Sonntag, Oktober 23, 2011

Leserbrief an "Der Spiegel"

Vor kurzem ist ein Bericht in "Der Spiegel" über Estland erschienen. Nach dem Durchlesen, kam ich nicht umhin einen Leserbrief an die Autoren zu schreiben:


Sehr geehrter Herr Hoppe, sehr geehrter Herr Puhl,

Mit leichtem Entsetzen las ich den Artikel "Ein merkwürdiges Land" von Ihnen über Estland, das Land in dem ich aufgewachsen bin und mit dem ich mich viel beschäftige.

Es freut mich zwar, dass ein ausführlicher Artikel über Estland in so einer renommierten Zeitschrift wie "Der Spiegel" erscheint und dass die Autoren versucht haben vor dem Hintergrund des Chaos auf den Finanzmärkten und ständigen Abwerten anderer Länder ein positives Beispiel zu finden, doch mit ihrer Wahl auf Estland wurde das Thema klar verfehlt.

Sie schreiben, dass Estland die Maastricht-Kriterien mit Leichtigkeit erfüllt hat, indem Sozial- und Medizinleistungen zusammengestrichen wurden. Sozialhilfe in Estland beträgt 67 EUR, das bedeutet, dass ein Empfänger von 2 EUR / Tag leben soll, die Durchschnittslöhne liegen bei 800 EUR, die Inflation seit der Euroeinführung ständig über 5%. Kein Wunder, dass die Esten sich nicht das Ausgehen leisten können. Bin ich der einzige, den das an Hungerzonen in Afrika erinnert, wo die Touristen mit allem nötigen versorgt werden, während daneben die Leute sich kein anständiges Essen leisten können? Und obwohl die Wirtschaft brummt (wobei das Abflachen des Wachstums schon vorhergesagt wird), steigen die Löhne viel weniger, nämlich um 4,4%, also verdienen die Arbeiter immer weniger und das schon seit 11 Quartalen.

Es ist ein grundsätzlich richtiger Gedanke, dass der Staat soviel ausgeben darf, wie viel er einnimmt. Nur vielleicht nimmt er nicht genug ein und gibt an der falschen Stelle aus. Estland hat auf die Bevölkerung umgerechnet einen der höchsten Truppenkontingents in Afghanistan und auch mit die höchsten Verluste. Auch hat Estland ein Flat-Tax, eine Idee, die in einer Gesellschaft mit gleichverteiltem Einkommen verlockend klingt, in einer Gesellschaft mit sehr ungleich verteiltem Einkommen, ist es eine Katastrophe. Obwohl die Wirtschaftskrise offiziell vorbei ist, muss immer mehr zusammengestrichen werden, Polizisten und Rettungskräfte werden entlassen, Schulen werden geschlossen. Gleichzeitig erhöhen die Abgeordneten ihre Diäten, die Aussage im Artikel, dass die Politiker bei sich selbst angefangen haben zu sparen, ist schlicht und einfach falsch. Um die Ausgaben finanzieren zu können wird wo anders abgeschöpft, nämlich bei den kommunalen Rechnungen, denn die Stromerzeuger und Wasserversorger gehören nach wie vor dem Staat, also kann er die Endverbraucherpreise diktieren und sie kennen nur einen Weg, steil nach oben.

Es ist auch richtig, dass es Abenteurer aus anderen Ländern gibt, die sich in Estland niederlassen und manchmal wirtschaftlichen Erfolg haben. Warum ist es übrigens eine Heldentat in 18 Minuten ein Firma zu gründen? In jedem beliebigen deutschen Rathaus ist nach Ausfüllen eines einseitigen Formulars eine GbR gegründet, in vielen Gemeinden geht das auch online. Allzuviele Leute kommen übrigens nicht nach Estland, vielmehr steht Estland am ersten Platz in EU bei der Nettomigration, nirgends verlassen mehr Leute das Land. Kombiniert mit hohen Sterblichkeit und niedrigen Geburtenrate nimmt das Land 6. Platz weltweit beim Bevölkerungsrückgang ein. Und es wird nicht besser, inzwischen ist es eine Standardfrage vor allem an den russischen Schulen, wie viele Schüler nach der Beendigung der Schule auswandern möchten. Regelmäßig gehen fast alle Hände nach oben. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass aus meiner Klasse die Hälfte der ehemaligen Schüler im Ausland lebt und keine Träne ihrer Heimat nachweint. Bei der Verwandtschaft meiner Generation (um 30) sieht es ähnlich aus. Vielleicht sollte man die Bedürfnisse der Menschen doch über die Bedürfnisse der Wirtschaft stellen?

Die Idee von E-stonia war genial, die nichtvorhandenen Strukturen gleich mit EDV zu verwalten und möglichst vieles über Internet verfügbar zu machen war vor 20 Jahren tatsächlich revolutionär und brachte Estland viel positives Image ein. Inzwischen haben andere Staaten nachgezogen und es zeigt sich, dass auf die Schnelle zusammengeschusterte Programme nicht durch solide programmierte Lösungen ersetzt wurden. Dadurch bekam Estland grosse Probleme bei Abwehr der Cyberattacken im Jahr 2007 (die, wie Wikileaks belegen, mit ziemlichen Sicherheit nicht aus Kreml angeordnet waren), auch steht das estnische E-Wahlen System gerade unter Kritik, denn es entspricht nicht den mindesten Anforderungen an Transparenz, Sicherheit und Verifizierbarkeit der abgegebenen Stimme. Insofern stellt sich die Legitimität ihres Gesprächspartners, des Wirtschaftsministers Juhan Parts in Frage, denn die Ergebnisse der E-Zettel unterschieden sich erheblich von Papierwahlzetteln, doch eine Manipulation ist nicht beweisbar. Was den sparsamen Minister angeht, es ist durchaus positiv, dass manche estnische Minister sich wie ihre skandinavischen Ministerkollegen verhalten, andererseits bei einer Bevölkerung etwas mehr als in München, erwarten Sie, dass jeder Münchener stellvertretender Bürgermeister mit Bodyguards anrückt?

Skype ist zweifellos ist eine Erfolgsstory, vielleicht können sich die Computerbenutzer erinnern, wie Skype angefangen hat. Nach dem Scheitern von Napster, kam recht schnell eine neue Tauschbörse auf der größtenteils illegaler Content getauscht wurde, auf: Kazaa. Durch Verzicht auf zentralen Server konnte man Kazaa nicht einfach dicht machen, jeder Benutzer von Kazaa war ein Verteilerknoten. Klingt bekannt? Nachdem Kazaa aufgeben musste, kam sehr schnell Skype auf, es waren dieselben Protokolle. Es schmälert nicht die Leistung der Programmierer, nur wird dieser Kapitel gern vergessen. Für estnische Politiker ist Skype ein echtes Glücksfall, denn kaum jemand kennt irgendeine andere estnische Firma, die erfolgreich am Weltmarkt agiert. Die Firmenbesitzer können bald Gebühren für die Führung durch die Firma nehmen, denn es gibt zwei Orte wohin alle ausländischen Journalisten geschickt werden: Skype-Firmengebäude und Okkupationsmuseum.

Im Okkupationsmuseum findet man vielleicht auch die Erklärung, warum die estnische Bevölkerung gegen die Grausamkeiten der internen Abwertung nicht auf die Strassen gegangen ist. Jeder Versuch gegen die bestehende Ordnung zu protestieren, wird sofort als sozialistisch gebrandmarkt, man wird aus Moskau gesteuert und der böse russische Bär wartet nur auf den günstigen Augenblick, Estland wieder unter seine Fittiche zu bringen. Die letzte derartige Beschuldigung wurde gegenüber dem Chef der größten Oppositionspartei Edgar Savisaar vom estnischen Geheimdienst KAPO just vor den Parlamentswahlen erhoben. Die knapp-links-von der-Mitte Partei verlor daraufhin die Führung in den Umfragen, nach den Wahlen krähte kein Hahn mehr von den Vorwürfen, aber das Ziel wurde erreicht. Beispiel für gelungene Demokratie im postsozialistischen Land?

Mich hätte es nicht gewundert, wenn dieser Artikel in "Die Welt" oder "FAZ" erschienen wäre, die Lobpreisungen auf Neoliberalismus und Wirtschaft-über-alles sind dort Standardprogramm, aber warum "Der Spiegel" im Gegensatz zu allen anderen Artikeln derart kritiklos sich mit Estland auseinandersetzt, ist mir nicht begreiflich. Bei anderen Reportagen ist "Der Spiegel" mehr als bekannt für das kritische Nachfragen und Hinter-die-glänzende-Fassade-Schauen, doch bei diesem Artikel setzten die Kontrollmechanismen eines Spiegel-Reporters aus irgendeinem Grund aus. War es das Schokotörtchen vom Wirtschaftsminister, das die Journalisten derart in Entzückung versetzte? Ja, die Konditoreien sind im Land des Marzipan-Erfinders ganz gut, wenn auch nicht mehr estnisch. So gut wie alle Firmen wurden ins Ausland verkauft, die Esten haben keine Kontrolle mehr über das eigene Land. Ist das wirklich nachahmenswert?

Mit freundlchen Grüßen,

6 Kommentare:

Franz hat gesagt…

"Allzuviele Leute kommen übrigens nicht nach Estland, vielmehr steht Estland am ersten Platz in EU bei der Nettomigration, nirgends verlassen mehr Leute das Land. Kombiniert mit hohen Sterblichkeit und niedrigen Geburtenrate nimmt das Land 6. Platz weltweit beim Bevölkerungsrückgang ein."
These figures are not correct. CIA World Factbook tell lies.

kloty hat gesagt…

@Franz: Why should CIA lie? Because they are infiltrated by Kremlin agents?

Franz hat gesagt…

Es ist nicht nötig mit mir Englisch zu sprechen. Ich kann Deutsch ganz gut verstehen, aber ich habe mit Grammatik schwere Problemen.
"Why should CIA lie?"
But they lie. In CIA World Factbook they write, that in 2011 birth rate per 1000 inhabitants in Estonia was 10,45 and death rate per 1000 inhabitants was 13,55.
But actually during first nine months in Estonia were registred 11271 births and 11476 deaths (www.stat.ee). In recalculation to the whole year it makes birth rate 11,21 per 1000 inhabitants and death rate 11,42 per 1000 inhabitants. Difference is notable.

Anonym hat gesagt…

Ich finde den Brief super und bin gespannt, ob sie antworten!
platon_ee

kloty hat gesagt…

@Franz: Wenn ich richtig verstehe, hat CIA ein Buero in der Tallinner US-Botschaft http://estonia.usembassy.gov/usss.html. Vielleicht sollte jemand vorbeischauen und ihnen sagen, dass ihre Zahlen nicht korrekt sind.

Franz hat gesagt…

"Vielleicht sollte jemand vorbeischauen und ihnen sagen, dass ihre Zahlen nicht korrekt sind."
I have written to CIA World Factbook. But I did not get any answer from them