Freitag, März 20, 2015

Analyse der estnischen Parlamentswahlen 2015

Lieber später als nie, hier kommt meine Analyse der Parlamentswahlen in Estland 2015. Schon ein Jahr vor den Wahlen habe ich die Prognose abgegeben, dass IRL die stärkste Partei werden wird. Wie es aber so schön heisst, es kommt ganz anders als man denkt. Hier sind die endgültigen Ergebnisse:

Reformisten: 27,7%, 30 Sitze, -3

Zentristen: 24,8%, 27 Sitze, +1

Sozialdemokraten: 15,2%, 15 Sitze, -4

IRL: 13,7%, 14 Sitze, -9

Freie Partei Estlands: 8,7%, 8 Sitze, neu im Parlament

Konservative Partei Estlands: 8,1%, 7 Sitze, neu im Parlament

Man sieht also, dass IRL gewaltig verloren hat. Doch der rechte Flügel, der früher alleine durch IRL repräsentiert wurde hat gut gewonnen, anstatt 23 Sitze, haben die Rechten jetzt 29 Sitze. Schauen wir uns die Newcomer etwas genauer an:

Der Gründer der Freien Partei Estlands ist Andres Herkel, der IRL verlassen hat, um eine eigene konservative Partei zu gründen. Sonst gibt es zumindest unter den estnischen Mitgliedern kaum bekannte Persönlichkeiten. Die russischen Parteimitglieder sind dagegen der russisch-sprachigen Bevölkerung sehr wohl bekannt, es ist Evgeny Kristafovitch, Sergej Metlev und Eugen Zibulenko, das Trio Infernale. Kristafovitch und Metlev äußerten sich mehrfach, dass sie die russischen Schulen, deren Absolventen sie sind, am liebsten niederbrennen würden, Eugen Zibulenko träumt in seinem Privatblog, den er „Aufzeichnungen eines estnischen Bandera-Fans“ betitelt, dass Ukraine NATO Mitglied wird und die russisch-sprachige Bevölkerung als Erben der Okkupanten und fünfte Kolonne beschimpft.


Wahlvideo von Zibulenko

Die Konservative Partei Estlands ist ebenfalls eine Abspaltung der IRL, denen selbst die sehr konservative IRL nicht rechts genug war. Die Gründer der Partei sind russophoben Mart und Martin Helme. Die Jugendorganisation der Partei „Sinine Äratus“ - Das Blaue Erwachen, marschiert regelmäßig mit Fackeln am Tag der Unabhängigkeit durch Tallinn, was schon Efraim Zuroff vom Simon Wiesenthal Zentrum zum sorgenvollen Artikel in Jerusalem Post veranlasst hat.

Dass die Partei xenophob, homophob und europafeindlich ist, braucht eigentlich nicht extra betont zu werden.

Nun zum meinem Lieblingsthema E-Wahlen. 19,6% der Wähler haben ihre Stimme auf diesem Weg abgegeben. Dabei traten große Unterschiede zu den tatsächlichen Ergebnissen auf:

Reformisten: 37,5%

IRL: 17,2%

Sozialdemokraten: 16,9%

Freie Partei: 12,0%

Zentrumspartei: 7,7%

Konservative Partei Estlands: 6,9%

Wie erklärt man solche Unterschiede, die besonders gravierend bei der Zentrumspartei sind? Bisher wurde das damit erklärt, dass die Wähler der Zentrumspartei wenig internetaffin sind, weil sie älter sind. Doch dagegen sprechen Statistiken, die Altersverteilung bei den E-Wahlen zeigen:

Diese Grafik zeigt, dass mehr über 60-jährigen an E-Wahlen teilgenommen haben, als unter 24-jährigen.

Und spätestens bei dieser Grafik sollte man stutzig werden. 690 Esten, die über 90 Jahre alt sind, stimmten über Internet ab. Ich sage es mal so, meine Oma ist noch keine 90, sie hat in ihrem Leben noch kein Computer angefasst, geschweige denn im Internet gesurft. Mehr 85-89-jährigen haben ihre Stimme im Internet abgegeben, als unter 19-jährigen. Selbst wenn die absoluten Zahlen klein erscheinen, zählt in Estland jede Stimme, weniger als Tausend Stimmen reichen schon aus, um ins Parlament zu kommen, deswegen lohnt sich schon das Fälschen in kleinen Massstäben. Und das Argument, dass man seine Stimme nachverfolgen kann, gilt im Fall der 90-jährigen nicht, denn sie wissen höchstwahrscheinlich nicht mal, dass irgendjemand eine Stimme für sie abgegeben hat.

Eindeutigen Verlierer der Wahl sind die russisch-sprachigen Politiker. Zwar ist es noch nicht klar, wie das Parlament sich zusammensetzen wird, in Estland ist es populär bekannte Politiker kandidieren zu lassen, die eigentlich schon eine feste Position haben, wie EU-Abgeordneter oder Bürgermeister, und dann den Platz einem Nachzügler zu überlassen. Doch ausser zahlreichen russisch-sprachigen Kandidaten aus der Zentrum-Partei gibt es bei den Reformisten, Sozialdemokraten und IRL jeweils nur einen russisch-sprachigen Abgeordneten, bei den Neulingen wahrscheinlich gar keinen. Früher waren erheblich mehr Kandidaten bei den Reformisten und Sozialdemokraten russischen Ursprungs, aber das ist erstmal vorbei.

Vorbei ist es auch mit der Klarheit, wie die Koalition aussehen wird. Durch die neuen Parteien ist gewaltige Unruhe in die politische Landschaft reingekommen, die sehr schwierig aufzulösen sein durfte.

Reformisten und Sozialdemokraten können die Koalition alleine nicht fortsetzen. Die estnischen Sozialdemokraten sind zwar sehr rechts für eine Partei, die einen solchen Namen trägt, aber eine Koalition mit IRL oder anderen rechten Parteien ist zwar vorstellbar, wird aber sehr instabil.

Reformisten könnten versuchen eine Vierer-Koalition aus rechten Parteien zu zimmern. Doch in der letzten Regierungsperiode ging die Koalition mit IRL in Brüche, so dass es auch eine recht instabile Konstellation geben wird. Die Freie Partei ziert sich noch überhaupt zu einer Regierungspartei zu werden. Die Einbeziehung der Konservativen Partei könnte einen Aufschrei im Ausland auslösen.

Es gibt immer noch die Option der großen Koalition mit Reformisten und Zentristen, zumindest ist die Atmosphäre zwischen den Parteivorsitzenden Taavi Rõivas und Edgar Savisaar nicht so vergiftet, wie damals zwischen Andrus Ansip und Savisaar. Das Savisaar gerade mit schweren Lungenentzündung im Krankenhaus liegt, macht die Situation nicht einfacher. Es bleibt also alles offen und spannend.

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