Sonntag, Januar 11, 2009

Presseübersicht und Kommentar

Am 5. Januar wurde endlich der langerwartete Richterspruch im Prozess gegen die "Bronzenen Vier" gefällt: nicht schuldig.

So eine Gerichtsentscheidung kam komplett unerwartet für die Mehrheit der estnischen Politiker. Dementsprechend heftig fielen die Reaktionen aus. Während von Ministerpräsident Ansip keine Stellungnahme zu bekommen war, präsentiere ich eine kleine Auswahl aus der Presse, was die einzelnen Personen zu sagen hatten:

Mitglied des estnischen Parlaments Urmas Reinsalu von der Isamaa-Partei schreibt in seinem Blog, dass zumindest indirekte Beteiligung an der Organisation der Unruhen durchaus nachgewiesen werden kann, deswegen kann er nur begrüßen, wenn die Anklage in Revision geht.

Für Marko Mihkelson verletzt das Urteil das Gefühl für Gerechtigkeit des estnischen Volkes.

Staatsanwältin Triin Bergman sagte, dass ihrer Meinung nach in der Urteilsbegründung die rechtliche Argumentation gefehlt hat. Es hat an Beweisen gefehlt, dass die Unruhen wegen den Anstiftung der Angeklagten ausgebrochen sind. Deswegen wird sie in Revision gehen.

Der Innenminister von der Sozialdemokratischen Partei Jüri Pihl rät davon ab jetzt schon irgendwelche Schlüsse zu ziehen. Auch er hofft auf ein anderes Urteil in der Revision.

Der Politologe an der Tartuer Uni Raivo Vetik berichtet, dass in einer Umfrage viele Esten sich von dem Urteil schockiert fühlen, weil die Schuldigen nicht gefunden wurden. Jedoch ist dieser Urteil gut für die Integration, da dieser Urteil die Meinung der russisch-sprachigen Bevölkerung über die Unabhängigkeit der Gerichte von der Politik verbessern sollte.

Die Partei Volksunion sieht die Schuld bei der Geheimpolizei KAPO, die es nicht geschafft hat, genügend Beweise für die Schuld der Angeklagten zu finden. Ausserdem hat es die Staatsanwaltschaft nicht professionell gearbeitet und hat eine unvollständige Beweisführung dem Gericht vorgelegt. Die Verantwortung dafür sollten der Minister der Justiz und der Innenminister übernehmen.

Ihre Unzufriedenheit mit der Arbeit der Rechtsorganen der Republik hat auch der Parlamentsmitglied von der Reformpartei Igor Grjazin und der Soziologe Andrus Saar geäussert.

Für den Sozialdemokraten Eiki Nestor ist es klar, dass jemand den Befehl geben musste, sich zu versammeln, Vitrinen einzuschlagen und Läden auszuräumen.

Der Vorsitzende der Rechtskommission des Parlaments Ken-Marti Vaher von der Isamaa-Partei gibt die Schuld der Richterin Violetta Kõvask, da sie die Angeklagten nicht als Autoritäten begriffen hat, so dass die meisten ihrer Aussagen als nicht ernstzunehmend eingestuft wurden.

Der Mitglied des Parlaments von der Reform Partei Silver Meikar findet den Freispruch ein Beweis für die Meinungsfreiheit in Estland. Er ist zwar mit den Ansichten der "Bronzenen Vier" nicht einverstanden, doch ist er bereit dafür zu kämpfen, dass sie sie äussern dürfen.

Mitglied des Parlaments und der Vorsitzende des Ausschusses zur Überwachung der Sicherheitsbehörden Ain Seppik von der Zentrumspartei betonte die Unfähigkeit der Staatsanwaltschaft und der Geheimpolizei, dass die vors Gericht gingen, ohne sich sicher zu sein, dort zu gewinnen. Die Entscheidung ist ein ernster Schlag für Image Estlands und ihren Ministerpräsidenten. Es wäre ein Sieg für die propagandistische Maschinerie Russlands.

Dmitrij Linter ist der Meinung, dass den Russen in Estland noch ein Recht auf Gerechtigkeit geblieben ist. Er ist mit der Entscheidung des Gerichtes zufrieden, jedoch wird sich der Kampf für politische, wirtschaftliche und "memorialle" Rechte der Russen in Estland fortsetzen.

Für Maksim Reva sagte, dass der Rechtsentscheidung eine Freude für die estnische Gesellschaft sei, denn es gibt Rechtsstaatlichkeit und tapfere Richter.

Für Dmittij Klenski hat das Gericht die Ehre des estnischen Staates gerettet. Die Gerichtsentscheidung sei richtig gewesen.

Notchnoj Dozor veröffentlichte eine Pressemitteilung in der sich die Organisation über das Urteil sich freut, denn es wurde gezeigt, dass demokratische Rechtsinstanzen ausgewogene und objektive Urteile treffen können, die nicht von den aktueller politischen Konjunktur und Aufträgen abhängig sind. Ausserdem bedankt sich Notchnoj Dozor bei den Rechtsanwälten der Verteidigung und Unterstützer in Estland und im Ausland. Ausserdem werden alle Parteien und die Zivilgesellschaft dazu aufgerufen das Urteil nicht zur Spaltung der Gesellschaft zu missbrauchen. Diejenigen, die politisches Kapital daraus schlagen wollen, sind nicht an der Entwicklung der gemeinsamen Heimat und zivilrechtlichen Gesellschaft interessiert.

Und schliesslich musste auch das Russische Aussenministerium kommentieren. Das Urteil wäre eine Anklage gegen diejenigen, die die Geschichte umschreiben wollen. Es hätte die Rechtmäßigkeit des gesellschaftlichen Protestes bekräftigt, gegen die provokatorischen Ideen der estnischen Regierung, der Schändung des Grabes der sowjetischen Soldaten und Versetzung des Denkmals des Befreier-Soldates in Tallinn.

Mein Kommentar: Die Kommentare und die Beobachtungen im Laufe des Prozesses sagen einiges zum Stand der zivil-rechtlichen Gesellschaft in Estland, die aber für andere junge Demokratien und Russland und Ukraine typisch sind. Man scheint überhaupt nicht begreifen zu wollen oder zu können, dass eine Gruppe von Leuten auf die Strasse gehen kann, ohne dass sie von jemandem dazu angestiftet werden, ohne dass ihnen jemand Geld dafür bietet. Irgendjemand muss doch Anführer, Anstifter gewesen sein und der- oder diejenigen müssen für die Äusserung ihrer Meinung, für ihr Nichteinverständnis mit der Politik der Regierung oder der Mehrheit büssen. Vergessen scheinen die Singrevolutionen, als die Leute auf die Strasse gingen, um ihre Meinung äussern zu können, ihr Protest gegen die Regierung und gegen das System.

Bewohner des "alten" Europas sind da viel realistischer. In den letzten Jahren wurden mehrere Länder und Städte von unorganisierten Krawallen erschüttert: Frankreich, Griechenland, alle G7-Treffen in Europa, Kopenhagen, Proteste gegen Atomtransporte, Krawallen während der Neonazi-Demos, Chaos-Tage, 1.Mai in Berlin und Hamburg usw. usf. Viele schaffen es nicht mal in die Massenmedien. Und wieviele Organisatoren werden angeklagt? Werden überhaupt welche gefunden, gab es überhaupt welche? Ist der Ausbruch der Gewalt nicht ein Versagen der Polizeikräfte, die überfordert waren und die Situation nicht richtig eingeschätzten? Verhaftet und angeklagt werden die konkreten Täter, die Vitrinen einschlagen, Autos anzünden, auf Polizisten einprügeln. Das geschah auch in Estland, die entsprechenden Personen wurden verhaftet, angeklagt und soweit ihnen Schuld an Zerstörung nachgewiesen werden konnte, landeten sie auch hinter Gittern. Das ist das Wesen der Demokratie, dass gegen die Entscheidungen der Regierung, gegen politische Gruppierungen, gegen das System protestiert werden kann. Wenn die Proteste in Gewalt umschlagen, klagt man die konkreten Täter an, nicht diejenigen, die die Proteste an sich organisiert haben. Deswegen hat das estnische Gericht absolut im Rahmen für Rechtsprechung gehandelt, wie es im übrigen Europa gültig ist, wozu ich der Richterin nur gratulieren kann.

3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Kommentar zum Kommentar: Es stimmt, dass in osteuropaischen Staaten viele an verschworungstheorien nur zu gerne glauben (sprich: Demonstrationen ohne Anstifter im Hintergrund sind nicht moglich). Es stimmt aber auch, dass im konkreten Fall hinreichend Grund zu der Annahme bestand, dass es Hintermanner gab. In einem Rechtsstaat sind Ermittlungen hierzu ebenso normal wie die Prozesseroffnung, wenn Staatsanwaltschaft und Gerichte die beweislage fur hinreichend halten, wie auch Freispruche wegen Mangels an Beweisen. Normal sind ubrigens auch weitere Rechtsmittel.

Anonym hat gesagt…

Sorry: die singende Revolution ist ein gutes Beispiel. Zu diesen Demonstrationen kam es ja nicht, weil zufallig alle gleichzeitig auf die Strasse gehen wollten ;-)

kloty hat gesagt…

Hallo Anonymous: Und wie hätte man den Staat genannt, der die Organisatoren der singenden Revolution ins Gefängnis gebracht hätte (oder auch hat)? Demokratisch bestimmt nicht.

Ich kann mir durchaus vorstellen, dass die erste SMS, um sich zu versammeln, von einem Handy der Ex-Angeklagten ausging. Allerdings hat niemand von ihnen zur Krawalle aufgerufen und das ist wohl der entscheidende Punkt. Wenn man die jüngsten Ereignisse in Lettland anschaut, niemand wird die Organisatoren der Versammlung am Domplatz, als Anstifter zu den Unruhen anklagen.