Sonntag, Mai 24, 2009

Russisch-sprachige Massenmedien in Estland

Nachdem ich vor kurzem ein Artikel über die Situation der russisch-sprachigen Presse übersetzt habe, komme ich nicht umhin einen neuen Artikel darüber zu schreiben, weil die Situation sich wieder verschlimmert hat.

Kaum hat sich die Aufregung über die Schliessung von "Vesti Dnja" gelegt, wurde bekannt, dass die älteste tägliche russisch-sprachige Zeitung "Molodjezh Estnonii" zumindest bis zum 1. Juni nicht mehr erscheinen wird. Und es gibt einige Vermutungen, dass falls keine Investoren gefunden werden, auch dieser Termin verstreichen wird. Damit ist die einzige russisch-sprachige, überregionale tägliche Zeitung in Estland die russische Version von Postimees, die größtenteils aus den Übersetzungen der estnisch-sprachigen Nachrichten besteht. Postimees zeigt grosse Affinität zu der Reformpartei, so dass viele Artikel wenn auch nicht explizit Russland-feindlich sind, so ist die Tendenz zu ständigen kleinen Ausfällen gegenüber Russland offensichtlich, was einen Grossteil der russisch-sprachigen Leser über Zeit vergraulen dürfte.

Es stellen sich zwei Fragen: Wie wichtig ist eine unabhängige Tageszeitung und welche Alternativen gibt es? Die erste Frage ist nicht nur für die russisch-sprachige Gemeinde in Estland aktuell, auch weltweit befindet sich der Zeitungsmarkt in der Krise und viele Zeitungen stellen ihr Erscheinen ein, weil ihnen durch die Wirtschaftskrise, aber auch durch Internet die finanzielle Grundlage entzogen wird. Viele Abonnenten kündigen das Abo mit der Begründung, dass Internet und Nachrichtensender viel aktuellere Informationen haben und die Nachbereitung der Informationen, der Hintergrund der Geschehnisse, auch in einem Wochenblatt erscheinen können, während den Arbeitstagen ist die Lesezeit eher begrenzt, dafür kann man am Wochenende die Geschehnisse der Woche gut aufbereitet und recherchiert nachlesen. Dieses Argument gilt natürlich, wenn man die Zeitung als Einwegkanal betrachtet, von der Redaktion zum Leser. Allerdings hat die Zeitung auch oft einen Rückkanal, nämlich der Leser kann einen Leserbrief an die Zeitung schreiben und auf ein Misstand hinweisen, den die Redaktion dann aufgreifen kann, wenn sie es für berichtenswert hält. Eine Zeitung hat zumindest noch in Europa einen höheren Stellenwert als ein Blogger, oder ein unabhängiges Nachrichtenportal, das über denselben Misstand schreibt, so dass die öffentliche Kritik und eine Reaktion darauf mit einem Zeitungsartikel eher zu erzeugen ist, als mit einem in Internet veröffentlichten Artikel. In USA ändert sich dieser Zustand, Blogger werden immer mächtiger, doch Europa hinkt hinterher. Durch diesen Rückkanal, als auch allgemeine Stimmungen der Zielgruppe, die eine Zeitung aufgreifen muss, damit sie gelesen wird, kann auch ein Aussenstehender die Meinungen der Zielgruppe nachvollziehen. Im Fall von übersetztem Postimees fehlt dieser Rückkanal, so dass den estnischen Politikern, Demoskopen, Politikwissenschaftlern eine wichtige Grundlage für die Beobachtung der Stimmung in der russisch-sprachigen Bevölkerung fehlen wird.

Was sind die Alternativen? Es gibt den PBK (Pervij Baltijskij Kanal), der hauptsächlich die Inhalte des "Pervij Kanal" des russländischen Fernsehens übernimmt. Es gibt "Aktualnaja Kamera" auf ETV2, wo in 15 Minuten in russischen Sprache die aktuellen Nachrichten aus Estland gezeigt werden. Und es gibt "Sud Prisjazhnyh" ("Geschworenengericht") eine politische Talkshow, wo viele aktuelle Themen, die die russisch-sprachige Bevölkerung unmittelbar betreffen, von estnischen, als auch nichtestnischen Gästen besprochen werden. Die Zuschauer können abstimmen, so dass ein gewisser Rückkanal besteht, um die Stimmung der Bevölkerung grob zu testen. Es gibt Radio 4, einen staatlichen Radiokanal in russischen Sprache, der grösstenteils aus Nachrichten besteht.

Ein Wochenblatt in russischen Sprache, der überregional vertrieben wird, ist Den za Dnjem. Die Zeitung gehört Postimees, so dass die politische Richtung ähnlich ist, doch ist der Anteil der Artikel, die von russisch-sprachigen Redakteuren geschrieben wurden höher, als in Postimees. Überregional vertrieben wird die wöchentlich erscheinende "MK-Estonija". MK steht für Moskovskij Komsomoletz, eine Zeitung in Russland, so dass die Hauptredaktion in Russland ansässig ist und die estnische Redaktion Inhalte beisteuert. Alle anderen Wochenblätter sind regional. "Stoliza" ist eine kostenlose Zeitung, die in Tallinn vertrieben wird und teils aus kommunalen Nachrichten, teils aus Werbung für Zentristen-Partei besteht. Narvskaja Gazeta erscheint 2x wöchentlich und ist eher dem Regierungslager zuzurechnen. Fünf Mal die Woche erscheint die Zeitung "Severnoje Poberezhje" in der Region Ida-Virumaa. Walk ist ein wöchentlich erscheinendes gemeinsames estnisch-lettisches Projekt für Süd-Estland und Nord-Lettland. Peipsirannik ist monatlich erscheinende Zeitung für die Bewohner der Küste des Peipus-Sees.

Eine Zeitschrift, die einen besonderen Status einnimmt, ist "Baltijskij Mir". Diese einmal in zwei Monaten erscheinende Zeitschrift wird zu 100% von der russländischen Regierungskomission für Compatrioten im Ausland finanziert und kostenlos von russländischen Botschaften und Organisationen der Compatrioten vertrieben. Die Zeitschrift ist sehr professionell gemacht und beleuchtet sehr ausführlich die Geschehnisse in baltischen Staaten natürlich aus streng russland-freundlichen Sicht. Ich kann nicht sagen, wie populär die Zeitschrift wirklich ist, aber sie könnte durchaus meinungsbildend bei der russisch-sprachigen Intelligenz werden, die Russland nicht ablehnend gegenüber steht.

Wenn man die russisch-sprachigen Internet-Portale aufzählen möchte, die sich mit Estland beschäftigen, kommt man natürlich an Delfi nicht vorbei. Berühmt-berüchtigt ist Delfi nicht wegen den Nachrichten, sondern hauptsächlich wegen den Kommentatoren, wegen denen es schon öfters Versuche gab einen Anonymisierungsverbot bei Kommentaren im Internet zu beschliessen, um die schlimmsten Auswüchse an Hass und Beschimpfungen zu unterbinden, bislang vergeblich. Bei vielen anderen Internet-Portalen ist es öfters nicht klar, wer dahintersteht und wie ernst das Portal zu nehmen ist, ob es Ein-Mann-Unternehmen ist, das jederzeit die Arbeit einstellen kann, oder ob eine gut finanzierte Gruppe ein neues Konzept verfolgt. Recht neu ist www.baltija.eu, wo viele Estland-kritische Nachrichten erscheinen, weswegen die Seite schon öfters (nach eigenen Angaben zumindest) ein Ziel von Hacker-Angriffen wurde. Unpopulär, aber wegen professionellen Aufmachung erwähnenswert ist Vene Portal, den Artikeln zufolge eher ein Projekt der Regierung. www.slavia.ee wird vom Nord-Ost Zentrum der Russischen Kultur betrieben, www.dozor.ee, wie der Name schon sagt von Aktivisten von Notchnoj Dozor.

Meine wichtigste Informationsquelle ist allerdings das social network Livejournal, der in Russland sehr populär ist. Es gibt viele Communities, wo die Mitglieder alle Nachrichten zum Thema sammeln und als ein Artikel posten, so dass man nicht alle Nachrichtenseiten einzeln durchschauen muss.

Als Fazit kann man sagen, dass für eine umfassende Information über das Leben der russisch-sprachigen Gemeinde das Internet herhalten muss, da die sonstigen Massenmedien entweder nur regional erscheinen, oder sehr parteibezogen sind, so dass keine unabhängige Meinung gebildet werden kann. Trotz des Spitznamens E-stonia, ist der Anteil der Leute in der russisch-sprachigen Bevölkerung, die mit den neuen Medien umgehen können, noch recht gering, besonders in der älteren Schicht, so dass mit dem Verschwinden der täglich erscheinenden Zeitungen, sie von unabhängigen Informationen abgeschnitten sind. Der Rückkanal im Internet funktioniert nur bedingt, wegen der grossen Zersplitterung der Portale und ihrer geringeren Macht im Vergleich zu einer Zeitungsredaktion. Wie ein Delfi-Kommentator es ausgedrückt hat, wird die Regierung die Meinung der russisch-sprachigen Bevölkerung entweder aus Berichten des Innenministeriums (sprich KAPO), aus partei-finanzierten Zeitungen oder aus privaten Blogs erfahren.

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