Im Mai direkt nach den Bronzenen Nächten wurden die Befürchtungen gross, dass Russland wirtschaftliche Sanktionen gegen Estland verhängen könnte. Offiziell kann sich Russland zwar diesen Schritt nicht erlauben, in Rücksicht auf die EU und mit der Aussicht auf die Aufnahme in WTO, doch wurde erwartet, dass inoffiziell entsprechende Verordnungen erlassen werden. Estnische Politiker haben vorsorglich vorgerechnet, dass die Wirtschaftsleistung des Transitverkehrs ca. 3-4% des Brutto-Inland-Produktes Estlands beträgt und Russland ein eher unwichtiger Handelspartner ist. Unmittelbar schien es keine Auswirkungen zu geben, zwar haben einige russische Handelsketten lautstark verkündet estnische Waren aus dem Sortiment zu nehmen, aber der Transit schien nicht abgenommen zu haben. Doch erst jetzt fängt man die vollen Auswirkungen der Wirtschaftskrieges (und ich nenne es bewusst Wirtschaftskrieg) zu spüren.
- Zuerst ein Beispiel aus meinem Bekanntenkreis. Er hat versucht in einem russischen Versandhandel als Privatperson elektronische Bauteile zu bestellen, was jahrelang ohne Probleme möglich war. Jetzt hat die russische Post sich geweigert Postsendungen nach Estland zuzustellen.
- Die Lastwagenschlangen an der russisch-estnischen Grenze dauern 9 Tage. Eine Lastwagenladung von Estland nach Moskau überzufahren kostete früher 20000 Kronen, jetzt kostet solch eine Überfahrt 40000 Kronen.
- Russischer Zoll soll eine Liste bekommen haben, auf der 29 estnische Transportfirmen verzeichnet sind (King Cargo OÜ, Tarmo Trans OÜ, Autobaas OÜ, Transiitveod AS, Veles Avto OÜ, Logolos OÜ, Raku Transpordi OÜ, Viva Trans OÜ, Murin OÜ, Allante Transport AS, Massiner OÜ, Mortimer Grupp OÜ, Astep OÜ, Hermor OÜ, Levekol AS, Triolena OÜ, Solidago AS, Oma Auto OÜ, Krotona OÜ, MNC Transport OÜ, Vjana OÜ, Veovägi OÜ, Ortal OÜ, Paniver OÜ, Ritolan OÜ, Legerotti OÜ, Ferry Ins OÜ, Pärnu Auto ETM OÜ, Järwa Trans OÜ), wobei die Liste dauernd erweitert wird. Die Lastwägen dieser Firmen werden an der Grenze besonders gründlich überprüft. Die Überprüfung dauert 2-3 Tage und kostet dem Fahrer 16000 Rubel. Wenn die Überprüfung in Ordnung war, darf der Lastwagen bis zum Zollamt des Zielortes nur in Begleitung eines Spezialkonvois fahren. Solche Konvois werden nicht jeden Tag zusammengestellt, was wieder zur Verzögerung führt. Beim Zollamt des Zielortes wird der Lastwagen erneut geprüft. Und erst nachdem die Ware versteuert und verzollt wurde, kann sie an den Empfänger geschickt werden.
- Druck wird auch von der Seite der Steuerinspektion gemacht. Es gibt Berichte, dass russische Businesspartner sich zurückziehen, wenn sie erfahren, dass sie mit einer estnischen Firma zu tun haben. Als Konsequenz wird versucht die Firma in einem anderen Land z.B. in Finnland oder in Litauen zu registrieren, was Zeit und Geld kostet.
- Unter den am meisten Betroffenen ist die estnische Eisenbahn, deren Hauptgeschäft bis jetzt Transit auf der Ost-West Achse gewesen ist. Im Vergleich zum Anfang des Jahres hat die (erneut verstaatlichte) Eisenbahn bis zu 40% weniger Waren transportieren können. Als Konsequenz werden voraussichtlich 200 Mitarbeiter entlassen.
Alle diese Beispiele schädigen estnische Wirtschaft viel mehr als der Cyberkrieg, der von der Parlamentsspeakerin Ene Ergma mit einer atomaren Explosion verglichen wurde und den der Verteidigungsminister schon als einen bewaffneten Angriff auf einen NATO-Staat definierte. Doch in diesen Fällen bleibt die estnische Regierung merkwürdig still, kein Kommentar, keine Bitten um Unterstützung, keine lauten Aussagen, nichts. Warum ist das so? Vielleicht weil man wider jeder wirtschaftlichen Vernunft alles versucht, so wenig Kontakte mit Russland wie möglich zu haben? Weil viele der Beschäftigten in Transit selbst Russen sind und so am meisten von den Entlassungen betroffen werden? Vielleicht lag der Sinn des lauten Gebärens während der Cyberattacken ganz wo anders, nämlich in der Einrichtung eines NATO-Kompetenzzentres für Internet-Attacken in Estland? Natürlich liegt die Hauptverantwortung für die Blockade bei Russland, wo Politik ihre nationalistische Karte ausspielt und damit bei der Bevölkerung auf volle Zustimmung stößt, doch scheint in diesem Fall die estnische Regierung mitzuspielen, obwohl ein lautstarker Protest und Druck auf EU und andere Wirtschaftsverbünde hier mehr als angemessen wäre.
Der Fall Nord Stream
Eine neue Front hat sich gerade erst eröffnet. Am 20. September hat die estnische Regierung dem Konsortium Nord Stream offiziell die Erlaubnis verweigert, Gewässer in der estnischen ausschliesslichen Wirtschaftszone zu erkunden, weil bei der Erkundung Hinweise auf den Umfang der Bodenschätze am Meeresboden und ihre Nutzung geben könnte. Wie es aussieht wurde die Hoffnung noch nicht begraben Öl im Finnischen Meerbusen zu finden. Um zu verstehen, warum eine solche hanebüchene Begründung notwendig wurde, muss man die Definition der "Ausschliesslichen Wirtschaftszone" begreifen. Der Unterschied zu den Hoheitsgewässern, die lediglich 12 Seemeilen betragen, und in denen alle Gesetze des Staates gelten, ist, dass in der 200 Seemeilen umfassenden Wirtschaftszone der Staat zwar ein Vorrecht auf die wirtschaftliche Nutzung hat, also Fischerei, Nutzung der Bodenschätze, aber kaum ein Recht hat, Verlegung von Kabeln oder Röhren zu verbieten, es sei denn, seine Wirtschaftsinteressen werden dadurch beeinträchtigt. Deswegen wurde es notwendig eine Erklärung zu finden, wie die Erforschung des Meeresbodens für Gaspipeline unmittelbar auf die estnische Wirtschaft Einfluss haben könnte. Mit dieser Entscheidung, die übrigens der Empfehlung des Aussenministeriums widerspricht, stösst Estland vor den Kopf nicht nur der Nord Stream AG mit dem Vorstandsvorsitzenden Gerhard Schröder und der Muttergesellschaft Gazprom, sondern auch allen EU-Ländern, die an die Gaspipeline angebunden werden wollen (zur Zeit sind es Deutschland, Dänemark, die Niederlande, Belgien, Großbritannien und Frankreich, ausserdem gibt es Planungen Lettland einzubinden). Estland verspielt jede Chance sich an den Planungen zu beteiligen, bei der Durchführung des Projektes sich einzubringen (was finanziell durchaus lukrativ ist) und beim Betrieb der Pipeline einen Servicehafen zu bekommen, was durchaus in Gespräch war. Aber das passt zu allem obenbeschriebenen sehr genau. Der Wunsch möglichst keine Wirtschaftsbeziehungen mit Russland zu haben ist größer, als jede Chance die Ökonomie des Landes zu stärken.
Auszüge aus dem Interview mit dem estnischen Akademiker Michael Bronstein, der von 1991-1995 als Wirtschaftsberater in der estnischen Botschaft in Moskau gearbeitet hat und dessen Spezialgebiet Logistik und Transit sind. Das Interview erschien bevor die Entscheidung der estnischen Regierung über die Anfrage von Nord Stream bekannt wurde:
- Wie beurteilen sie den Zustand des estnischen Transits im Vergleich zum letzten Jahr?
- Vor einem Jahr waren wir das am weitesten entwickelte Transitland unter den baltischen Ländern. Der durch Estland gehende Transitverkehr hat sich am dynamischsten entwickelt. Das hatte Vorteile sowohl für Russland, als auch für Estland. Russland hatte Vorteile, weil als ich in der estnischen Botschaft in Moskau gearbeitet habe und der Premier-Minister Tiit Vähi war, haben wir mir Russland ein Abkommen geschlossen, in dem wir einen zollfreien Transit angeboten haben.
- Wie beurteilen Sie die Aussagen einiger unsere politisch Aktiven, dass der Anteil der Transits an unserem Bruttoinlandsprodukt nicht bedeutsam ist?
- seinerzeit hat auch Andrus Ansip behauptet, dass nach der Beurteilung der Experten der Anteil 3-4 Prozent beträgt. Vor kurzem erschien ein Artikel in Postimees von dem Experten Raivo Vare, wo er über komplett andere Zahlen spricht. Tõnis Palts schreibt, dass er 5-10 Prozent beträgt, aber auch er untertreibt. Transit ist nicht nur Warenfluss, aber auch das was man bei euch in Ida-Virumaa erzeugt und exportiert auf der Basis der russischen Rohstoffe. Transit sind auch die Geldflüsse und logistische Systeme. Wenn man alles in Betracht zieht was uns mit Russland verbindet, dann wirkt unser östlicher Nachbar auf 25-30% unseres BIPs aus. Das wir jetzt ca. die Hälfte des Transits verloren haben, hat sich gleich auf einer rasanten Verlangsamung des Wachstums unseres BIPs gezeigt. Transit ist eine Balance der Wirtschaft, der besonders wichtig ist im Umfeld der bei uns anfangenden wirtschaftlichen Depression.
- Kann man diese Sanktionen seitens Russland, als staatlich verordnete wahrnehmen?
- Offiziell hat Russland keine Sanktionen erlassen, aber durch bestimmte Kanäle wurden entsprechende Verordnungen erlassen, dass die russischen Transfers und Kapital Estland verlassen sollten, da es ein unfreundlicher Staat ist. Umfragen zeigen, dass 60 Prozent der Russen Estland als ein feindliches Staat ansehen.
- Das ist hauptsächlich ein Ergebnis der Propaganda...
- Natürlich ist das ein Ergebnis der Propaganda. In Russland sind Wahlen vor der Tür, öfters dominiert Politik über Business - wie in Russland, so auch bei uns. Aber wir geben ständig Gründe für Russland für die Durchführung dieser Schritte.
- Also ihrer Meinung nach in schlechten estnisch-russischen Beziehungen immer ist hauptsächlich Estland schuld?
- Beide Seiten sind schuld. Wie bei uns so auch in Russland gibt es Politiker, die Karriere durch Entfachung zwischennationaler und zwischenstaatlicher Konflikte bauen. Aber es sollten wirtschaftliche Interessen dominieren. Wir mussten unsere politische Unabhängigkeit wiedererlangen, mussten der EU beitreten, aber es bedeutet nicht, dass wir unseren östlichen Markt verlieren sollten. Lettland, zum Beispiel war zuerst viel kritischer Russland gegenüber eingestellt als Estland und sie haben auch Probleme bekommen. Doch hat Lettland ihre feindliche Rhetorik Russland gegenüber aufgegeben und fängt gerade an die Sahne des Transits abzuschöpfen. Und nicht nur den russischen, sondern auch den chinesischen.
- Und was sollten wir tun?
- Zuerst unsere geopolitische Lage begreifen. Nach der Expertenbewertung eine richtige Nutzung der Brückenfunktion zwischen Ost und West erhöht unser Ressourcenpotential um 30 Prozent. Wenn wir uns in europäische Sackgasse verwandeln, verlieren wir 30 Prozent. Wenn ich die letzten Aussagen von Andrus Ansip lese, sehe ich, dass sie viel ausgewogener geworden sind, als die früheren. Zum Beispiel auch diejenigen, die die Verlegung der Gaspipeline durch das Wirtschaftsgewässer Estlands angeht (wie gesagt, das Interview wurde vor der Entscheidung geführt. Anm. des Übersetzers).
- Waren Sie Teil der Gruppe der estnischen Akademiker, die das Projekt der Gaspipeline kategorisch verneint haben und der Meinung sind, dass Estland es nicht erlauben sollte die Pipeline in ihrem Wirtschaftsgewässer durchzulegen?
- Nein, auf keinen Fall. Übrigens ist es nicht Entscheidung der Akademie der Wissenschaften. Die Rede ist von einer kleinen Gruppe von Akademikern, die von von mir geschätztem Akademiker Endel Lippmaa geleitet werden, und über die ernsthafte Risiken, die die Umwelt betreffen, sprechen. Gleichzeitig bieten alle drei baltischen Länder an, die Pipeline quer durch ihr Territorium zu verlegen - wäre das ohne Risiko? Russland hat abgelehnt, weil es traurige Erfahrungen mit Weissrussland und Ukraine hat.
Ein Nachtrag zum Artikel über Energieversorgung Estlands. Ich habe diesen interessanten Artikel gefunden (bei Interesse kann ich ihn übersetzen). Vielleicht sollte sich Estland genauer mit dieser Möglichkeit auseinandersetzen, Kohle auf Spitzbergen abzubauen?
Samstag, September 22, 2007
Stell Dir vor es ist Krieg und keiner merkt's
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