Samstag, August 20, 2011

Ein paar Zahlen

Eins muss man dem estnischen Ministerpräsidenten Andrus Ansip lassen, er versprach, dass Estland unter fünf führenden Ländern sein wird. Damals meinte er unter den fünf reichsten Ländern Europas, doch diese Aussage ist schnell zu einem geflügelten Sprichwort geworden, so dass immer wenn eine Statistik veröffentlicht wird, dann wird vor allem geprüft, ob Estland unter den ersten oder unter den letzten fünf Ländern sich befindet. Und es ist sehr häufig der Fall sowohl im positiven, als auch im negativen Sinne. Wirtschaftlich und sozial gesehen ist Estland ein Land der Extreme.

So stieg zum Beispiel das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Estland im zweiten Quartal im Vergleich zum zweiten Quartal vorigen Jahres um sehr eindrucksvolle 8,4%, was der größte Wirtschaftswachstum von allen europäischen Ländern bedeutet. Das ist schon der zweite Quartal in Folge, dass die Wirtschaft derart schnell wächst. Wirtschaftswachstum und Inflation gehen immer Hand in Hand, mit einer Inflation von 5,3% hat Estland auch hier seinen Spitzenplatz verteidigt und wird wohl damit schon ein Jahr nach der Einführung des Euros die Maastrichter Stabilitätskriterien verletzen. Doch verletzen gerade andere EU-Länder die Stabilitätskriterien in einer viel massiveren Weise, deswegen glaube ich kaum, dass Estland deswegen Probleme mit der EZB bekommen wird. Wenn man bedenkt, dass in den Zeiten der ausufernden Staatsschulden Estlands Verschuldung bei 6,6% liegt, dann lobt selbst der russische Premierminister Putin Estlands Wirtschaftspolitik.

Auf den ersten Blick positiv entwickelt sich die Arbeitslosenquote. War sie noch letztes Jahr bei katastrophalen 18,6% (unter den ersten fünf), so meldet die estnische Agentur für Arbeit jetzt 7,5% registrierte Arbeitslosigkeit. Die Betonung liegt auf "registrierte" denn das Statistikamt nennt die Zahl von 13,3%, was immer noch der schnellste Rückgang in EU darstellt. Der riesige Unterschied erklärt sich dadurch, dass die Leute, die seit mehr als einem Jahr keine Arbeit haben, nicht in der offiziellen Statistik geführt werden. Und Anteil von diesen Leuten wächst, wobei es schwer vorstellbar ist, wovon diese Leute leben, denn mit einer Sozialhilfe von 67 EUR/Monat (unter den letzten fünf EU-Ländern), ist nicht mal das Essen finanzierbar. Oder vielleicht doch, das Statistikamt hat ausgerechnet, dass die durchschnittliche estnische Familie ganze 2,12 EUR pro Tag fürs Essen ausgibt.

Im Unterschied zu Deutschland gibt es in Estland einen Mindestlohn, den man auch mit anderen Ländern vergleichen kann. Der liegt bei 278 EUR, damit ist Estland auf dem vierten Platz von hinten unter den EU-Ländern, die einen Mindestlohn haben. Zum Vergleich, der Mindestlohn in Luxemburg ist bei 1758 EUR, da liegt noch ein weiter Weg, um unter die ersten fünf zu kommen. Niedrige Gehälter bedeuten niedrige Kaufkraft, sie liegt bei 65% des EU-Durchschnitts, unter den EURO-Ländern ist Estland auf dem letzten Platz. Vor 15 Jahren war die Kaufkraft bei 35%, Luxemburg mit 283% Kaufkraft wird Estland also in voraussichtlich 105 Jahren einholen.

Wenn man diese Zahlen zusammen betrachtet, darf man behaupten, dass Estland ein Schiffchen ist, das auf den Wellen der Weltwirtschaft rumhüpft oder eher ein Wakeboarder, kommt eine Welle des Aufschwungs, fliegt Estland über dem Wellenkamm und legt sehr eindrucksvolle Wachstumszahlen vor. Fällt die Wirtschaft in Wellental, dann sinkt Estland erstmal ins tiefe Wasser. Die Bevölkerung bezahlt diese Extreme mit sehr geringer sozialen Absicherung und Unsicherheit im morgigen Tag. Die Parteien in der heutigen Regierung haben nicht vor diesen Kurs zu ändern und Estland zu einem Wohlfahrtsstaat nach den skandinavischen Vorbildern zu entwickeln.

Nachtrag
Gerade wurde wieder eine Statistik veröffentlicht laut der der durchschnittliche Lohn in Estland bei 857 EUR liegt, das ist ein 4,2% Anstieg gegenüber dem Vorjahresquartal. Doch wie wir gerade gelernt haben, liegt die Inflation gut einen Prozentpunkt höher, so dass für Reallöhne das einen Rückgang um ein Prozentpunkt bedeutet. Schon seit 11 Quartalen sinkt Reallohn. Nicht unbedingt rosige Aussichten eines der fünf reichsten Ländern in Europa zu werden.

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