Freitag, März 16, 2007

Estnische Wirtschaft von einem Nichtvolkswirtschaftler für Nichtvolkswirtschaftler erklärt

Ich habe nie wirklich Volkswirtschaftsvorlesungen gehört, aber ich denke mit etwas Allgemeinbildung ist es auch ganz interessant einen Blick auf die aktuellen Zahlen der estnischen Volkswirtschaft zu werfen und ein bisschen Kaffeesatzleser zu betreiben, zu was es denn alles führen wird. Alle, die mehr Ahnung von der Materie haben, sind herzlich willkommen, mich zu widerlegen.

Schauen wir doch ein paar Zahlen an. Das estnische statistische Department hat gemeldet, dass das der Bruttoinlandsprodukt 2006 satte 11,4% betragen hat. Wenn man die Daten von CIA Worldbook of Facts ranzieht, sieht man dass Estland damit unter den 10 am schnellsten wachsenden Wirtschaften weltweit befindet. Wie kommt denn dieser enorme Wachstum zu Stande? Die Binnennachfrage wuchs um 15,1%, der Aussenhandel um 10%, der Import um 14,7%. Der Leistungsbilanzdefizit beträgt ca. 12%, das bedeutet, dass mehr Waren importiert, als exportiert werden.

Diese Zahlen sagen aus, dass estnische Bevölkerung gerade sehr konsumorientiert eingestellt ist. Die inländische Wirtschaft hält mit der Nachfrage nicht schritt, bzw. produziert Waren, die nicht für estnisches Konsum geeignet sind. Woraus besteht denn die estnische Wirtschaft?

Die Landwirtschaft trägt 11% zu dem Bruttoinnenprodukt, die Industrie 28% und der Dienstleistungssektor die restlichen 69%. Die Industrie fertigt hauptsächlich Halbfabrikate, die ins Ausland zur Weiterverarbeitung exportiert werden. Die größte Produktionsfirma in Estland ist Norma, die Sicherheitsgurte für Autos produziert, die alle exportiert werden, da Estland keine Automobilfabrik hat. Dasselbe gilt für die holzverarbeitende Firmen. Wie jeder Zwischenverarbeiter bestätigen kann, werden die grossen Gewinne nur am Ende der Produktionskette generiert, ansonsten versucht der Endproduzent die Lieferantenkette so weit wie möglich zu optimieren, so dass die Gewinnmargen der Zwischenverarbeiter recht klein sind. Warum das wichtig ist, sehen wir später. Estland ist auch ein Transitland für russische Waren, die per Eisenbahn oder LKW zu einem der estnischen Häfen geleitet werden, wo sie auf dem Schiffsweg weiter transportiert werden.

Im Dienstleistungssektor sind Finanzwesen, ITK und Tourismus die wichtigsten Zweige. Starkes Finanzwesen und der Fakt, dass nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Bauwirtschaft zum Erliegen kam (von jährlichem Zuwachs der Wohnfläche in den 80ern Jahren um 60000m^2 fiel dieser Wert auf nahezu 0 in den 90ern und ist momentan unter 10000m^2), führte zu einem anderen Effekt, der starken Einfluss auf estnische Volkswirtschaft hat, nämlich Explosion der Immobilienpreise. Die teuersten Objekte werden zu Preisen von 100000 Kronen/m^2 verkauft, das sind 6410 EUR/m^2 (zum Vergleich Eigentumswohnungen in Köln und Düsseldorf (deutsche Spitzenreiter) kosten 5000 EUR/m^2). Günstige Finanzierungsangebote ermöglichen Kauf selbst solcher komplett überteuerter Immobilien. Was dadurch natürlich steigt, ist die Verschuldung der Bevölkerung.

Damit wären wir bei den Gefahren, die der estnischen Wirtschaft in der nahen Zukunft drohen angelangt. Niedrige Zinsen ist nicht der einzige Anreiz, einen hohen Kredit aufzunehmen. Weiterer Anreiz ist Garantie, dass der Kaufobjekt nicht an Wert verliert, so dass man es notfalls wieder zum höheren oder mindestens dem gleichen Preis wieder verkaufen kann. Also muss der Immobilienboom immer weiter angeheizt werden. Bei sinkender Bevölkerung eher kein leichtes Unterfangen. Wenn die Preise für Immobilien sinken und womöglich der Schuldner sich überschätzt hat und die Kredite nicht zurückzahlen kann, wird sein Pfand (nämlich die Immobilie) viel weniger Wert sein, als das Kredit, so dass die Bank das Kredit abschreiben muss (sogenanntes faules Kredit). Passiert das in grosser Zahl, kann es für die Bank bedrohlich werden.

Eine weitere Voraussetzung für die Aufnahme eines Kredites ist die Annahme, dass die persönliche Zukunft des Kreditnehmers ausreichend gesichert ist. Auf den ersten Blick ist das tatsächlich der Fall. Die Arbeitslosenquote beträgt in Estland 4.5%, es herrscht quasi Vollbeschäftigung. Ausserdem hilft eine höhere Inflation von 5% die Schulden schneller abzubauen. Das Problem dabei ist, dass mit so einer hohen Inflation Estland nicht in näheren Zeit ein Mitglied der Eurozone werden kann, was eine weitere Annäherung an die europäische Wirtschaft zumindest erschwert. Und ein weit schärferes Problem ist, dass bereits jetzt ein klarer Arbeitskräftemangel in Estland vorherrscht. Das hat zwei Effekte. Erstens steigen die Löhne überproportional, jedenfalls viel schneller als die Produktivität, so dass die estnische Waren auf den Weltmärkten immer weniger konkurrenzfähig werden (die Lieferantenketten können schnell auf günstigere Konkurrenten umgestellt werden). Zweitens führt der Mangel an Arbeitskräften, dass die Inventionen aus In- und Ausland ausbleiben, was der estnischen Wirtschaft einen erheblichen Schlag versetzen könnte. Gerade der Mangel an IT-Experten könnte sogar estnische IT-Firmen ihre Geschäfte nach Russland oder Indien outsourcen.

Ein weiteres Problem ist recht kurzsichtige estnische Politik, die zwar Finanzwirtschaft stützt und von ihr unterstützt wird, andere Wirtschaftszweige werden von ihr aber in Mitleidenschaft gezogen. Durch eine Verschlechterung der Beziehungen zu Russland, warnt die Transportwirtschaft vor Zusammenbruch ihres Hauptgeschäftes. Die Grenzpunkte haben zu niedrige Kapazität für die Abfertigung des LKW-Verkehrs, eine zusätzliche Brücke über den Fluss Narva wird nicht gebaut, der Grenzvertrag wurde (in Unterschied zu Lettland) nicht geschlossen und die komplett veraltete Eisenbahn wird nach Reprivatisierung nicht erneuert. In der Zwischenzeit bauen die Russen an der Ostsee Ölterminals und die Letten vergrössern die Transitkapazitäten, so dass Estland bald auf dem Trockenen sitzen bleiben könnte. Ebenso könnte die Exportwirtschaft leiden, ein Grossteil der Sicherheitsgurte der Firma Narva geht an russische Autohersteller, die jedoch schon von russischen Politikern aufgerufen werden, russische Lieferanten zu bevorzugen.

Das estnische Staatsbudget ist zwar in Profizit, aber die Wahlversprechen, die während der letzten Wahlen gegeben wurden, werden das sicher ändern. Die bereits niedrigen Einheitssteuern werden noch weiter auf 18% gesenkt, die Renten um 20% erhöht. Der Staat wird seiner Handlungsfähigkeit und der Möglichkeit selbst zu investieren beraubt.

Wie man sieht, ist jeder Zweig der estnischen Wirtschaft auf eigene Art gefährdet: die Banken durch das Abflauen des Immobilien-Booms, die IT-Wirtschaft durch den Mangel an hochqualifizierten Arbeitern, die Tourismusindustrie durch den Mangel an niedrigqualifizierten Kräften, die Fertigungsindustrie durch die steigende Gehälter und die Transportwirtschaft durch eine russland-unfreundliche Politik. Was kann/muss also getan werden?

Estland braucht Einwanderung. Durch den zusätzlichen Bedarf an Wohnraum, bleiben die Preise für Immobilien zumindest stabil. Zusätzliche Arbeitskräfte drücken die Arbeitspreise, so dass die estnischen Unternehmen wieder konkurrenzfähiger auf dem Weltmarkt werden. Hochqualifizierte Spezialisten erhalten den Ruf Estlands ein hochtechnisiertes Land zu sein. Servicepersonal ermöglicht weitere Entwicklung von Tourismusindustrie.

Allerdings ist die Frage der Einwanderung ein wunder Punkt in estnischen Geschichte. Bis zum heutigen Tage besteht ein drittel der Bevölkerung Estlands auf russisch-sprachigen Einwanderern, die während des letzten Wirtschaftsbooms im sowjetischen Estland in den 50-60ern Jahren eingewandert sind. Es wurden zahlreiche Gesetze und Verordnungen erlassen, um diese Gruppe in die estnische Gesellschaft zu integrieren, doch wenn eine neue Einwanderungswelle über Estland rüberschwappt sind alle diese Gesetze, alle Sprachkommissionen hinfällig, denn es ist nicht realistisch von den neuen Einwanderern zu verlangen estnische Sprache und estnische Kultur zu erlernen. Die Angst vor dem Verlust derselbigen ist so gross, dass manche eher ein Absacken der Wirtschaft in Lauf nehmen, anstatt neue Einwanderer.

Normalisierung der Beziehungen zu Russland. Trotz der zahlreichen Verflechtungen mit den skandinavischen Ländern darf Estland nicht den grossen Nachbarn übersehen und die vielfältigen Möglichkeiten der wachsenden russischen Wirtschaft nutzen. Auch darf nicht vergessen werden, dass Estland höchstgradig abhängig von russischen Energielieferungen ist. Durch die Erweiterungen der Kapazitäten der Transitpunkte an der Grenze, Unterzeichnung des Vertrages über die russisch-estnische Grenze und Modernisierung der Verkehrsinfrastruktur (insbesondere der Eisenbahn) kann Estland ihre einzigartige Verkehrslage voll ausnutzen.

Stoppen und Umkehren des Auswanderungstromes. Trotz niedriger Arbeitslosigkeit und rasant steigenden Löhnen, verlassen viele junge und hochgebildete Leute Estland. Die Ursachen müssen festgestellt und beseitigt werden. Gerade auf diese Leute kann estnische Wirtschaft am wenigsten verzichten.

Stärkung der Wirtschaftszweige, die Endprodukte für Verbraucher produzieren. Dadurch müssen weniger Waren importiert werden, so dass der Aussenhandelsdefizit geringer wird.

Verbindlicher Termin zur Einführung des Euros festlegen. Nachdem letztes Jahr die Möglichkeit verpasst wurde den Euro als Währung einzuführen, gibt es nicht mal einen Fahrplan, wann Estland den Euro einführen möchte und welche Anstrengungen dafür getan werden müssen.

Alle diese Massnahmen sollten Estland helfen, weiterhin die fantastische Wirtschaftserfolgsstory fortzuführen, die allen Bürgern nutzt und Estland als Musterland der EU darstellt.

2 Kommentare:

kloty hat gesagt…

Meine Rede :-)

Anonym hat gesagt…

Also ich war letzten Sommer in Estland auf Wandertour, habe leider gar keine Volkswirtschaftlichen Kenntnisse aber kann diesen Kredit-auf pump leb wahn nur bestätigen, es schien mir so als ob jeder Bauer einen Sportwagen besitzen würde. Ein deutscher Einwanderer erzählte mir auch, dass er durch das aufnehmen eines Kredites sogar noch Gewinn machen würde wegen der hohen Inflationsrate.