dem jetzigen Premier-Minister Ansip noch eine Chance, sämtliche Vorhersagen sagten einen hohen Sieg der Zentrumspartei voraus, so dass der Vorsitzende der Partei Edgar Saavisaar ein neuer PM werden könnte. Doch die Reformparei mit dem Vorsitzenden Ansip wurde mit Abstand die stärkste Kraft, danach kam die Zentrumspartei, danach die rechte Heimatpartei, danach die Sozialdemokraten aus deren Mitte der jetzige estnische Präsident Toomas Hendrik Ilves stammt, an fuenften Platz kam noch eine rechte Volksfrontpartei und aus dem Stand haben die Grünen 6 Sitze im Parlament erobert. Somit finden sich im jetzigen Parlament sechs Parteien wieder, die gerade komplizierte Koalitionsgespräche beginnen.
Es ist kaum damit zu rechnen, dass es zu einer zweier Koalition zwischen der Reformpartei und der Zentrumspartei kommt, dazu sind die Gräben, die während des Wahlkampfes sichtbar wurden viel zu tief. Die Unterschiede beginnen bei der Frage nach dem Einfluss des Staates in der Wirtschaft, gehen über das Verhältnis zu Russland (die Zentrumspartei hat enge Bindungen zu der russischen Einiges Russland-Regierungspartei) und enden bei der Behandlung der Minderheiten in Estland (mehr dazu später). Ich rechne eher damit, dass die rechten Volksparteien, die Reformpartei und evtl. die Grünen eine Koalition bilden werden.
Eine interessante Frage ist wie die Grünen aus dem Stand so viele Stimmen bekommen haben. Es ist grundlegend falsch die estnischen Grünen mit den deutschen Grünen zu vergleichen, die Wurzeln der beiden Parteien liegen in ganz unterschiedlichen Milieus (wobei ich ehrlich gesagt gar nicht weiss, wo die Wurzeln der estnischen Grünen liegen). Erinnern wir uns, aus der Umweltbewegung gegen die Phosphorgewinnung in Maardu ist die estnische Volksfront entstanden, die sich für die estnische Unabhängigkeit eingesetzt hat. Die Reste der Volksfrontpartei sind die fünftstärkste Kraft in Parlament, haben also mit den jetzigen Grünen nichts zu tun. Die Umweltsituation in Estland ist bei weitem nicht so dramatisch, wie in Deutschland in den 80ern Jahren, als die deutschen Grünen ihre Hochblüte hatten. Die meisten Dreckschleuder sind mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion geschlossen worden, das Meer ist wieder sauber, das dünn-besiedelte Estland hat viel unberührte Natur und Nationalparks, über die Phosphorgewinnung spricht niemand mehr, die Landwirtschaft ist nicht industrialisiert und selbst für Kohtla-Järve, die Stadt, die eine einzige ökologische Katastrophe war, gibt es Tourismuskonzepte, ist also vorzeigbar geworden. Das einzige Umweltthema, dass die estnischen Grünen also ernsthaft beackern können, wäre eine möglichst hohe Nutzung von Alternativenergien. Da ist die estnische Bilanz tatsächlich recht schlecht, viel Energie wird durch schlecht isolierte Häuser und fehlende Thermostate verschwendet und der reichhaltige Potenzial der Windkraft wird in Estland kaum genutzt. Doch neben dem Umweltschutz-Gedanken hat ein möglichst hoher Anteil an selbsterzeugten Energie einen gewaltigen politischen Vorteil, nämlich energetische Unabhängigkeit von Russland. Somit liegen die Grünen auf der selben Linie mit der Reform- und Heimatpartei, sind also durchaus koalitionsfähig.
Was bedeutet denn das Wahlergebnis für die russisch-sprachige Minderheit? Als erstes muss man feststellen, dass trotz der Tatsache, dass diese Wahl durchaus als Schicksalswahl für sie anzusehen war und sie definitiv die Möglichkeit hätten das Wahlergebnis zu ihren Gunsten zu beeinflussen, haben sie diese Möglichkeit nicht genutzt. Die Wahlbeteiligung in Ida-Virumaa, also dem Wahlbezirk in dem die meisten Russen leben, mit 50% am niedrigsten. Die Konstitutionspartei, die sich als einzige klar von Anfang an für die Interessen der russisch-sprachigen Bevölkerung und gegen den Abriss des Bronzenen Soldaten ausgesprochen hat, bekam knapp 1% der Stimmen (insgesamt ca. 5000). Da helfen auch keine Erklärungen, dass knapp 17% der Bevölkerung nicht wählen durfte, weil sie entweder keine, oder russische Staatsangehörigkeit hat. Wenn wir davon ausgehen, dass ca. 33% der Gesamtbevölkerung der russisch-sprachigen Minderheit angehört, müssten erheblich mehr Stimmen für die Konstitutionspartei drin sein. Viele der russisch-sprachigen Bürger haben ihre Stimme der Zentrumspartei gegeben (die Partei bekam >50% der Stimmen in Ida-Virumaa), aber es wäre durchaus mehr drin gewesen. Die niedrige Beteiligung der Minderheiten erklärt sich mit dem tiefen Misstrauen der estnischen Politik insgesamt gegenüber und der tiefverwurzelten Vorstellung, dass die Politiker generell nur an ihrem eigenen Wohl interessiert sind. Diese Meinung kommt auch in Deutschland besonders bei den sozial benachteiligten Gruppen durchaus oft vor, nur das eine Wahlabsistenz keine Antwort darauf sein kann, denn man durchaus genügend Gewicht hat die Verhältnisse zu ändern und eine Gruppe darstellt, die für Politik durchaus lohnenswert wäre zu beackern. Jetzt wurde wieder jegliche Chance verspielt seine Interessen geltend zu machen. Es reicht nicht in Internet-Foren Ansip mit Doppel "s" möglichst in Runenschrift zu schreiben und im Fernsehen die Reformpartei als Faschisten zu beschimpfen und sich zu beklagen.
Wie wird denn die estnische Politik nach den Wahlen aussehen? Als erstes muss man feststellen, dass es der Reformpartei durchaus genutzt hat die Nationalismusdebatte zu entfachen. Viele Stimmen, die die rechten Parteien verloren haben, gingen auf das Konto der Reformpartei. Ansip steht also in der Pflicht sein Versprechen zu erfüllen und den Bronzenen Soldaten zu entfernen. Falls die von mir vorhergesagte Koalition wirklich sich zusammenfindet, wird ein korrigiertes Gesetz über die Entfernung der okkupationsverherrlichenden Zeichen das Parlament passieren und wird vom Präsidenten unterschrieben. Das Verhältnis zu Russland wird endgültig zerrüttet, man darf nicht vergessen, dass nächstes Jahr in Russland Präsidentschaftswahlen stattfinden werden, wo ein möglichst starker nationalistisch denkender Putin-Nachfolger gesucht wird. Man braucht sich keine Illusionen zu machen, wie auf jede russland-feindliche Äusserung jeden estnischen Politikers reagiert wird. Ebenso wird es wahrscheinlich auch nicht beim Bronzenen Soldaten bleiben. Es gibt noch genügend Denkmäler der russischen Zeit in Estland, das weitaus sichtbarste steht mitten in Tompea direkt gegenüber dem Regierungssitz. Diese russisch-orthodoxe Kirche war schon der estnischen Regierung in den 20er Jahren ein Dorn im Auge (war auch als solches gedacht), also braucht es nicht viel Phantasie sich vorzustellen, worauf sich die Blicke der estnischen Nationalisten als nächstes richten werden. Mit ein bisschen mehr Phantasie ist sogar der Abriss von dem Kadriorg-Palais durchaus denkbar, schliesslich wurde es vom verhassten Zar Peter I gebaut und an seine Frau Ekatherina geschenkt. Da gibt es aber auch noch Russalka-Denkmal, das dem Untergang eines russischen Kriegsschiffes gewidmet ist. Also Möglichkeiten für Provokationen gibt es mehr als genug.
Ökonomisch gesehen wird die estnische Wirtschaft wohl noch wachsen, bis ein akuter Mangel an Facharbeitskräften spürbar wird. Bereits jetzt wird den Mitarbeitern von Elion (ehemalige Eesti Telekom) eine Prämie versprochen, wenn sie einen potentiellen qualifizierten Mitarbeiter finden (in westlichen High-Tech Firmen durchaus übliche Massnahme, in Estland bis vor kurzem undenkbar). Estland steht momentan am aehnlichen Scheideweg, wie vor einigen Jahren Portugal und Irland. Beide Länder hatten einen hohen Wirtschaftswachstum, doch in Portugal kam er zum Erliegen, während der irische Boom nach wie vor andauert. Die Iren hatten viele hochqualifizierte Spezialisten, viele kamen auch aus dem Ausland, dank der englischen Sprache und offenen irischen Kultur konnten sie sich integrieren und tragen zum irischen Wachstum bei. In Portugal war der Anteil der hochqualifizierten Spezialisten nicht so hoch, der Anteil der Arbeiter in der Fischerei und traditionellen Industrien wie Textilindustrie war hoch und es wurden keine Ausländer angeworben. Wie es aussieht, wird Estland eher den portugiesischen Weg beschreiten, anstatt dass Spezialisten ins Land kommen, gibt es eher ein Brain Drain, die besten Absolventen (viele davon Russen) verlassen das Land wegen der niedrigen Gehälter und entwürdigenden Sprachgesetze (obwohl sie die estnische Sprache durchaus beherrschen). Ich sehe auch nicht, dass Gastarbeiter aus dem Westen sich nach Estland aufmachen, das heisst wahrscheinlicher muss sich Estland auf die Gastarbeiter aus der Ukraine, Weissrussland und evtl. Bulgarien einrichten. Nur lesen diese Leute eher die russische Presse, so dass ein positives Bild von Estland kaum entstehen kann. Eine hohe Einwanderung braucht Estland auch aus einem anderen Grund: die hohen Immobilienpreise, die einen Teil der estnischen Wirtschaft ausmachen, bleiben nur dann oben, wenn genügend Nachfrage besteht. Sollte die Nachfrage (und damit die Preise) fallen, entstehen jede Menge fauler Kredite, die der hochentwickelten Bankenwirtschaft Estlands einen schweren Schlag versetzen können. Irland und Großbritannien, die sich in einer ähnlichen Situation befinden lösen das Problem indem sie eine möglichst hohe Einwanderung zulassen (das sind die beiden Länder, die keine Zuzugsbeschränkungen für die EU-Osteuropäer geschaffen haben).
Neben diesen brennenden Problemen gibt es noch viele Herausforderungen an die estnische Politik in der nächsten Wahlperiode. Die Lebenserwartung ist die niedrigste in ganz Europa, die AIDS-Rate die höchste, Drogen und Alkoholmissbrauch in der Bevölkerung, besonders unter den Jugendlichen grassiert trotz Androhung der hohen Strafen und entsprechend überfüllter Gefängnisse. Die Geburtenrate ist niedrig, die Bevölkerung schwindet. Der Zeitpunkt des Übergangs zum Euro ist unklar. Wegen der niedrigen Steuersätze und dem Wahlversprechen sie noch weiter abzusenken, kann der Staat seine Sozialpflichten, wie Bildung oder Mindestsicherung nur ungenügend erfüllen. Viele Kommentatoren vergleichen Estland mit solchen sozial starken Staaten wie den skandinavischen Ländern, dabei ist Estland eher mit Großbritannien vergleichbar, was die ökonomische Liberalität und die Sozialsicherungsstrukturen angeht. Unter der Führung der liberalen Reform-Partei werden sich die beiden Länder noch mehr angleichen. Bleibt zu hoffen, dass nicht die falschen Antworten für die richtigen Fragen gefunden werden und man nicht die skandinavischen Methoden auf die großbritanische Wirklichkeit anwendet.
Mittwoch, März 07, 2007
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6 Kommentare:
Sehr interessanter Beitrag, auch wenn meine persönlichen Hoffnungen für die politische Zukunft dieses Landes oft auch deutlich differieren.
Eine kleine Anmerkunng zu den Fachkräften: Die Arbeitslosenrate in Finnland ist immernoch sehr hoch und nach meiner Einschätzung ist das große Bruderland im Norden (Was haben ein Rentier und ein Finne gemeinsam? Die roten Nase und dass sie den weg nicht alleine nach Hause finden.) nicht besonders unbeliebt. Die Xenophobie Estlands ist für mich nur schwer nachzuvollziehen , aber auch im Austausch mit den z.T. hochqualifizierten Finnen ist ein weiterer Aufschwung nicht unwahrscheinlich.
Gruß
Jan
http://www.schonleben.de
Ich habe heute den FAZ- Leitartikelkommentar gelesen, von Siegfried Thielbeer: Beispielhaftes Estland. Fast alles, was dort steht konnte man vorher wissen. Du hast dem ganzen noch einige Aspekte hinzugefügt. Ich stimme in den Prognosen nicht immer überein, wie Jan, aber was die Offenheit Estlands betrifft, gibt es einen älteren Post von Ross Mayfield, der mal Berater von Lennart Meri war. 'Open Estonia':
http://ross.typepad.com/blog/2005/06/open_estonia.html
Das ist aus der Sicht eines Amerikaners, der die Strukturen der IT-Branche kennt, die geradezu überlebensnotwendig einen offenen Arbeitsmarkt erfordert. Ich meine aus deiner Analyse gewisse Übereinstimmungen herauszulesen.
Der FAZ Artikel ist vorübergehend online zu lesen. Am besten mit www.paperball.de , dann Stichwort Estland eingeben. Sollte der Artikel vom Dienstag oder Mittwoch sein.
Ein Paar Bemerkungen dabei: der Autor verwickelt den Volksunion, der ist zentral-links orientiert, mit dem Volksfront (die Organisation aus ende 80. - anfang 90. Jahren).
Und zum Konstitutionspartei - die Parteien, die der "russische Karte" spielen möchten als ein Hauptpunkt des Vahlprogramms, derzeit keinen Chance haben. Alle sind schon dazu gewohnt, das die Russische Parteien, falls die scheffen wirklich manche Plätze im Parlamen zu gewinnen, sowieso kein Macht um etwas zu ändern haben, und dann fangen sie eigenen Geschäft zu machen. Die andere Grund liegt hinter den Fakt, das auch die Russen von die Segregation müde sind. Die Mehrheit hofft auf die Verbesserung des Lebensqualitäts.
Deswegen hat die Zentrumpartei die meistene Stimmen den Russen gekriegt.(Pardon für die Schreibfehler)
Hi Jens-Olaf,
danke fuer den Link von Ross Mayfield, meine Gedanken gehen in dieselbe Richtung. Estland braucht Einwanderung und braucht auch jeden Buerger des Landes, der zur Weiterentwicklung des Landes beitragen kann, unabhaendig davon, ob er ein Este, Russe, ein Deutscher, ein Bulgare oder gar ein Chinese oder ein Inder ist. Ob Estland aber wirklich bereit dafuer ist, wage ich ernsthaft zu bezweifeln. Und die Finnen allein werden estnische Probleme auch nicht wieder loesen koennen. Kein finnischer High-Tech Experte wird nach Estland gehen wollen und einen Bruchteil davon verdienen, was er in Finnland bekommt.
"Estland braucht Einwanderung"
Thank you for "good" advice. Estonia does not need immigration. We have too much Russians already
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