Dieser Artikel ist in der russischen Version in rus.delfi.ee erschienen.
Im Dezember bat die Zeitschrift Vikerkaar den Journalisten Nikolaj Karaev ein Artikel über die estnischen Russen für die Ausgabe, die dem Manifest „An alle Völker Estlands“ gewidmet war, zu schreiben. Die russische Variante wird mit Erlaubnis der Redaktion des Journals publiziert. Die estnische Version kann man unter anderem auf der Seite von Vikerkaar finden.
Ich wurde geboren ohne eine Nationalität zu spüren. Ich vermute, dass wir alle so auf die Welt kommen. Die Konzeption „Ich - Russe“, „Ich - Este“ und das entsprechende Wertesystem mit den individuellen Feinheiten, erscheint später, im Prozess der Sozialisation. Unter anderen Umständen würde ich mit dem Empfinden meines Russisch-Seins aufwachsen - doch ich hatte viel Glück. Ich bin 1978 in Tallinn geboren, in der Estnischen Sowjetrepublik, in „der unzerstörbaren Union der freien Republiken“ (Zeile aus der sowjetischen Hymne, Anm. des Übersetzers), doch der bedeutende Teil meiner Sozialisierung verlief schon in Tallinn, der Hauptstadt der Estnischen Republik. In der Sowjetunion war ich die nationale Mehrheit (kann mich nicht erinnern, dass ich mich als solche gefühlt habe, doch es kann sein, dass es der Vorteil der Mehrheit ist). In der Estnischen Republik war und bin ich die nationale Minderheit, ein estnischer Russe mit allen begleitenden Spezialeffekten. Im Ergebnis wuchs ich als ein Kosmopolit auf, denn alle Spielchen mit Nationalitäten sind mir zuwider: wenn man fast alle „nationale“ Argumente genau anschaut - überall findet man irgendeine Art von Diskriminierung.
Als die Zeitschrift Vikerkaar mich bat, einen Artikel über die lokalen Russen zu schreiben, gefiel mir die Idee der Ausgabe, die dem Manifest „An alle Völker Estlands“ gewidmet ist. Andererseits habe ich nicht genau verstanden, wie man über die lokalen Russen schreiben kann. Die lokalen Russen sind verschieden, ich kann nicht für alle sprechen, keiner gab mir die Macht dazu und mein Kosmopolitismus verlangt es in einem Menschen eine Person zu sehen und nicht die Nationalität. Deswegen nehme ich mir das Recht auf captatio benevolentiae und sage, dass alles hier geschriebene meine persönliche Meinung sei. Ich bin natürlich ein estnischer Russe, doch ist es mir im Prinzip egal, als wen man mich sieht, und ich stelle mich auch unterschiedlich vor, im Westen bin ich Estonian (sonst denkt man dort ich wäre aus Russland), in Russland bin ich ein Russe aus Estland (sonst beschließt man, dass Russisch nicht meine Muttersprache wäre), und in Estland bin ich zum Beispiel eestivenelane.
Das bedeutet nicht, dass ich zu einer ideologisch einheitlichen Minderheit gehöre: die estnischen Russen unterscheiden sich stark voneinander, trotz ihrer vereinigten sozial-ökonomischen und kulturellen Situation. Man nehme zum Beispiel ihr Verhältnis zum Nationalismus. Unter uns gibt es Kosmopoliten und Nationalisten, sowohl estnische als auch russische. Es gibt solche, die unter allen Umständen die Muttersprache bewahren wollen und solche die bereit sind aus Gründen der tiefen Integration sich von ihr zu trennen. Diese Kategorien kann man noch weiter unterteilen, bis zu einem einzelnen Menschen. Wir sind kein Schwarm und kein Rudel, die hinter einem Anführer treu hinterher läuft. Wenn ein konkreter Este uns als verallgemeinernde Lasnamää empfindet (ich wohne in Lasnamää, by the way), dann beschreibt es nicht uns, sondern den konkreten Esten.
Eigentlich bin ich mir sicher, dass objektiv gesehen, es keine Nationalitäten gibt. Doch, lebt natürlich die Idee der Nationalitäten und möchte nicht sterben. Im eigentlichen Sinne ist es eine Idee der Trennung: hier sind die Leute, die mir ähnlich sind, dort sind Fremde - muulased.
Es ist wert sich zu erinnern, dass der Begriff „Nation“ in dem heutigen estnischen Verständnis historisch gesehen erst vor relativ kurzer Zeit entstand. Und auch jetzt ist dieser Begriff alles andere als klar. In welchem Moment können zum Beispiel estnische Russen zu Esten werden? Die Antwort hängt davon ab, wenn man als Esten zählen soll. Wer soll das sein? Ein Mensch, der in Estland geboren wurde / hier lebt? Derjenige, dessen Muttersprache Estnisch ist? Derjenige, bei dem zumindest ein Elternteil ein Este ist? Oder derjenige, der eine „estnische Mentalität“ hat? Doch was ist das, und der wird bestimmen, ob mein Mentalität „estnisch“ sei?
Der Kampf zweier Systeme. Alles fürs Volk, Sprache und Kultur?
Die Geschichte der estnischen Russen als einer gesonderten Gruppe, das ist nicht eine Geschichte der Gesonderten, sondern der Teiler, derjenigen, die uns als ein mehr-oder-weniger Ganzes betrachtet. Eine sehr estnische Geschichte über das nationalistische Wertesystem, das komplett die realen Personen verdeckt, das auch eine Kette von Ereignissen lostritt, die bei der estnischen Russen eine entsprechende Vorstellung über sich selbst bildet. Das ist eine Art von selbsterfüllender Prophezeiung: wenn man uns als Fremde behandelt, den muulased, und diese Behandlung auf dem Level der gesellschaftlichen Diskurses fortführt, das heisst auf dem Level der Presse und der Regierung, dann fangen wir natürlich an, uns als Fremde in diesem Land zu fühlen. Das ist das Schlechte am Nationalismus. Wenn, wie in diesem Lied von Pink Floyd, die Division Bell, die Glocke der Trennung schlägt, dringt die aufgesetzte Ungleichheit der „Eigenen“ und „Fremden“ in die Köpfe der Teilnehmer an dem Prozess, aller Teilnehmer, ohne Ausnahme. Die Russische Frage in Estland existiert in Estland zweifellos, verschiedene Leute sehen sie auf verschiedene Art und Weise. Wenn man die Ideologie ausschliesst, bleibt die Wirtschaft und ein Fakt ist unstrittig: die lokalen Russen leben schlechter als die Esten. Es bleibt der rechtliche Aspekt, die Frage der Staatsbürgerschaft und der damit verbundenen Rechte. Alle diese Probleme gäbe es nicht, wenn die Estnische Republik nicht auf dem Verständnis der „Nationalität“ aufgebaut worden wäre. Genauer, auf dem Verständnis „das estnische Volk“ als Gegensatz zu allen anderen.
Der Kern des Problems führt zu einer prinzipiellen Entscheidung zwischen zwei Ideologien: der Entscheidung, die unter anderen in einer seiner Reden Benjamin Disraeli beschrieb: „In einem sich entwickelndem Land sind die Veränderungen permanent; die wichtigste Frage ist nicht, ob man den ständigen Veränderungen opponieren sollte, doch ob diese Veränderungen mit Achtung vor Gebräuchen, Gesetzen und Traditionen des Volkes durchgeführt werden - oder mit Achtung vor abstrakten Prinzipien, als auch ausgewählten allgemeinen Doktrinen. Das erste ist ein nationales System; das zweite, wenn man es einen würdigen Namen geben muss, den es möglicherweise verdient - ein philosophisches System.“
Wie die Entscheidung zwischen dem nationalen und philosophischen Systemen in Estland durchgeführt wurden, kann man augenscheinlich beobachten: fast wöchentlich wird ein politischer oder gesellschaftlicher Akteur als Argument den Satz aus der Präambel der Verfassung zitieren, den sogar diejenigen auswendig kennen, die noch nie im Leben die Verfassung aufschlugen: der estnische Staat „wird aufgerufen die Erhaltung der estnischen Nation und der Kultur für Jahrhunderte zu gewährleisten.“ Dieses System ist laut Disraeli das nationale. Doch ist es recht selten der Fall, dass man sich erinnert, dass man in derselben Präambel ein anderer Satz steht: Estland basiert vor allem auf „Freiheit, Gerechtigkeit und Recht“; das ist das philosophische System, denn es gibt keine besondere estnische Freiheit und estnische Gerechtigkeit.
Im Fall der Beziehung zu den lokalen Russen war und bleibt die gesamte Geschichte Estland nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit ein Kampf dieser beiden Systeme. Nehmen wir mal an, eine Reihe von Politikern meint, dass für den Erhalt der estnischen Sprache es notwendig sei, das gesamte Bildungssystem der Republik einschliesslich der Kindergärten auf die Staatssprache umzustellen. Wenn diese Entscheidung beschlossen wird, ergibt sich, dass ein Viertel der Bevölkerung des Landes der Möglichkeit beraubt wird ihren Kindern eine Ausbildung in ihrer Muttersprache zu geben. Das Wort „Gerechtigkeit“ ist nicht rechtlich definiert, doch denke ich, dass selbst einem vollendetem Nationalisten - gerade ihm! - sollte klar sein: wenn man über den Verlust eines solchen wichtigen Rechts für ein Viertel der Bevölkerung spricht, dann ist es, gelinde gesagt, ungerecht.
Auf dem Level der „Rechts“ ist die Situation interessanterweise verschwommen. Laut der Verfassung „hat jeder das Recht auf Estnisch zu lernen“ und „die Ausbildungssprache in der Lehranstalt für die nationale Minderheit wird von der Lehranstalt bestimmt“, doch das Problem ist, dass der Begriff „nationale Minderheit“ in dem Gesetz über die kulturelle Autonomie eigenartig ausgelegt wird: „Unter der nationalen Minderheit werden in diesem Gesetz estnische Staatsbürger verstanden, die … langfristige, feste und erhaltende Verbindungen mit Estland haben“. Deswegen kann man sagen, dass die lokalen Russen, die hierher nach dem Jahr 1940 ankamen oder Nachfahren von diesen Personen sind, keine nationale Minderheit bilden: unsere Verbindungen mit Estland sind unzureichend langfristig und fest, auch estnische Staatsbürger gibt es unter uns nicht viele: ungefähr ein Drittel (das zweite Drittel sind Staatsbürger Russlands, das letzte Drittel Personen ohne Staatsbürgerschaft). So ist juriidiliselt on kõik korrektne, rechtlich ist alles OK. Das Prinzip JOKK in Beziehungen mit den lokalen Russen ist wichtig: der Spalt zwischen den Gesetzen und der Gerechtigkeit ist ein wichtiger Teil des Problems.
Die sowjetische Okkupation. Die historische Mythenbildung
Ich würde sagen, dass die estnischen Russen Geiseln der nationalen Ideologie der Estnischen Republik wären. Bis zu den Zeiten, bis unsere politische und ideologische Elite das nationale und nicht das philosophische System anwendet, bis das nationale Teil der Präambel wichtiger als Freiheit, Recht und Gerechtigkeit ist, ist die Hoffnung, dass alles gut wird, bei den Estländern nicht vorhanden. Ich bin ein Realist, das bedeutet ein Pessimist: es gibt zu viele Faktoren, die die Teilung Estlands auf us and them, wir und sie begünstigen und es gibt kaum Faktoren, die das Land vereinigen würden. Wer weiss, wenn der kommende Anschlag auf das estnische Staatsbudget seitens der EU stark genug sein wird, vielleicht wird unsere gemeinsame wirtschaftliche Armut uns retten? Kaum: die Gesellschaft, die in solches Leid gerät, kann mit doppelter Geschwindigkeit sich zerlegen - man muss doch einen Schuldigen finden.
Die Grundlage des nationalen Systems ist ein national gefärbtes Empfinden. Bei so einem Empfinden ist die Geschichte eine undurchdringliche Barriere für das Zusammenleben von zwei grossen Gemeinden in Estland. Die Hauptmasse der estnischen Russen ist in Estland wegen UdSSR erschienen und wird deswegen unweigerlich mit der Periode der sowjetischen Okkupation in Verbindung gebracht, die ihrerseits als etwas komplett negatives dargestellt wird. Das ist ein wichtiger Teil der ideologischen Mythenbildung, die dazu da ist, alle Fehler unserer Politiker zu rechtfertigen: das moderne Estland, wie immer es auch sei, ist gut im Vergleich zu der schlechten Okkupation.
So wird versucht die positive Aspekte der spätsowjetischen Periode (zum Beispiel Demographie und Kultur) nicht besonders zu diskutieren, der sowjetische Negativ wird hingegen betont, besonders im nationalen Kontext. Es ist die Frage der Entscheidung für das Wertesystem: waren die Deportationen ein Verbrechen gegen das estnische Volk, oder muss man sie im Kontext aller stalinistischer Repressionen untersuchen. Der Unterschied scheint gering zu sein, doch der zweite Zugang zieht das Verständnis nach sich, dass auch die Verwandte vieler Russen genauso Opfer der verbrecherischen Diktatur wurden, wie die Verwandten von vielen Esten (philosophisches System), dabei erlaubt der erste Zugang die Vermutung, dass verallgemeinerte „Russen“ ein Verbrechen gegen die Esten begangen haben und die lokalen Russen irgendwie mit den Verbrechern in Beziehung stehen (nationales System).
(Natürlich ist Estland hier keine Ausnahme: in Russland wird die Vorstellung über die Heilsbringer der jetzigen Macht auch über ein Gegensatz konstruiert, nur werden anstatt der Okkupation die 90-er Jahre als die „schlechte Periode“ angenommen. Bei allen Versuchen der Herrschenden Russland und den Westen oder Russland und Estland gegenüberzustellen sind die Strategeme der regierenden Eliten ungefähr gleich. Strategeme der binären Gegenüberstellung „us and them“ ist eins von ihnen.
Die Beziehung zu den Deportationen ist eine Frage des Empfindens, doch auch ohne Mythenbildung in der Geschichte geht es dabei nicht. Toomas Hendrik Ilves hat in einem Interview einer britischen Zeitung behauptet, es gäbe in dem sowjetischen Estland keine Restaurants. Während der Okkupation war alles schlecht; Jaak Juske schreibt im Kinderbuch „Seltsame sowjetische Zeit“ (”Imelik nõukaaeg”) darüber, dass in der UdSSR keine für alle zugänglichen Computer gab, es wird dargestellt, als ob es ein besonderer Merkmal der sowjetischen Zeit wäre, obwohl es in allen entwickelten Ländern ähnlich ausgesehen hat. Ein noch interessanterer Mythos berichtet, dass die nach Estland angekommenen Russen ein Abfall der Gesellschaft waren - siehe zum Beispiel das Buch von Lauri Vahtre „Este von aussen und von innen“ (”Eestlane seest ja väljast”), das berichtet, dass aus der Sicht der Esten diese Russen aggressiv, dreckig, dumm, faul, trinkfreudig und wenig gebildet waren. Und umgekehrt: in „Diskussionen“ über die Abschaffung von russischen Schulen und Kindergärten spricht man oft über die Okkupation, doch wird fast niemals erwähnt dass in der sowjetischen Zeit die Ausbildung auf Estnisch in Estland die Norm war. Eine lobende Ausnahme Joel Sang, in dem Artikel „Ist das der Preis der Integration?“ (”Kas integratsiooni hind?”, Zeitung Sirp, № 50/2017) fragt er: „Wünschen wir unseren Mitbürgern das, gegen was wir vor dreißig Jahren mit allen Kräften selbst bekämpft haben?“
Wirkungslose Empörung. Die Staatsbürgerschaft und noch mehr
Wenn Estland ein fast mononationaler Staat gewesen wäre, a lá Japan oder Polen, wären die Spielchen über die Geschichtsdeutung belustigend, und nur das. Doch wir sind in einer anderen Situation: es wirkt das Prinzip der selbsterfüllenden Prophezeiung. Stellen Sie sich einen lokalen Russen vor, der die Entstehung der nationalistischen Mythen über sich selbst und wie ihm gleichen beobachtet, er sieht die ganze Lüge und Heuchelei. Nur um nicht weit greifen zu müssen: nach Estland kamen meine Großmütter und Großväter, beide Großväter hatten Hochschulabschluss; meine Eltern, Ingenieur und Programmiererin, beendeten Hochschulen und arbeiteten in gemischten Kollektiven; die stalinistischen Repressionen betrafen meine Verwandtschaft. Was soll ich fühlen, wenn ich die nationalistischen Verallgemeinerungen lese und ich verstehe, dass niemand ihnen widersprechen wird, selbst wenn alle sehen, dass es eine Lüge ist? Was soll ich über die Ehrlichkeit von Politikern denken, die selbst während der Okkupation in ihrer Muttersprache lernten und jetzt dieses Recht den lokalen russischen Kindern verwehren wollen? Zu welchen Rückschlüssen kann ich kommen, wenn man mich, der in Estland geboren und das ganze Leben gelebt hat, muulane und migrant nennt?
Deswegen bin ich auch zum Kosmopoliten geworden, als ich verstanden habe, wie widerlich das ist, wenn man mich nach meiner Nationalität verallgemeinert, ich habe beschlossen, dass ich mich selbst nicht so verhalten werde. Aber das ist natürlich nur eine der möglichen Reaktionen. Eine andere ist vielleicht natürlicher: Verbitterung und die Wahl der gegenteiligen Richtung. Ehrlich gesagt, bei all meiner Geduld möchte ich gedanklich in die Augen eines estnischen Nationalisten spucken, der heuchlerisch sich wundert, dass so viele estnischen Russen der russländischen Propaganda anheim fallen. Ihr habt sie selbst dorthin gestossen, lange und andauernd wurde in ihnen Empörung und Beleidigung kultiviert; soll man sich wirklich wundern, dass die Leute empört sind und dem russländischen TV glauben, das nicht müde wird zu behaupten, dass die Russen aufgrund ihrer Nationalität beleidigt werden?
Gründe, wirkungslose Empörung bei den lokalen Russen zu empfinden gibt es und sie bleiben bestehen. Eines der ersten solchen Gründe wurde die Politik zum Thema Staatsangehörigkeit, doch ich bezweifle, dass sie eine große Rolle an und für sich spielte; viel wichtiger war dass nach der Herstellung der Unabhängigkeit, besonders in den 90-ern, als wahnsinnige Arbeitslosigkeit herrschte, Russen - sogar Spezialisten - auf der Welle des Nationalismus ungerne in estnische Arbeitskollektive aufgenommen wurden. „Wir wollen eine Estin“, „die Esten sind uns näher“, „manche von uns haben die Russen nur im Fernsehen gesehen“, all diese Argumente haben die Angehörigen meiner Familie mit eigenen Ohren gehört. Ich denke nicht, dass meine Familie „einen besonderen Glück“ hatte.
Genau solches Verhalten löste die stärkste Beleidigung aus. Man kann lange darüber streiten, inwiefern die Zuspitzung des Nationalismus in den 90-ern notwendig war. Ich selbst kann Argumente für und wider aufführen, doch die Geschichte kennt kein Konjunktiv. Es ist unmöglich zu sagen, wie unser Land geworden wäre, wenn man allen Russen die Staatsbürgerschaft gegeben hätte, und/oder das Referendum über die Autonomie von Narva irgendwelche Folgen hätte, und/oder nicht so viele Russen Estland verlassen hätten. Ich weiß das alles nicht. Doch ich vermute, irgendwie hätten wir diesen Moment auch überlebt.
Nach meinem Empfinden, in der ersten Hälfte der 2000-er gab es in dem Land Chancen, die gegenseitigen nationalen Beleidigungen zu vergessen, und eine Gesellschaft zu bauen, die auf Freiheit, Recht und Gerechtigkeit aufgebaut worden wäre. Die Wirtschaft wuchs, die Arbeitslosigkeit wurde kleiner, in solchen Fällen zieht sich der Nationalismus gewöhnlich zurück (ohne die Grosse Depression wäre Hitler nicht an die Macht gekommen). Die äußeren Umstände waren auch günstig: wir wurden Mitglieder der EU, was nur bei den wenigsten eine Abneigung hervorrief (im Gegensatz zu der Mitgliedschaft in der NATO, doch damit konnte man sich anfreunden, alle haben verstanden, dass es so und so kein Krieg geben wird). Den Mächten in Russland gefiel das alles nicht, doch bis zum Informationskrieg in der heutigen Ausprägung war es noch sehr sehr weit.
Die Bronzenen Nächte. Kampf gegen das Unbekannte
Irgendwie ging es voran. Doch dann gab es ein Ereignis, dass Estland mehr umkrempelte, als alles Vorhergewesene. Wie ich es verstehe, fand die Reformpartei, dass sie an Popularität einbüßt, deswegen wollte sie ihre Positionen verstärken. Es scheint, als wurde es beschlossen den nationalistisch denkenden Wähler von der IRL wegzulocken, oder auch so einen Wähler zu kreieren, indem man die „nationalen Gegensätze“ wieder zuspitzt. Das Feld für das Spiel stand bereit - die Wunden waren noch frisch, die Beleidigungen noch nicht vergessen, Russland agierte immer aktiver. Ich weise den Gedanken zurück, dass die Regierung irgendein Schauspiel inszenierte, doch ein Ereignis im Mai 2006 war für sie ein Geschenk des Himmels: estnische Nationalisten mit dem Anführer Juri Bem kamen am 9. Mai zum Bronzenen Soldaten, es gab eine Rauferei, die Polizei nahm ihnen irgendwarum die estnische Fahne weg. Die weitere Anfachung der Gefühle war rein technische Übung. Ein Jahr später haben die Reformisten die Wahlen gewonnen, das Land war nach den nationalen Merkmalen geteilt, der Bronzene Soldat wurde auf ein Militärfriedhof übergeführt, die „Bronzenen Nächte“ fanden statt, und die Hoffnung auf den Übergang vom nationalen System zum philosophischen System verschwand.
Noch was zu der Präambel der Verfassung: in ihrer Variante, die im Jahr 1992 beschlossen wurde, wurde nur vom Schutz des Volkes und der Kultur gesprochen. Der Zusatz über die Erhaltung der estnischen Sprache wurde später hinzugefügt. Genauer gesagt im April 2007, und wenn das ein Zufall ist, dann ein sehr symptomatischer.
Die Auffassung der „Bronzenen Nächte“ ist noch ein Tropfen in den Beleidigungsfass der lokalen Russen. Die Meinungskolumne der Zeitung Postimees „Das unbekannte russische Arschloch“ (”Tundmatu vene pätt”) beleidigte mich und solche wie mich gleich zweifach: zuerst mit der Parallele zum Unbekannten Soldaten (die Helden des Zweiten Weltkrieges werden im nationalistischen estnischen Kontext als Verbrecher verallgemeinert, oder bestenfalls als pätid, Arschlöcher), zum zweiten mit der nationalistischen Verallgemeinerung als Ganzes. Die erste „Bronzene Nacht“ mit den zerbrochenen Schaufenstern war ein internationales Ereignis: unter denen, die von der Polizei festgenommen wurden, war jeder Dritter (!) ein Este. Es ist viel einfacher im sozial-ökonomischen Koordinatensystem erklärbar: zum Ausrauben der Stadt kamen die Ärmsten, es sind mehr Russen unter ihnen, doch es waren nicht ausschließlich Russen. In der zweiten „Bronzenen Nacht“ ging die Gewalt hauptsächlich von den Ordnungskräften aus, ich war in diesen Stunden im Zentrum von Tallinn und sah alles mit meinen eigenen Augen.
Es ist schade, aber die weitere Wahrnehmung der lokalen Russen im estnischen gesellschaftlichen Diskurs (ich ergänze für jeden Fall: laut meiner eigener Wahrnehmung) baut sauf dem Mythos auf, dass die „Bronzenen Nächte“ die Tat von unbekannten russischen - und nur den russischen - Arschlöchern gewesen ist. In den vergangenen Jahren hat sich das Bild der lokalen Russen keinesfalls verbessert. Zum Teil „half“ die Wirtschaft: die Krise vom 2008 und ihre Folgen, die bis heute nicht ausgestanden wurden. Die russische Jugend hat im allgemeinen kein Problem mit der estnischen Sprache und bekam sogar konkurrenzfähige Vorteile im Dienstleistungssektor, doch „die gläserne Barriere“ ist nicht verschwunden: die Russen verdienen im Durchschnitt weniger als die Esten, die Anzahl der Russen im Staatsdienst und im Management ist verschwindend gering. Die nationalistische Erklärung dieser Fakten ist der Level der Ausbildung; über den alltäglichen Nationalismus wird nicht gesprochen.
Das Erlernen der estnischen Sprache wird zum Hauptheilmittel verklärt, das durch Magie muulased in eestlased verwandelt, doch die Realität unterscheidet sich stark von diesem Motto. Urteilend nach dem allgemeinen Diskurs ist die „Integration“ im estnischen Verständnis gleichgesetzt mit der Assimilierung: man muss nicht nur Estnisch gelernt habe, in Perfektion oder ähnlich gut, man muss auch die estnische Werte annehmen und sich mit der Assimilierung einverstanden erklären zum Wohle des estnischen Volkes und der estnischen Kultur. Dabei ist es nicht einfach die estnische Sprache zu lernen (sie zählt nicht umsonst zu den schwierigsten Sprachen weltweit, auch ist nicht überall die Möglichkeit zu sprechen vorhanden - wie sollen es die Einwohner von Ida-Virumaa machen?), in Perfektion zu lernen schaffen es nur einzelne. Dazu darf ich erinnern, dass es in Estland nicht möglich ist, offiziell eine Prüfung für die höchste Kategorie C2 abzulegen, man meint offenbar, dass nur Muttersprachler dieses Niveau erreichen können. Die Schlucht zwischen denen, die die Sprache gelernt haben und denen, die seit sie seit ihrer Kindheit sprechen ist offiziell nicht überwindbar.
Andererseits garantiert ausgelerntes Estnisch einem Menschen mit einem russischen Nachnamen nicht den Arbeitsplatz, denn „die Esten sind uns näher“. Darüber sprach wiedermal im November 2017 auf der Integrationskonferenz MISA Evgenij Ossinovski, der Nationalismus nicht vom Hören-Sagen kennt: er spricht Estnisch perfekt und ist ein Staatsbürger, doch bleibt er für Jürgen Ligi „der Sohn einen Immigranten“. Im nationalen System ist die Schlucht per Definition nicht überwindbar.
Russische Spiegelbilder. Der Kampf geht weiter
Ja, Ligi und der Mitarbeiter von Kaitselit Urmas Reitelmann mussten nach ihren nationalistischen Aussagen den Arbeitsplatz wechseln, doch haben beide wenig verloren. In unserem gesellschaftlichen Diskurs bleibt der aggressive Nationalismus durchaus gesellschaftsfähig. Genau deswegen, wenn man über die Russen spricht, Estnisch zu lernen und danach die Werte diesen gesellschaftlichen Diskurses anzunehmen klappt bei uns nicht. Derjenige, der die Sprache gelernt hat und die Zeitungen und Internetportale zu lesen anfängt, entdeckt für sich, dass in Estland ein Level des Nationalismus akzeptabel ist, der nirgendwo sonst in zivilisierten Welt möglich ist.
Eines der empörendsten Beispiele: 2015 sagte auf Vikerraadio Urmas Sutrop buchstäblich, dass „wenn vor ein paar Jahrzehnten im Radio berichtet wurde, dass jemand in einer bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam und der Mensch einen russischen Nachnamen hatte, dann haben wir uns fast gefreut; jetzt gibt es so was nicht mehr“. Was soll ein Russe fühlen, wenn er so was liest oder hört? Wirklich, gar nichts?
Die Presse und der Staat gaben und fahren fort viele solche Signale zu geben, die eine wirkungslose Empörung noch verstärken. Das ist teilweise der Grund, warum eine schärfere Reaktion auf antixenophobe Aussagen erfolgt, die nichtsdestotrotz die estnischen Russen zwingen, sich daran zu erinnern, dass man auf sie hier wie auf Menschen zweiter Klasse runterschaut. Erinnern wir uns an den Skandal um das Buch von Mihkel Raud „Eine Enzyklopädie des Esten“ (”Eestlase käsiraamat”), in der es einen Abschnitt „Der Este spricht über den Russen“ gibt, mit einem klassischen tibla am Ende.
Natürlich war der gesellschaftlicher Diskurs nach den „Bronzenen Nächten“ nicht komplett einheitlich (dann erschienen in den estnischen Massenmedien, unter anderem auch in Vikerkaar Artikel mit Aussagen, die meinen ähnlich sind) sie sind auch jetzt nicht einheitlich (gerade jetzt las ich die Meinungen von Ivan Makarov und Mikka Pärnits für und wider des nationalen Staates). Es ist schwer rein statistisch die Anteile des nationalen und des philosophischen Systems zu bewerten. Doch emotional gesehen, je ungerechter ein Text ist, desto stärker schlägt er auf dich ein.
Das Verhältnis zwischen Gut und Böse ist im gesellschaftlichen Diskurs nicht mal so wichtig. Viel wichtiger sind die Antworten auf die Fragen: „Was erlauben sich die Massenmedien?“ und „was ist für den Leser akzeptierbar?“
Die Situation hat sich im Angesicht der Ereignisse in der Ukraine und einem vollwertigem Informationskrieg noch mehr verkompliziert. Das Hauptgesetz des Informationskriegs ist einfach: „Nichts macht uns so ehrlich, wie das fremde Verbrechen“. Den estnischen Machthabern hat der Informationskrieg erlaubt die vorherigen Taten zu rechtfertigen. Die Polarisierung der Welt entlang der Achse „liberaler freier Westen - totalitärer östlicher Nachbar“ hat es erlaubt erneut über die Existenz der fünften Kolonne in Estland zu reden. Die nächsten Wahlen und die Notwendigkeit des Kampfes gegen die potentielle Verräter haben die Drehgeschwindigkeit der nationalistischen Walzen erhöht: die Reformisten spielen erneut die Karte der Abschaffung der Ausbildung in russischen Sprache (es scheint es ist die letzte Karte des „russischen Kartenstapels“, doch es ist die stärkste), und die estnischen Russen verstehen, dass man sie nicht in Ruhe lassen wird, bis die Assimilierung vollendet wird.
Das Problem ist, dass die Beziehung zu den lokalen Russen hauptsächlich von Ängsten regiert wird, nicht des estnischen Volkes, nein, eher (wie ich hoffe), einer kleinen Gruppe der Esten, die sich für vollwertige Vertreter diesen Volkes ausgeben, die, wie man in der Sowjetzeit sagen würde, das völkische Leid ausdrücken und die „die öffentliche Meinung“ zu bilden versuchen. Die Russen in Estland - das sind keine Persönlichkeiten. Eher sind wir alle zum Spiegelbild des estnischen Nationalismus geworden.
Darüberhinaus, nach dem April 2007, den man, wie ich bereits schrieb, eher im Wertesystem des Klassenkampfes erklären kann, gibt es in Estland keine Anzeichen für eine fünfte Kolonne, nicht mal im Nord-Osten. Nachdem alle „russischen Parteien“ sich zerstritten und ausstarben, gab es keine ernsthafte Versuche den russisch-sprachigen Wähler zu mobilisieren. Russische Politiker ziehen es vor auf die politische Bühne durch die Parteien mit hauptsächlich estnischen Führung zu gelangen, auch wenn die Zentristenpartei, die nach dem Umbau des Elektorats im Jahr 2007 noch am meisten mit den Russen arbeitet, hier die logische Wahl ist. Der Erfolg von Yana Toom und Mihael Kõlvart soll nicht außergewöhnlich erscheinen. Der Kampf setzt sich fort, der Kampf gegen solche wie ich und solange das nationale System siegt und die Gerechtigkeit verliert, bleibt es zu tun, was möglich ist, unter anderen für diejenigen zu stimmen, die zumindest den Russen aus nationalen Prinzipien keinen Schaden zufügen werden. So einfach ist das.
Vielleicht wäre es richtig wie Émile Zola zu rufen: ”J’accuse!”, ”Ich klage an!”, doch nach einem Vierteljahrhundert ist selbst der Wunsch ausgebrannt. Ich (und ich denke, die Mehrheit solcher wie ich) verstehen, dass es während unseres Lebens sich wenig ändern wird. Man kann nicht so einfach vom nationalen zum philosophischen System wechseln, besonders in unseren sowohl inneren als auch äusseren Bedingungen. Es wird keine Assimilierung, keine Integration und keine Revolution geben. Im besten Fall wird es Jahre und Jahrzehnte kalter Wut geben, solange das Echo der Glocke der Spaltung nicht verstummt. Irgendwann in irgendjemanden. Und solange werden wir leben und zurückschlagen, solange es gelingt.