Am gestrigen Sonntag gingen die Parlamentswahlen in Estland zu Ende. "Gingen zu Ende" und nicht "haben stattgefunden" wähle ich bewusst, weil die elektronische Stimmabgabe über einen viel längeren Zeitraum möglich war und auch rege genutzt wurde. Von 912.000 wahlberechtigten Bürger, haben ca. 140.000 elektronisch ihre Stimme abgegeben. Doch dazu später mehr.
Wie von mir schon im Dezember vorhergesagt, hat sich an der Regierungskonstelation wenig geändert. Estland hat nun nur noch vier Parteien im Parlament, die Reformpartei bekam 28,6% (+0,8%) der Stimmen und zwei Sitze mehr, Zentrumspartei 23,3% (-2,8%) und drei Sitze weniger, die Heimatpartei IRL 20,5% (+2,6%) und 4 Sitze mehr, die Sozialdemokraten 17,1% (+6,5%) und 9 Sitze mehr. Die Grünen und die Volkspartei sind im Parlament nicht mehr vertreten. Die derzeitige Regierungskoalition verfügt über eine stabile Mehrheit von 56 von 101 Sitzen.
Die Wahlbeteiligung lag bei ca. 63,61%. Die höchste Wahlbeteilugung war in Tallinner Stadtbezirken Mustamäe und Nõmme mit 72,79%, die niedrigste im nord-östlichen Ida-Virumaa mit 56,13%.
Der Politiker für den die meisten Stimmen abgegeben wurden ist der Vorsitzende der Zentrumspartei Edgar Savisaar, der 23 012 Stimmen bekam, danach kommt der jetzige Premierminister Andrus Ansip mit 18 981 Stimmen.
Die Russische Partei, die viele unabhängige Kandidaten in der Wahlliste hatte, bekam 0,9% der Stimmen.
Nach all diesen nakten Zahlen Versuch einer Analyse. Der Trumpf der Reformpartei war natürlich die erfolgreiche Einführung des Euro. Alleine schon die Tatsache, dass die anderen baltischen Republiken voraussichtlich 2014-2015 soweit sein werden, schmeichelte dem estnischen Selbstvewusstsein, so dass vergessen wurde, welche Opfer dazu in Zeiten der Krise notwendig wurden. Doch war die Zentrumspartei in den Umfragen führend, deswegen wurde die alte Keule der Angst vor Russland geschwungen. Im Dezember meldete die KaPo, dass Edgar Savisaar sich mit Vladimir Yakunin, dem Minister für den russischen Eisenbahnverkehr getroffen habe und ihn um Parteispende für den Wahlkampf bat. Die Wahlkampfspende sollte als Spende für die Errichtung einer orthodoxen Kirche getarnt werden. Die Beweise für diese Behauptung liegen immer noch nicht vor, aber der politische Schaden war immens. Präsident Ilves erklärte, dass er keine Regierung vereidigen werde, der Savisaar angehört. Die Sozialdemokraten verliessen die Regierungskoalition im Stadtrat von Tallinn. Die Reformpartei hat erklärt, dass sie niemals mit den Zentristen koalieren wird, solange Savisaar die Partei führt. Savisaar nahm nichts zurück, sondern traf Yakunin bei der Einweihung der Kirche in Lasnamäe. Dies alles brachte ihm die Unterstützung der russischen Wähler und die meisten Stimmen in seinem Wahlbezirk, doch darf man nicht vergessen, dass bei den Parlamentswahlen nur estnische Staatsbürger wählen dürfen, also alle Staatenlosen und russischen Staatsbürger gar nicht für Savisaar stimmen können. Trotz der Verluste bei den Wahlen zeigt Savisaar, dass er das Zugpferd der Zentrumspartei ist und ihn niemand so schnell ersetzen dürfte, höchstens aus Altersgründen könnte er sich bei den nächsten Wahlen zurückziehen.
Das bemerkenswerte Abschneiden von Sozialdemokraten ist auf die Wahl des neuen Vorsitzenden Sven Miksers zurückzuführen, der damit die Partei wieder populär machte. Es ist noch nicht ganz klar, welche Richtung die Sozialdemokratie in Estland nach der Wahl nehmen wird, bis jetzt war ausser dem Namen in der Politik der Partei wenig Sozialdemokratie zu erkennen gewesen, zumindest in dem westeuropäischen Verständnis dieses Wortes.
Gerüchten zufolge wird das Regierungskabinett umgebildet. Es ist nicht klar, ob der Vorsitzende der IRL Mart Laar der Regierung angehören wird, er könnte Aussenminister werden. Ebenso sagt die Gerüchteküche, dass der ehemalige Rektor Jaak Aaviksoo, der bisherige Minister für Verteidigung, Bildungsminister werden könnte, Marko Mihkelson könnte Minister für Verteidigung werden.
Aus der Sicht der russischen Bevölkerung in Estland ist die Fortsetzung der jetzigen Regierungspolitik eine Katastrophe. Tõnis Lukas, der bisherige Bildungsminister erklärte, dass sein Ziel es sei dass keine Bildung mehr auf russisch angeboten wird. Jetzt hat er bzw seine Partei 4 Jahre mehr Zeit diesem Ziel näherzukommen. Falls Mihkelson Verteidigungsminister wird, lenkt damit ein Mann die estnische Armee, dessen russophoben Ansichten in jeder seiner Aussagen hervorgehoben werden. Eine Verbesserung der Beziehung mit Russland und der Lage der russischen Bevölkerung ist da wenig wahrscheinlich.
Das Scheitern der ethnischen Russischen Partei mit Klenskij an der Spitze hat mehrere Gründe. Erstens wurde mir kein Programm bekannt, es war ein Personenwahlkampf, der gegen die bekannten Politiker der Zentrumspartei kaum zu gewinnen war. Zweitens hat die Partei hauptsächlich im Internet von sich reden gemacht, hauptsächlich durch Veröffentlichung von elendlangen Artikeln von Klenskij, der wahrscheinlich ein guter Kolumnist in einer Zeitung wäre, doch im Internet schaltet selbst ein wohlwollender Leser nach dem zweiten Paragrafen ab und liest nicht weiter. Ich wage die Behauptung, dass unter den russisch-sprechenden Wählern die Internet-Verbreitung nicht sehr hoch ist. Nach der Veröffentlichung der Ergebnisse der elektronischen Stimmabgabe war die Zentrumspartei abgeschlagen auf dem vierten Platz, erst nach der Auszählung aller Stimmen kletterte sie auf den zweiten Platz. Da die Wähler der Russischen Partei und der Zentrumspartei ähnlich sein dürften, zeigt es sich, dass die Wähler dieser Parteien weniger internetaffin sind.
Noch eine Anmerkung zu der Internet-Wahl. DZD, berichtet über eine Frau die elektronisch 553 Mal ihre Stimme abgegeben hat (wobei natürlich nur die letztabgegebene gezählt wurde). Daraufhin hat der Leiter der Wahlkomission sie angerufen und sie darauf hingewiesen. Ich dachte eigentlich, dass die Wahlen auch elektronische geheim sein sollten?
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3 Kommentare:
Wirklich schade, dass da nix ändern wird. Klenski war wie ein Klaun in TV am 5. , da war sogar eine Wette, ob in den ersten fünf Sätzen 5x mal etwas mit "diskrimi..." vorkommt.
Und, wurde die Wette eingelöst ;-)?
Nee, da er die anderen Kandidaten auch kommentierte, aber kam sehr nah. Fing schon irgendwie so an: "Ich werde schon hier diskriminiert ..." (Mikser und Savisaar sprachen am meisten, die anderen konnten einfach nichts sagen, es ist schwer Mikser zu unterbrechen, der spricht ja wie ein Maschinengewehr). Ausser Diskriminierung hatte Klenski einfach nichts zu sagen.
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