Es ist schon (erst?) eineinhalb Jahre her, dass ich das letzte Mal den estnischen Boden betreten habe. Ich war die letzte Woche in Tallinn und hier sind meine Eindrücke:
1. Welche Farbe hat die Krise? Kann man die Krise sehen, tasten, riechen, hören? Wenn man als Tourist durch Tallinner Zentrum geht, sieht man nichts. Es sind noch mehr Glaspaläste gebaut worden, es sind viele Leute auf der Strasse und in Kaufhäusern, sehr wenig Bettler auf der Strasse oder Besoffene, keine geschlossene Bars oder Geschäfte, trotz kalten Wetters werden Reisegruppen durch die Altstadt geführt, darunter sind viele Gruppen aus Russland, die russländischen Hetzkampagnen, nicht nach Estland zu fahren, haben ihre Wirkung verloren. Die Fähren aus Finnland sind voll mit vergnügungssüchtigen Finnen, die ihr Geld wie eh und je in Glücksspielautomaten reinwerfen (gibt es in Finnland eigentlich ein Mindestalter fürs Glücksspiel, ich habe eindeutig minderjährige gesehen, die auf der Fähre am Automaten zockten?). Die Wirtschaftskrise ist für normalen Touristen nicht fühlbar.
2. Doch ändert sich dieses Gefühl schlagartig, sobald man mit den Leuten spricht. Die Standardformel für Begrüßung ist: "Was macht die Krise?". Die Standardantwort ist ein gequältes Lächeln und rausgepresstes "Geht so". Wenn man mit dem Auto in die Tallinner Umgebung mitgenommen wird, sieht es schon anders aus. Aus dem Boden gestampfte Neubausiedlungen mit megamoderner Architektur stehen leer. Die explodierenden Wohnnebenkosten machen 50% der Gesamtmiete aus, wenn einer der Familienmitglieder auch noch das Pech hat, arbeitslos zu werden, sieht es sehr düster aus. Und die Angst die Arbeit oder sein Geschäft zu verlieren, schwebt über jedem Kopf. Viele befürchten, dass die gesetzlosen 90er Jahre wieder zurückkommen könnten, mit Bandenkriegen, Mafia, Drogen, Verbrechen. Insofern ist der jetzige Zustand noch schlimmer, als die Krisen in den 90ern, denn damals gab es nicht viel zu verlieren, jetzt, nach einigen Jahren relativen Wohlstands (wenn auch auf Pump finanziert) ist der Verlust des bereits Erreichten umso schmerzhafter. Da die Banken keine Kredite mehr geben, sind Geschäftsleute, die ihre Waren vorfinanzieren müssen, gezwungen in dunklen Kanälen nach Kredit zu fragen, doch sind da die Rückgabebedingungen ungleich schmerzhafter, als bei einer Bank. Die Schattenwirtschaft wird wieder aufblühen.
3. Keiner hat Patentlösungen, wie die Krise zu lösen ist, die meisten haben nur sehr ungefähre Vorstellung über die wirtschaftliche Zusammenhänge und wie z.B. Einführung des Euros sich auf die Exporte auswirken wird. Die meisten ahnen, dass sie über ihre Möglichkeiten gelebt haben, doch liegen radikale ökonomische Lösungen, wie Entwertung der Krone, Aufkauf von Schulden von den Banken durch den Staat, Zwangsumtausch der Kredite in Krone, massive Staatsverschuldung zur Stimulierung der Wirtschaft ausserhalb der Vorstellungskraft. Es wird geahnt, dass der jetzige Weg der falsche ist, doch es traut sich niemand über andere nachzudenken und sie auszusprechen. Immerhin fangen auch Leute, die mit der Wirtschaft bisher nichts zu tun hatten, die Fragen zu stellen.
4. Der Staat hat es geschafft, über rigorose Politik der Strafen, sich Respekt zu verschaffen, der auch auf Klima der Angst rührt. Wurde vor eineinhalb Jahren der Alkoholverkaufsverbot nach 22.00 Uhr von einigen Lädchen noch umgangen, ist es selbst für die Einheimischen nahezu unmöglich, spätabends Alkohol zu kaufen. Überspitzt formuliert ist es in manchen Gegenden einfacher Heroin für den nächsten Schuss zu kaufen, als eine Flasche Bier. Vor kurzem wurde bekannt, dass im Staatsbudget die Einnahmen aus den Verkehrsstrafen schon festeingeplant wurden, so dass jedes Parkverbot, jede Geschwindigkeitsüberschreitung bestraft wird. Es wird versucht diese Politik als Erziehungsmassnahme zu verkaufen, allerdings bin ich mir nicht sicher, ob der Staat seinen Bürgern gegenüber nur als drakonischer Bestrafer entgegentreten sollte.
5. Estland wird immer schwieriger zu erreichen. Gerüchten zufolge wird die Estonian Air ihr Flugangebot radikal zusammenstreichen, Konzentration auf Kerngeschäft bedeutet Flüge nach Tartu und Kuresaare. Nachdem Ryan Air und KLM sich zurückziehen, verkommt Tallinn immer mehr zu Zubringerflughafen für Riga. Das muss an sich nichts schlechtes sein, allerdings wäre eine schnelle Zugverbindung nach Riga evtl. sinnvoller, als der 45min Flug und viel Warterei auf beiden Flughäfen. Dasselbe gilt für Vilnius, die als die am schlechtesten erreichbare Hauptstadt Europas gilt. Wenn man bedenkt, dass Tallinn 2011 Kulturhauptstadt Europas werden soll, müssen ganz schnell Lösungen erarbeitet werden.
6. Ein paar Worte zur Politik. Es toben zwei Wahlkämpfe: eins um die Plätze im Europaparlament (insgesamt 6) und eins um die kommunale Verwaltungen. Der Kampf ums Europaparlament wird momentan hauptsächlich in der russisch-sprachigen Gemeinde ausgefochten, die trotz minimalen Chancen überhaupt einen Kandidaten durchzubringen, was rein rechnerisch zwar möglich, doch recht unwahrscheinlich ist, sich nicht auf einen Kandidaten einigen kann. Der zweite Kampf mit weitaus schmutzigeren Tricks fechtet die Reformpartei mit den Zentristen aus, es geht um die Macht in Tallinn. Momentan werden die Kandidaten für den Stadtrat in Stadtteilen gewählt, wobei jeder Stadtteil die gleiche Anzahl an Stadträten stellt. Da die Bevölkerungsanzahl und die Nationalitätenverteilung in den Stadtteilen extrem ungleichmäßig ist und die mehrheitlich zentristenfreundliche russisch-sprachige Minderheit in wenigen dichtbesiedelten Stadtvierteln wohnt, ist es ein Ziel der Zentristen eine Verwaltungsreform durchzuführen, wo die einzelnen Stadtviertel aufgehoben werden, so dass alle Kandidaten direkt gewählt werden. Um ganz sicher zu gehen, will man auch die mehrheitlich russisch-sprachige Stadt Maardu einverleiben. Die Reformisten versuchen ein Gesetz ins Parlament einzubringen, der solche Verwaltungsreformen verbietet, höchstwahrscheinlich treffen sich die Parteien vorm Gericht wieder. Passenderweise werden gerade Korruptionsaffären in Reihen der Zentristen aufgedeckt, die sich in der Durchsuchung von Redaktionsräumen der oppositionellen zentristen-nahen Zeitung "Vesti Dnja" von einer Einheit der KAPO gipfelte.
7. Während meines Aufenthalts habe ich mich auch mit Mitgliedern von Notchnoj Dozor Klaus Dornemann (an dieser Stelle danke ich nochmal für das gute Abendessen), Sergej Tydejakov und Maks Reva getroffen. Mein Eindruck ist höchst gespalten. Momentan ist die Organisation mit sich selbst beschäftigt und hat wenig Konzepte was ihre Ziele sind und wie ihre Tätigkeit in der Zukunft aussehen soll. Es sind mindestens zwei verschiedene Gruppierungen innerhalb der Organisation entstanden, die nebeneinander verschiedene Aktionen durchführen. Das einzige wovon Notchnoj Dozor noch zehrt, ist ihre Bekanntheit und unterschiedliche Reaktionen von verschiedenen Teilen der Bevölkerung sobald der Name fällt. Doch wirklich funktionsfähig ist die Organisation in ihrem jetzigen Stadium nicht, so dass momentan nur abgewartet werden kann, was sich demnächst daraus entwickeln wird. Ich werde an der Sache dranbleiben.
8. Nach den eigentlich betrügerischen SMS-Krediten mit aberwitzigen Rückzahlungskonditionen, gibt es zwei neue Maschen, die schwer nach Betrug riechen. Die erste Masche heisst SMS-Auktion und funktioniert folgendermassen: Ein teueres Gegenstand (z.B. ein Flachbildfernseher) ein wird zu 0.0 Kronen auf einer Internet-Seite zum Verkauf gestellt. Wenn man mitsteigern möchte, sendet man eine SMS, die 15 Kronen kostet, der Preis steigt um 7 cent. Mehrere Leute steigern um den Gegenstand, derjenige, der die letzte SMS schickt und nach einer bestimmten Zeit keiner weiterbietet, kann also theoretisch mit einer einzigen SMS einen teueren Fernseher für sehr wenig Geld ersteigern. Doch wenn man überlegt, dass bei einem Gerätepreis von 100 Kronen 1420 SMS verschickt wurden zu je 15 Kronen, kann man sich vorstellen um welche Gewinnspannen es hier geht. Die böse Überraschung erscheint dann auf der Telefonrechnung. Die andere Masche nutzt die Verzweiflung der Arbeitslosen aus. Die Firma Jobseeker bietet an für 100 Kronen / Anruf einen Job dem Anrufenden zu finden. Bei einem Testanruf weigerte sich der Mitarbeiter irgendwelche Informationen über sich oder die Firma zu geben, was eindeutig gesetzwidrig ist.
9. Derzeitige Hit in Estland heisst Oh kui raske Eestis olla, was übersetzt heisst: Wie schwer ist es in Estland zu leben. Hier ist der übersetzte Text:
Refrain: Oh kui raske Eestis olla 2x
Wir leben in einem kalten Land
Uns nennt man Estland,
Wir sammeln Opfergaben,
Welche man uns manchmal gibt.
In EU sind wir wer,
wichtige Herren,
wir haben ein Grund stolz zu sein,
wir haben eigenes Wasser
Refrain
Oft macht man Witze über die Esten,
dass wir lange denken
wir haben nicht genug Sonne
für Stoffwechsel
Wir bräunen uns viel im Sommer,
damit wir schneller denken können,
es ist gut im Sommer 10 lange Tage lang
Refrain
Wir haben eigene Regeln
wir sind ein geregeltes Volk
auf unseren Feldern sind Gräben
und nicht irgendein Kuddel-Muddel
unsere Landwirtschaft ist gut entwickelt in unserem Heimatland
wir düngen die Erde nur mit patentierten Sch..e
Refrain
Wir haben keine Angst vor Russland,
Wir haben eine eigene Armee
Ein Tausend Fahrradfahrer und ein halbes Schiff im Hafen
Auf der Grenze ist alles dicht, keiner kommt durch
Ein Angriff ist nicht möglich,
wir geben denen kein Visum
Refrain
Wir haben keine Angst vor Russland,
eigentlich hat man uns gar nicht gefragt.
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4 Kommentare:
Parkverbot Beispiel? Staat hat mit dem nichts zu tu.
Wie w6re ein Kommentar yber Natalja Zukova?
Wer ist Natalja Zukova?
Danke für diesen interessanten Bericht. Wofür stehen denn die beiden Richtungen, in die sich N.D. gespalten hat? Das wüße ich gerne etwas genauer.
Gruß
Schirren
Hallo Schirren,
die Spaltung von Notchnoj Dozor ist nicht hauptsächlich programatischer Natur, sondern es sind Führungskämpfe, wer die Führung von Notchnoj Dozor übernimmt. Soweit ich verstanden habe stehen Maxim Reva und Dimitrij Linter auf einer Seite, sie sind international bekannt, fahren öfters ins Ausland und brauchen Notchnoj Dozor als eine Organization in deren Namen sie auftreten können. Maks hat in 2 Stunden unseren Gesprächs fast nur über Weltpolitik gesprochen, Estland ist für ihn eindeutig zu klein. Auf der anderen Seite stehen Tydejakov, Larissa Neschadimova, Alexander Korobov. Deren Ziele sind noch nicht klar ausformuliert. Die Idee mit der Durchführung einer Befragung der estnischen Bevölkerung über die viel berichtet wurde, kam von ihnen. Tydejakov ist auch derjenige, der Meetings zu den Jahrestagen der Bronzenen Nächte und zum 9.Mai anmeldet.
Beide Seiten arbeiten nicht zusammen. Reva und Linter berichten nichts über ihre Aktivitäten im Ausland und Tydejakov hat kein Wort über solche Aktionen von Reva und Linter wie die Unterschriftensammlung, um den Staatenlosen das Wahlrecht fürs Europaparlament zu geben, verloren. Die Fronten scheinen verhärtet zu sein.
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