Samstag, Februar 02, 2013

Urmas Sutrop: Holocaust, das Böse und wir

Der Sprachwissenschaftler, Direktor des Instituts der estnischen Sprache Urmas Sutrop schreibt in Postimees über die Beziehung der Esten zu Holocaust und findet es traurig, dass öfters, die eigenen Leiden unterstreichend, vergessen sie das Leiden, den sie anderen zugefügt haben.

Während des Zweiten Weltkrieges wurden in Estland 963 lokale Juden getötet. Doch es wurden auch 5572 lettische und litauische Juden, 954 tschechische Juden, 917 deutsche Juden, 185 französische Juden, 16 russische Juden und 7 finnische Juden ermordert. Insgesamt 8614 Juden. Die Mörder waren nicht nur Okkupanten, unter ihnen waren auch viele estnische Kollaborateure. Auf der traurig-berühmten Wannsee-Konferenz bei Berlin am 20. März 1942 wurde Estland als judenfrei bezeichnet. Damit dieser Schrecken konkret wird, nennt Sutrop Namen jüdischen Kinder, die in der Synagoge in Pärnu am 2. November 1941 vernichtet wurden, darunter auch im Alter unter einem Jahr.

Sutrop schreibt, dass er froh darüber ist, dass in Estland der Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocausts begangen wird, doch er ist traurig, dass die Esten sich keiner Schuld bewusst sind. "Es reicht den Leser zu überzeugen, dass im Vergleich zu Lettland und Litauen hier es niemanden zu töten gab. Über das Jahr 1940 schreibt man, dass die Juden selbst angefangen haben Juden und jüdische Organisationen zu liquidieren. Doch die Repressionen gegen die Juden fingen damit an, dass man im Juli 1941 während der Strassenunruhen in Tartu, unter den Stadtanzündern jüdische Jugendliche gesehen haben soll. Man habe jüdischen Kinder mit Molotov-Coctails gesehen (das wird in dem Wikipedia-Artikel Holokaust Eestis behauptet). Über die schon erwähnte Wannsee-Konferenz sagt Wikipedia, dass ihr Ziel wäre "die Konkretisierung der Details zur Evakuierung der Juden und der Organisation der Zusammenarbeit zwischen den Behörden". Mehr nicht, siehe die estnische Version des Wikipedia-Artikels zur Wannsee-Konferenz). Befremdlich ist auch die Behauptung, dass der Tag der Erinnerung an die Holocaustopfer in Estland zu einem religiösen Fest in Estland wurde (Artikel Holokausti mälestuspäev)".

"Ich lese diese Behauptungen mit Angst und Schrecken. Die zur Autorität strebende Wikipedia serviert uns einen vollkommenen Holocaust-Revisionismus, von dem es nur ein Schritt zur völligen Verneinung ist. Sind die Opfer tatsächlich schuldig, dass man sie tötet? Und wenn sie unschuldig sind, soll man nach Beweisen ihrer Schuld suchen? Hängt es nicht damit zusammen, dass wir die einzige Opfer sein wollen? Unschuldige Schäfchen, die unter den Repressionen der deutschen Nationalsozialisten und russischen Kommunisten gelitten haben", setzt er fort.

"Glauben wir tatsächlich, dass unter uns es keine Kollaborateure gegeben hat, die wegen persönlichem Wohlergehen, Bequemlichkeit oder niederer Instinkte und Interesse zu töten sich an die deutschen und sowjetischen Okkupationsmächte angepasst haben? Oder glauben wir, dass wir weisse Schäfchen sind, die von grausamen Wölfen regiert wurden, deswegen haben wir keinen Bezug zu den Morden und Verbrechen, die hier geschehen sind?" - fragt er.

"Zum zweiten, wenn wir über Holocaust sprechen, führen wir zu oft eine Parallele zu unseren eigenen Leiden durch. Denn nicht nur die Juden hat man getötet, auch wir wurden verschleppt und getötet. Dieser Vergleich ist falsch. Das Ziel des Tötens von Juden war es alle Juden zu töten. Was die Esten angeht, weder die Deutschen noch die Russen haben so ein Ziel verfolgt. Wir sollten die Opfer des Holocausts so achten, wie sie gewesen sind. Die Opfer des Holocausts, das sind die Opfer des Holocausts und die Opfer des Kommunismus sind die Opfer des Kommunismus" - schreibt Sutrop.

"Estland von Juden freizumachen während des Zweiten Weltkrieges haben doch auch die Esten selbst mitgeholfen. Als die estnischen Juden ermordet wurden, wurde fleissig mit der Ermordung der Juden aus anderen Ländern fortgesetzt. Entlang der Eisenbahnlinien gab es mehrere Konzentrationslagern in Tartu, Klooga, Tallinn, Vaivara, Narva usw." - mahnt er.

"Die Mörder waren Mitglieder der Sicherheitspolizei und Omakaitse aus Esten. Welche den Esten eigene nationale Charaktereigenschaften haben sie dazu motiviert? Welche Befriedigung bekamen diese Mörder von ihren Morden? Oder war der Grund für das alles Bescheidenheit und der Wille zur Anpassung? Oder Gier bei der Teilung des Hab und Gutes der Ermordeten? Warum gibt es unter uns Leute, die das alles zu verleugnen versuchen? Warum werden die in den deutschen Uniformen kämpfende heroisiert? Wird werden in Augen von manchen die Standartenführer der SS mit einer Aura des Heldentums umgeben, mit Kränzen aus Eichenlaub mit Ritterkreuzen geschmückt?"

Sutrop bezieht sich auf einen jungen herausragenden Historiker und Holocaustforscher Anton Weiss-Wendt, der in seiner englisch-sprachigen Monographie "Murdered Without Hatred: Estonians and the Holocaust" (Syracuse University Press, 2009), dass die Esten die Juden ohne besonderen Hass getötet hätten.

"Die Juden wurden als Juden verhaftet, doch wurden sie als "Kommunisten" oder "Personen, die, die Staatsordnung bedrohen" getötet. Mehr als die Hälfte von ihnen waren Kinder, Frauen und alte Leute. Es stellt sich die Frage, haben denn die Kinder, Säuglinge und Babies Kommunisten und haben sie die Staatsordnung bedroht? Zu den Gründen für das Aufblühen der Kollaboration unter den Esten und Aufkommen von Mördern unter ihnen zählt er (Anton Weiss-Wendt) Nationalismus, Opportunismus, der noch von der Epoche des Schweigens stammt, genauer politische Promiskuität und den nationalen Komplex der Minderwertigkeit, weil nach dem Molotov-Ribbentrop Pakt Estland ohne einen Schuss an die Russen übergeben wurde." - schreibt Sutrop.

"Wenn wir im Frieden mit uns selbst leben wollen, mit unserer Vergangenheit und der Zukunft, müssen wir das Böse anerkennen, das wir anderen zugefügt haben. Leider dominiert in unserem Leben wohl die Ignoranz und überhaupt eine Verneinung des Bösen. Doch will man irgendwie nicht die wenigen noch lebenden Mörder suchen und dem Gericht übergeben. Es werden eher nur kommunistische Verbrecher gesucht und beschuldigt. Für mich bleibt es ein Rätsel, warum unsere Gesellschaft nicht Harry Männil beschuldigt hat? Vielleicht hat der Milliardär für das Fehlen von Beweisen der angenommenen Schuld und fehlendem politischen Willen bezahlt? Jetzt ist es zu spät ihn dem Gericht zu übergeben, die letzte Chance ist verpasst. Das Simon-Wiesenthal-Zentrum und der Direktor der jerusalemer Abteilung Ephraim Zuroff versuchen die letzten Möglichkeiten, um die lebende Nazi-Verbrecher vors Gericht zu bringen. Unsere gemeinsame Pflicht ist es ihnen behilflich zu sein, damit die letzte Möglichkeit die Gerechtigkeit wieder herzustellen nicht verpasst wird. Das wird natürlich die Opfer von Holocaust nicht ungeschehen machen, aber es hilft die Wiederholung von ähnlichen Verbrechen in der Zukunft zu verhindern" - schiesst Sutrop ab.


Urmas Sutrop

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