Sonntag, August 25, 2013

Kathechismus des estnischen Nationalisten

Der Schriftsteller Jaak Urmet schreibt in Eesti Päevaleht ein Artikel mit der Überschrift: "Im Gefängnis der Vergangenheit: die nationale Gefühle der Esten sind zu stark". Seinerzeit hat Urmet sein Diplom zu dem Thema "Die nationale Erziehung für die dritte Schulstufe" geschrieben und wurde zum Autor der Lehrbücher für die estnischen Muttersprachler für die 4-6 Klassen, wo er die "nationalen Gefühle betonte - denn damals schien es notwendig zu sein". Doch nach einigen Jahren hat er die Kapitel wieder gelesen und verstand, dass sie überflüssig geworden sind, sogar gefährlich.

"Wenn man ein kaum glühendes Stück Kohle mit Brennflüssigkeit übergiesst, wird nichts passieren, aber man soll sie nicht ins offene Feuer spritzen" - schreibt Urmet. "Die übermäßig starken nationalen Gefühle machen die estnische Gesellschaft anormal, reizbar, paranoid, enttäuscht und schmerzempfindlich". Er zeigt ein typisches Beispiel: Im August 2011 haben auf dem Sängerfeld würdige Pop- und Rockgruppen die 20.-jährige Unabhängigkeitswiederherstellung mit einem Konzert gefeiert, danach schrieben die Kritiker, dass niemand nationale Lieder gesungen hätte und auf der Bühne stand ein Klavier Yamaha und nicht Estonia.

Was ist "hea" (gut) und was ist "paha" (schlecht)

"Heutzutage ist die Grundlage des nationalen Gefühls der Esten hauptsächlich die Schmach von der 1940 angefangenen sowjetischen Okkupation und die Panik bei dem Gedanken über ihre mögliche Wiederholung, schreibt Urmet. An dieser Schmach und Panik wird alles andere gemessen, von den allgemeinen historischen Fragen, bis zu dem Blick auf die Nachbarn. Es sieht folgendermassen aus:

Hitler, SS, die deutsche Okkupation und die nazistische Ideologie? Sie sind gut, denn sie wirkten gegen die sowjetische Okkupation. Die Russen? Sie sind schlecht, denn die kamen hierher mit der sowjetischen Okkupation. Die Waldbrüder? Sie sind gut, sie waren gegen die sowjetische Okkupation. Der Vernichtungsbataillion erschoss die Dorfbewohner? Das ist schlecht, denn in einem Rechtsstaat werden die Leute nur nach einer Gerichtsentscheidung exekutiert. Die Waldbrüder haben die Dorfbewohner erschossen? Das ist gut, denn im Dorf wohnten Kommunisten. Ein Este in der Uniform der Roten Armee? Er ist schlecht - ein Okkupant, hat die Dörfer vernichtet. Ein Este in der Uniform der Naziarmee? Er ist gut, Kämpfer für die Freiheit, Verteidiger der Frauen und der Kinder. Die Juden? Sie sind schlecht, erzählen der ganzen Welt über ihr Leiden, doch am meisten haben in der Weltgeschichte doch die Esten gelitten.

Und so weiter in immer genaueren Ausführungen. Ewald Okas? Er ist schlecht, er malte Lenin. Kaljo Põllu? Er ist gut, in seinen Zeichnungen gibt es nationale Motive. Juhan Smuul? Er ist schlecht - schrieb ein Poem für Stalin. Marie Under? Sie ist gut, sie schrieb keine Poeme für Stalin. Ivo Linna? Er ist ein Guter - singt auf Estnisch Volkslieder. Kerli? Sie ist schlecht - sie singt auf Englisch, aber hier ist die Staatssprache Estnisch, bei uns im Land spricht man diese Sprache. Estnische Soldaten mit Sondermissionen in anderen Ländern? Das ist gut, denn NATO wird uns zu Hilfe kommen, falls uns Russland angreifen wird. Ansip? Er ist ein Guter - er unterdrückte die Demonstration während der Bronzenen Nacht. Mart Laar? Er ist gut - ein richtiger Este. Savisaar? Er ist schlecht, seine Wähler sind Russen, also Okkupanten. Demonstrationen, Streiks? Sie sind schlecht - die richtigen Esten singen patriotische Lieder, freuen sich für ihr Land, schunkeln schön, wenn sie sich unterhaken, und schlecht leben hier nur die Okkupanten, so muss es auch sein, uns ging es in der Sowjetzeit auch schlecht, haut ab, falls es euch hier nicht gefällt!"

Zwischen den "guten" und den "schlechten" gibt es keine Zwischenfarben. Nur in solchen Kategorien denkt heute der grosse Teil der estnischen Gesellschaft. "Das ist eine besonders primitive, ungebildete, flache, dumme, blöde Sicht auf die Geschichte, die Gesellschaft, auf die Kunst und Kultur. Die Esten leben jetzt in der Dunkelheit des Hasses und dem Durst nach Vergeltung".

3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Ja, das stimmt leider, Jaak Urmet hat wohl recht.
Aber ich vermute mal, dass bald auch diese nationale Propaganda nicht mehr ernst genommen wird, genau wie einstmals der Politunterricht beim Komsomol. Ich vermute mal, dass der Rock Sommer heute schon mehr Anklang findet als das Laulupidu. Allerdings: Sehr, sehr viele Esten arbeiten im Ausland.Dort erweitern sie zwar ihren Horizont, sehen, dass die Welt nicht nur die Farben blau-weiß-schwarz enthält, aber jeder, der schon mal längere Zeit im Ausland gelebt hat, weiß, dass man nach einer gewissen Zeit seine Heimat schätzen und lieben lernt, weil das Leben im Ausland doch irgendwie nervt.
Aber was den Nationalismus natürlich am meisten am Leben erhält, sind gehässige Kommentare (u.a. auch von Kloty), die im Ton nicht stimmig sind. Z.B. wenn Kloty sich ereifert, dass es viele Staatenlose in Estland gibt, aber dafür dann gleich Estland verantwortlich machen will. Da gehe ich natürlich auch sofort auf die Barrikaden und schwinge mein blau-weiß-schwarzes Fähnlein(obwohl ich zugebe, dass es zu viele Staatenlose gibt) Und wenn ich versuche, das Problem zu erläutern, ernte ich bei Kloty nur Unverständnis.
Solange Esten das Gefühl haben, nicht verstanden werden zu wollen, wird es wohl noch läger einen estnischen (nervigen) Nationalismus geben.

kloty hat gesagt…

Hallo Anonymous,

leider finde ich nicht den Autor der Aussage (sinngemäß): Ich liebe mein Land nicht, aber ich werde es verteidigen, wenn ein Fremder es kritisiert. Ich glaube das trifft auf Dein Kommentar zu. Du weisst, dass in Estland einiges im Argen liegt, aber wenn es jemand von aussen sagt, dann verteidigst Du Estland gegen die fremden Anfeindungen. Das ist auf jeden Fall ehrenhaft. Auch ich mag es nicht unbedingt, wenn ein Fremder über Deutschland oder Bayern lästert und ich habe auch schon Estland, das ich immer als meine erste Heimat betrachte, gegen allzu dumpfe Anfeindungen verteidigt.

Ja, vielleicht klinge ich gehässig und lasse mich zu provokanten Thesen hinreissen. Vielleicht erwische ich bei meinen Rundumschlägen auch Leute, die es nicht verdienen. Ich repräsentiere ganz klar nicht die Mitte, sehe mich als recht weit links, also eine politische Richtung, die es in Estland so kaum gibt.

Mir tut es einfach weh zu sehen, wie weit Estland sich von dem entfernt hat, was ich mir unter multikulturellen, offenen, toleranten Gesellschaft vorstelle, etwas, was ich an dem Ort wo ich wohne und arbeite das Glück habe täglich zu erleben. Und noch mehr Schmerzen bereitet es mir zu sehen, dass ich auch kaum Anzeichen sehe, dass sich da was tut. Die neue politische Garde alá Reinsalu ist noch fanatischer als die alte.

Deswegen, ja, ich bin unbequem mit meinen Thesen, doch geschieht es nicht aus purem Hass auf die estnische Gesellschaft, die Esten als Volk, Sprache, Kultur oder was auch immer (diese Haltung kenne ich aus russisch-sprachigen Foren zu genüge), sondern aus echter Sorge und Liebe zu dem Land, wo ich geboren wurde und meine Vorfahren herstammen. Und was das blau-weiß-schwarzes Fähnchen angeht, das hängt bei mir auch prominent in der Wohnung.

Viele Grüße,

kloty


Anonym hat gesagt…

OK, danke für die Ausführungen!! Dann sind wir also in unseren Meinungen doch nicht ganz so weit auseinander.
Herzlichen Gruß
Carl-Jürgen Caesar