Samstag, November 21, 2009

Der Fall Kononov

Vasilij Kononov wird von der lettischen Regierung beschuldigt, Kriegsverbrechen während der Nazi-Okkupationszeit in Lettland verübt zu haben. Er war Kommandeur einer sowjetischen Partisanentruppe, die in einem Dorf der Kollaboration beschuldigte Bewohner nach einem improvisierten Militärgericht für schuldig befunden und exekutiert hat. Prozess um Kononov, der in Lettland lebt, geht schon seit mehreren Jahren in immer höhere Instanzen. In wenigen Tagen soll das Europäische Gericht für Menschenrechte endgültig entscheiden. Der folgende Artikel wurde ursprünglich in der russischen Zeitung Izwestija abgedruckt und von baltija.eu übernommen.

Französischer Experte: "Falls Kononov für schuldig befunden wird, kann man alle Kämpfer der Resistancé vors Gericht bringen"

Ein Schulspruch über Kononov kann ein Vorspiel zur neuen Teilung Europas werden

Autor: Oleg Schevzov (Paris).

Bis zum Ende November muss das Europäische Gericht für Menschenrechte ein endgültiges Urteil zum Fall über sowjetischen Partisanen Vasilij Kononov fällen, den die lettische Regierung der Kriegsverbrechen beschuldigt. Der Experte für internationales Recht, Professor an der juristischen Fakultät der Nizza-Universität Robert Charvin, hat mit dem Korrespondenten von "Izvestia" in Paris gesprochen.

Frage: Warum ist Kononov-Prozess wichtig für die Europäer?

Antwort: Ein Schuldspruch über den sowjetischen Veteranen Kononov kann ein Vorspiel zur neuen Teilung Europas werden. Das Gerichtsurteil versucht man zu der logischen Fortsetzung der Resolutionen der Parlamentarischen Versammlung der OSZE und Europäischen Parlaments zu machen, die einen Gleichheitszeichen zwischen Stalinismus und Nazismus gesetzt haben. Doch bei allen negativen Charakteristiken des Stalinismus, dies ist eine Erscheinung einer anderen Ordnung, unter anderem aus der Rechtssicht. Die lettische Regierung tat alles, um eine Unterstützung der Kollegen aus den EU-Ländern zu bekommen. Riga erzeugt Druck auf das Gericht in Strassburg, das leider für politische Konjunktur empfänglich ist. Der serbische Richter wurde zum Beispiel als voreingenommen bewertet und ausgeschlossen.

F: Wie kann das sein, dass in solchen Fragen das Gericht sich nicht nach dem Gesetz, sondern nach politischen Konjunktur richtet?

A: Ein Gericht, falls es kein Strafgericht ist, reagiert immer auf politische Argumente. Momentan ist nicht der Kriegsveteran Kononov, sondern modernes Russland das Hauptziel. Lettland möchte beweisen, dass es gleichermassen von sowjetischen und deutschen Armeen okkupiert wurde. Gleichwohl aus der Rechtssicht, kann die Schuld Sowjetunions nicht auf Russland übertragen werden. Sowjetunion kann man auch nicht in Analogie zu Nazi-Deutschland verurteilen, denn das Nürnberger Tribunal hat die Schuld der Nazis anerkannt.

Aus den Kommentaren der europäischen Massenmedien wird es klar: Auf Russland blickt man aus dem Westen immer noch feindlich, wie man vorher auf die Sowjetunion blickte. Moskau bleibt ein strategischer Konkurrent für die Europäer. Über den östlichen Nachbarn schreibt man unter jedem Vorwand nur negativ. Eine Ausnahme war die kurze Jelzin-Periode. Ich weiss nicht, wie es in USA aussieht, bei uns in Europäischen Union setzt sich die Ära von George Bush fort. Und falls Kononov, gleichbedeutend mit Russland, vorm Gericht verliert, über die Anerkennung des Faktes über sowjetische Okkupation Lettlands werden alle schreiben. Doch falls er gewinnen sollte, glauben Sie meiner Erfahrung, wird es absolute Stille geben.

F: Welche juristischen Folgen wird das Urteil haben?

A: Falls der Fall verloren wird, wird es schwerwiegende Folgen geben. Das Hauptargument der Anklage lautet: Kononov hat ohne Gericht und Untersuchung diejenigen vernichtet, die mit Nazisten kooperiert haben. Doch ich kann sagen: mein Onkel nahm an der Bewegung Resistancé teil, laut seinen Erzählungen handelte er genau gleich. Die Verdächtigen der Kollaboration wurden durch die Untergrundbewegung ohne Mitleid vernichtet, sonst wären alle verloren. Das waren die Gesetze der Kriegszeit. Die Verurteilung von Kononov erzeugt eine Präzedenz in der Beurteilung ähnlicher Fälle. Man kann jeden Kämpfer des antifaschistischen Widerstandes vors Gericht zerren: sie alle handelten unter Verletzung der demokratischen Prozeduren.

F: Doch kann der Gericht nicht die Realität dieser Zeit berücksichtigen?

A: Bei der ersten Verhandlung haben die Richter die Taten Kononovs für rechtmäßig befunden. Doch die grosse Gerichtskammer des Strassburger Gerichts kann eine neue Bewertung der Situation in Lettland zu der Kriegszeit geben, indem sie sich nach eigenen Vorstellungen der Geschichte richtet. Heute versucht man in Lettland diejenigen zu rehabilitieren, die in den SS-Armeen gedient haben, doch das Gericht könnte das nicht berücksichtigen. Während der Kriegszeit in Lettland wurden zwei Divisionen SS aus den lokalen Freiwilligen gebildet, die als Todesschwadronen tätig waren. Von den 70 Tausend in Lettland lebenden Juden, sind nach der Okkupation 500 übriggeblieben. Auch hat man Juden aus anderen europäischen Ländern dorthin hingebracht. Die lokalen Helfer der Nazis haben kein Mitleid mit ihnen gehabt. Die heutige Stimmung in Lettland symbolisiert folgender Fakt: Im Museum der sowjetischen Okkupation werden Fotos gezeigt (ich fand sie auf der Webseite des Museums), wo die lettische Bevölkerung 1941 mit Blumen die Armee Hitlers als "Befreier" feiert! In europäischen Museen wird man solche Ausstellungsstücke, die die Wehrmacht verherrlichen, nicht antreffen.

F: Und die historischen Dokumente, sind es für die Richter keine Beweise?

A: Leider nicht alle. Durch die Vorgabe der baltischen Länder wird die Betonung auf den Molotov-Ribbentropp Pakt gesetzt, obwohl solche Verträge mit Hitler auch europäische Staaten hatten, zum Beispiel Polen. Auch die Münchener Vereinbarung 1938, als England und Frankreich Tschechoslowakei zur Vereinigung Deutschlands faktisch weggeben haben, versucht man sich im Europäischen Parlament nicht zu erinnern. Lettland hat eigentlich ihre Unabhängigkeit aus den Händen der Bolschewiken 1918 bekommen, doch in Straßburg erinnert man sich nur daran, dass es 1940 von sowjetischen Armeen besetzt wurde.

In Europa denkt man fälschlicherweise, dass Postkommunismus und Demokratie eins und dasselbe wären. Heute wollen die baltischen Länder erreichen, dass ihr Territorium illegal durch Sowjetunion okkupiert wurde. Ohne diese Anerkennung wird ihre Politik gegenüber der russischen Minderheit sehr zweifelhaft, denn sie ist nicht mit den Normen der EU vereinbar. Deswegen geht der Prozess "Kononov gegen Lettland" ganz Europa an, und nicht nur ihn selbst, Letten und Russen.
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Junge Welt hat auch einen Artikel zu dem Thema veröffentlicht.

4 Kommentare:

Schirren hat gesagt…

Bravo, mal wieder ein hochinteressanter Beitrag, den leider viel zu wenige wahrnehmen werden!

Besonders bedauerlich finde ich den Aspekt, daß in dieser Frage von allen Seiten konsequent verschiedene Ebenen mit einander vermischt werden.

Grundsätzlich sind (aus meiner Sicht jedenfalls) Nationalsozialismus und Kommunismus (und Stalinismus als dessen Extremform) unterschiedlich. Dem NS geht jegliche humanistische Komponente ab, während der Kommunismus durchaus die Welt verbessern will - wenn man auch über die Erfolgsaussichten geteilter Meinung sein kann. Der Stalinismus kann deshalb mit dem Christentum zur Zeit der Inquisition verglichen werden.

In der Ausführung sind der Nationalsozialismus und der Kommunismus durchaus zu vergleichen. Für den einzelnen ist es ziemlich egal, ob er von einem SS-Schergen oder von einem Politkommissar erschossen wird.

Wer gegen die Nazis gekämpft hat, und dabei Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen oder unschuldige getötet hat, der steht nicht einfach deswegen über der Gerechtigkeit, weil er für „die gute Sache gekämpft“ hat.

Die Frage sollte sein, ob Kononow derartige Verbrechen begangen hat. Wenn ja, dann sollte er verurteilt werden, wenn nicht, dann ist er freizusprechen.

Die Position, daß Personen, die im Kampf gegen den Nationalsozialismus fragwürdige Methoden angewandt oder Unschuldige getötet haben, gerichtlich nicht belangt werden dürfen, ist absurd. Die Nazis hätten das andersrum genauso gehalten.

Ich bezweifle jedoch, ob es wirklich die Suche nach Gerechtigkeit ist, was die lettische Regierung antreibt. Mir scheint vielmehr, daß hier vielmehr Rußland und die Russen grundsätzlich delegitimiert werden sollen.

Die französischen Professoren, die russische Regierung und andere „Antifaschisten“ wiederum wollen sich ihren Nimbus wahren – „wir sind geheiligt, weil wir den Satan besiegt haben, darum stehen wir über den irdischen Dingen.“

Sehr bedenkenswert finde ich den folgenden Satz: „In Europa denkt man fälschlicherweise, dass Postkommunismus und Demokratie eins und dasselbe wären.” Das sollten sich manche im Westen mal durch den Kopf gehen lassen.

kloty hat gesagt…

Wer gegen die Nazis gekämpft hat, und dabei Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen oder unschuldige getötet hat

Ob man jetzt feststellen kann, ob die von Kononov getötete Menschen schuldig der Kollaboration waren oder nicht, bezweifle ich stark.

Schirren hat gesagt…

Die Anklage wird es beweisen müssen, ansonsten kann es keine Verurteilung geben. Dieser Grundsatz hat auch hier Gültigkeit.

Bei Nazi-Verbrechern muß ja auch bewiesen werden, daß sie wirklich in die Taten verwickelt waren und sich nicht bloß in der Nähe aufgehalten haben.

Schirren hat gesagt…

Um es präziser zu sagen: das Verfahren muß nach rechtsstaatlichen Prinzipien durchgeführt werden. Also hat die Unschuldvermutung zu gelten, bis das Gegenteil bewiesen ist. Wenn also die lettische Seite nicht nachweisen kann, daß Kononow allgemeingültige Normen verletzt hat, dann kann er auch nicht schuldig gesprochen werden.

Bei mutmaßlichen Kriegsverbrechern aus Deutschland muß ja auch in jedem einzelnen Fall bewiesen werden, daß diese nicht nur Befehle ausgeführt, sondern Entscheidungsfreiheit hatten, daß sie auch wirklich bei Massakern dabei waren und nicht gerade auf Urlaub, daß sie auch wirklich die beschuldigte Person sind und nicht jemand, der nur zufällig genau so heißt etc.

Ebenso wie Kämpfer gegen Faschismus keine Immunität für sich beanspruchen können, dürfen für sie natürlich nicht die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit außer Kraft gesetzt werden, nur weil sie zufällig Russen sind und für die UdSSR gekämpft haben.