Montag, März 10, 2008

Diskussionen

Folgender Artikel von Dr. Axel Reetz auf estland.blogspot.com hat zu einer ausführlichen Diskussion zwischen mir und Herr Dr. Reetz geführt. Mehrere Artikel auf beiden Blogs und lange Kommentare sind schon geschrieben worden, deswegen veröffentliche ich auf meinem Blog Links auf die Artikel von Herr Dr. Reetz und meine Antworten dazu. Sollten mehr Artikel hinzukommen, werde ich diesen Artikel updaten. Die Hauptdiskussion ist nach wie vor auf Blog von Dr. Reetz, weitere Diskussionsteilnehmer sind herzlich willkommen.

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Der „Bronzesoldat” wieder auf der Tagesordnung - der erste Artikel von Dr. Reetz

Meine Antwort:

Hallo,

Artikel ist gut, allerdings verstehe ich die Logik dahinter nicht. Was soll der Vergleich zwischen dem lettischen Denkmal und dem Bronzenen Soldaten? Was hat das Datum der Parlamentswahlen damit zu tun, ob die Verlegung vor dem 9. Mai oder danach stattfinden soll?

Der Autor schreibt die ganze Zeit über Translozierung. Es wurde niemals klar vermittelt, was mit dem Denkmal eigentlich passieren soll. Zumindest in der russischen Presse sind zwar Aussagen aufgetaucht, wohin das Denkmal versetzt werden soll, gleichzeitig hiess es, dass es Monate in Anspruch nehmen kann den passenden Platz vorzubereiten, dass der Friedhofsverwalter damit überhaupt nicht einverstanden ist, dass kein Platz da ist, usw. Bis heute weiss niemand so genau, wo der Bronzene Soldat nach der Demontage hingebracht wurde, bevor er wieder aufgebaut wurde.

Deswegen nochmal: Wäre die Verlegung in Absprache mit den Vertretern russischen Gemeinde geschehen, mit militärischen Ehren, mit klarer Aussage wohin das Denkmal gebracht wird, mit vorherigen Benachrichtigung der Verwandschaft der dort Bestatteten (die gerade übrigens gegen den estnischen Staat klagen), wäre das alles nicht passiert. Wenn man aber ein Drittel seiner Bevölkerung nicht ernst nimmt und dem Rest der Welt zeigen möchte, wer der Herr in seinem Haus ist, dann provoziert man Demonstrationen, Proteste, Randale und peinliche Gerichtsverfahren.

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Das Denkmal und die Diskussionen - Zweiter Artikel von Dr. Reetz in dem er sich mit meinen Antworten, meinem Blog und Herr Dornemann auseinandersetzt.

Meine Antwort darauf:

Hallo Herr Reetz,

vielen Dank, dass Sie sich in einem langen Artikel mit meiner Wenigkeit auseinandersetzen. Auf ein paar Punkte würde ich gerne eingehen:

Der Vergleich mit dem Denkmal in Riga liegt auf der Hand angesichts eines völlig gleich gelagerten Konflikts in Lettland: Es handelt sich für die Russen um ein Symbol für den Sieg über den Faschismus im Großen Vaterländischen Krieg, für die Letten hingegen für 50 Jahre sowjetische Okkupation.


Ich muss zugeben, ich kenne nicht die gesamte Geschichte des lettischen Denkmals und die Diskussionen um ihn. Eins möchte ich hervorheben, die Diskussion um die Versetzung wurde nicht auf dem Staatslevel geführt, sondern ist der fromme Wunsch einiger lettischen Nationalisten. Der lettische Staat scheint etwas mehr Rücksicht auf die Gefühle seiner groessten Minderheit zu nehmen. Momentan scheint sich Lettland besser mit dem grossen Nachbarn arrangiert zu haben, als Estland und die russische Minderheit hat mehr Mitspracherecht im politischen Geschehen. Ich hoffe nicht, dass irgendeine Partei in Lettland derart auf nationalistischen Schiene Wahlwerbung macht, wie die Reformpartei und dabei auch noch Wahlen gewinnt. Können Sie sich vorstellen in welchen Farbspektrum die Partei angesiedelt wäre, die in Deutschland derartige Diskussionen angefangen hätte?

Mal abgesehen davon, daß der Ort der Zwischenlagerung mir nicht so besonders wichtig erscheint, halte ich die Verlegung von Soldatengräbern inklusive der Translozierung des dazugehörigen Denkmals auf einen Soldatenfriedhof für normal. Daß es gegen konkrete Orte Einwände gibt, ist nicht ungewöhnlich. Jedwede Diskussion über jedwedes Denkmal beweist das.

Wie ich angemerkt habe, wäre die Verlegung gut mit den Vertretern der Minderheit abgesprochen gewesen, wäre es nicht zum Politikum geworden. Der Ort der Zwischenlagerung war insofern interessant, weil man überhaupt nicht wusste, was mit dem Denkmal geschehen war. Deswegen konnte das russländische Fernsehen auch die Gerüchte verbreiten, dass er in mehrere Teile zersägt wurde und nie wieder aufgestellt wird.

Für viele Russen besteht das Problem, daß sie nur der russischen Sprache mächtig sind und nur in ihrem russischen Informationsraum leben. Die Umstände der russischen Medienwelt sind hinlänglich bekannt.

Richtig. Tut Estland was dagegen? Wo bleibt ein russischsprachiger Fernsehsender? Wieviele russisch-sprachige Radiostationen mit Informationssendungen gibt es?

Das ist gleich aus zwei Gründen unhistorisch: Erstens stammt der Begriff des Faschismus von Mussolini, wohingegen Hitler seine Bewegung als Nationalsozialismus bezeichnete.

Nur nebenbei, in Westeuropa und in USA war es auch recht nebensächlich, ob Sowjetunion sozialistisch oder kommunistisch war.

Die Behauptung, die Rote Armee habe die Deutschen besiegt, läßt außer Acht, das die Sowjetunion nicht alleine gegen die Nazis gekämpft hat. Gerne wird hier die Bedeutung des Kriegseintrittes der USA und die Landung in der Normandie für die deutsche Kapitulation heruntergespielt.

Sowjetunion hat definitiv die größten Verluste an Zivilbevölkerung und Soldaten im 2. Weltkrieg davongetragen. Es gibt kaum eine Familie, die keine Toten zu beklagen hätte. Der 9. Mai ist Tag der Erinnerung an diese Opfer.

Daß die Tests für die Einbürgerung in Sprache und Geschichte eine unüberwindlich schwierige Hürde darstellen würden, ist eine oft wiederholte Mär, auf die Fragen zur Geschichte kann sich der Prüfling vorbereiten und sie sind mit durchschnittlicher Schulbildung problemlos zu beantworten.

Für die Jungen schon, aber auch für die 60-jährige Oma, die ihr ganzes Leben in Narva verbracht hat, wo sie mit 90% russisch-sprachigen auf Russisch kommuniziert hat?

Die Sprachtests fragen keinerlei Grammatik ab, sondern überprüfen lediglich die Kommunikationsfähigkeit, der Bewerber muß also keinesfalls fehlerfrei sprechen.

Das ist auch nur ein Teil der Fakten. Der andere Teil ist die Sprachkommission, die Vorschriften erlässt, wie gut bestimmte Berufsgruppen die estnische Sprache beherrschen müssen, um diesen Beruf ausüben zu können. Und da geht es nicht um Kommunikationsfähigkeit.

Zwar werden etwa die Einwohner der finno-ugrischen Republik Mari El nicht bedrängt, aber eben auch nicht unterstützt. Eine Hochschulausbildung in der Sprache dieser Republik ist nicht möglich

Eine staatliche Hochschulausbildung auf Russisch ist in Estland auch nicht möglich. Die Eröffnung des Ekaterinen-Kolleges mit russisch-sprachigen Bachelor-Lehrgängen wurde vom estnischen Bildungsminister kategorisch blockiert.

Alle Anschreiben sind mehr als nur „emotional“ formuliert, es handelt sich vorwiegend um Beschimpfungen

Deswegen habe ich recht viele (...) bei mir einfügen müssen. Ich hätte auch lieber ein paar Fakten mehr und ein paar Beschimpfungen weniger, aber er ist die einzige deutsch-sprachige Quelle im Gerichtssaal und meiner Meinung nach ist es wichtig zu wissen, was dort passiert. Ich habe auch andere Interviews mit Herr Dornemann, wo er weniger "emotional" über alles berichtet, wenn Sie möchten, stelle ich sie Ihnen zur Verfügung.

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Bronzedenkmal die Dritte erschien im Privatblog von Dr. Reetz

Meine Antwort:

Hallo Herr Reetz,

auf Ihren Wunsch kommunizieren wir auf Ihrem Blog weiter, obwohl ich der Meinung bin, dass so eine Diskussion durchaus fuer die Leser des Estland-Blogs interessant waere, denn wir haben zwei Meinungen, die durchaus die Verhaeltnisse in Estland reflektieren, so dass ein oeffentlicher Meinungsaustausch durchaus interessant waere. Wie dem auch sei.

Sie schreiben, dass das Denkmal schon vorher ein Politikum war. Das ist richtig. Nur wurde er mit der Versetzung von einem kleinen estnischen Politikum, den man mit genuegend Umsicht haette loesen koennen, zu einem grossen europaeischen Politikum, in den auch andere Laender involviert wurden. Oder war das vielleicht das Ziel?

Ein Dialog über diese Denkmäler kann erst zustande kommen, wenn die in Estland lebenden Russen zu reflektieren beginnen, warum sie eigentlich eine so große Minderheit in einem fremden Land stellen.

Wer sagt denn eigentlich, dass Estland ein "fremdes" Land fuer die Russen ist? Wieviele Generationen muss man in einem Land leben, dass es nicht mehr "fremd" ist? Ihnen muss ich nicht erzaehlen, seit wann Russen in Estland leben. Ueberhaupt erinnern mich diese Diskussionen ueber mein Land dein Land an dunkle vergange Zeiten oder an aktuelle Konflikte im Nahen Osten. Sie als Dozent fuer Politikwissenschaften muessten doch wissen, wieviele monoethnische Staaten es auf der Erde gibt. Das Land Estland steht dem estnischen Volk nicht der exklusiven Nutzung zur Verfuegung. Wie lange muss man in einem Land leben, um sich nicht mehr als Gast fuehlen zu muessen? In einem multikulturellen Europa sollte das doch Allgemeingut sein.

(Zu Fernsehsendern) Ja, es gibt die "Aktuelle Kamera". 15 min Nachrichten gegen geballte Informationsmacht der russischen Seite.

Dabei sollte auch nicht vergessen werden, daß die Sowjets und viele nationalistische Russen auch heute noch die Esten wie auch die Letten nicht nur von den deutschen Faschisten befreit haben, sondern diese selbst als Faschisten betrachten.

Solange alle Russen unterschiedlos als Okkupanten betrachtet werden...

... muß die estnische Oma aus Viljandi Russisch können

Herr Reetz, eins kann ich Ihnen versichern, die estnische Oma aus Viljandi war sowjetische Staatsbuergerin ohne, dass sie auch nur ein Wort auf Russisch haette sagen muessen. Estnisch war zu Zeiten der Sowjetunion viel besser aufgestellt, als Russisch jetzt in Estland. Ja, ich weiss in diesem Punkt werden wir einander nicht ueberzeugen koennen.

Übrigens sei abschließend hinzugefügt, daß es auch unter den Russen viele Chauvinisten gibt.

Ich weiss und mit diesen Leuten moechte ich nichts zu tun haben. Ich bin gegen jede Form von Nationalismus, Chauvinusmus, Rassismus, Ueberlegenheitstheorien, Unterdrueckung, Rassenhass, sondern fuer friedliches Miteinander.

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Bronzedenkmal die Vierte Artikel Nr. 4

Meine Antwort:

Hallo Herr Reetz,

langsam bewegt sich die Diskussion in Richtung verschiedene Weltanschauungen, deswegen ist es whl wirklich besser, sie aus dem Estland-Forum zu nehmen.

Warum ist das nicht gut ausgegangen? Die Unruhen in der Banlieue und die alljährlichen Krawalle in Kreuzberg zum 1. Mai sind weder für Paris noch für Berlin angenehm, sind Ausdruck von Problemen, stellen aber keine Staatskrise dar.

Nennen Sie mir ein Artikel, der über die russisch-spachige Minderheit geht und in dem das Wort April nicht vorkommt. Es ist jetzt 3/4 Jahr her, aber immer noch wird darauf verwiesen. Wie oft wird auf die 1. Mai Krawalle verwiesen? Apriler Ereignisse waren ein einschneidendes Augenblick in Geschichte Estlands, deren Bedeutung nicht runtergespielt werden kann.

Daß sich dieses Politikum mit Umsicht hätte lösen lassen, habe ich oft genug in Frage gestellt und meine Zweifel auch begründet.

Leider kenne ich Ihre früheren Artikel zum Thema nicht. Könnten Sie Ihre Begründungen, warum die Proteste hätte nicht vermieden werden können nochmal zusammenfassen? Es ist keine Frage, das Denkmal ist ein Politikum, nur warum es nicht anders hätte gelöst werden können, ist mir nicht klar.

Eben noch beruft Kloty sich darauf, er sei nicht betroffen, da er nicht in Estland lebe, das er aber gleichzeitig als seine Heimat bezeichnet.

Nun, da ich nicht in Estand lebe, bin ich von z.B. der Sprachkommission nicht unmittelbar betroffen. Ich bezeichne Estland als meine Heimat und nicht nur als Geburtsort, weil ich mich mit Estland auseinandersetze, auf meinem Blog und jetzt gerade in Diskussion mit Ihnen. Mir würde auch nie im Leben einfallen Deutschland oder Russland als meine Heimat zu bezeichnen, genau wie der Mehrheit der in Estland geborenen russisch-sprachigen.

Wenn Kloty den Esten die Heimat und die Pflege ihrer Kultur abspricht, und das beinhaltet natürlich auch die Herrschaft über das eigene Territorium, so gilt dies für alle Völker der Welt. Also will er einmal auf der Welt umrühren und alles gleich machen?
Die nach Estland eingereisten Russen haben ihr Mutterland, die Esten aber nur ein, zumal sehr kleines Vaterland.

Jetzt gleiten wir in die wunderbare Welt der Weltanschauungen ab. Die obere Frage wird Ihnen jedes Einwanderungsland beantworten. Ja, USA, Australien, Neuseeland ua möchten alle Einwanderer verrühren und eine neue Nation erschaffen, die möglichst nicht auf Blutverwandschaft basiert. Mit Sowjetdenken hat es nichts zu tun, auch wenn es für mich keine Beschimpfung ist, so wie Sie es verwenden. Ist Estland ein Einwanderungsland mit 30% Nichtesten? Ist Deutschland ein Einwanderungsland mit 5% Nichtdeutschen? Die Antwort auf diese Fragen hängt sehr von der eigenen Weltanschauung ab, da braucht man keine K-Gruppe zu sein.

Gerade die Unterschiedlichkeit macht doch die Welt interessant. Und Kloty sollte es nicht entgangen sein, daß gerade das Leugnen von Identität und das Verbot, sie auszuleben immer wieder zu Konflikten führt.

Richtig, siehe April letzen Jahres, Estland.

kommentiert aber die russische Beschimpfung der Balten und Deutschen als Faschisten mit Verständnis

Herr Reetz, sie unterscheiden nicht zwischen Russen, die, wie sie sagen, alle Esten als Faschisten beschimpfen. Bisschen Diversität wäre auch von Ihrer Seite begrüßenswert.

Und die Frage, welche Stellung das Russische in der Sowjetunion hatte, da kann ich wieder nur auf die bereits erwähnte Hegemonie verweisen. Es war SU-weit die einzige Staatssprache und für jeden, der etwas werden wollte

Englisch ist die Verkehrssprache der EU und unabdingbare Voraussetzung für jeden, der etwas werden will. Und jetzt?

Ich selber wurde noch 1993 in Riga ab Bahnhofschalter angebrüllt, weil ich eine Fahrkarte auf Lettisch kaufen wollte

Tut mir leid für Sie. Höfflichkeit in den Ostblockländern war recht rar, hat sich hoffentlich gebessert.

Und gerade als Deutscher stört mich die fehlende Fähigkeit der Russen anzuerkennen, daß sie im Falle Estlands einen großen Teil von 800 Jahre Unterdrückung zu verantworten haben – nicht nur in der Sowjetzeit.

Stoert es Sie denn als Deutscher, dass Deutschland einen groesseren Teil der 800 Jahre Unterdrückung Estlands nicht anerkennt?

Er rechtfertigt das befinden der Russen in Estland, vermutlich seine Herkunft, findet aber keine Worte des Verständnisses der estnischen Sicht der Geschichte.

Mein Traum von Estland ist ein Neuanfang, ohne Schatten der Geschichte. Überlasst die Geschichte Historikern und nicht Politikern, auch nicht Politikern, die sich als Historiker begreifen. Schaut nach vorne und nicht zurück. In Deutschland hat es nach 1945 mehr oder weniger geklappt, warum nicht auch in Estland?

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Estland im Spiegel der Weltanschauung Artikel Nr. 5

Meine Antwort:

Hallo Herr Reetz,

wir werden wahrscheinlich kaum auf einen gemeinsamen Nenner kommen, dazu sind unsere Ansichten zu verschieden, aber Sie investieren so viel Zeit in Diskussion mit mir, dass ich nicht umhin komme Ihnen zu antworten.

Es gibt einen Unterschied wie ein Politiker und ein Historiker die Geschichte aufarbeitet. Am besten sieht man das am Beispiel eines Militärhistorikers, der die Kriegszüge und Schlachten auswertet und daraus Strategien für das Verhalten in künftigen Kriegen entwirft, die zum Sieg führen. Den Historiker interessiert nicht die Nationalität der teilnehmenden Seiten, er reduziert/extrahiert das historische Ereignis auf Fakten und Faktoren, die für die Strategen von morgen von Interesse sein können. Die Hoffnung dabei ist, dass eine vergleichbare Situation noch einmal eintreffen wird, so dass die siegreiche Strategie zur Anwendung kommen kann. Es stellt sich natürlich die Frage, ob solche Vergleiche ausser im klar definierten militärischen Bereich zulässig sind. Wie oft wurde schon das Beispiel "Münchener Konferenz" angebracht, dass mit Diktatoren keine Verhandlungen geführt werden dürfen, wobei jeder Diktator implizit mit Hitler verglichen wird. Joschka Fischer begründete das Engagement der Bundeswehr in Ex-Jugoslavien mit "Nie wieder Auschwitz" was auch heisse Diskussionen auslöste, ob solche Vergleiche zulässig sind. Was Sie mit dem Beispiel "Antikes Griechenland" anführen, ist ein Beispiel aus diesem Bereich. Ich glaube kaum, dass ein Nachkomme der Athener, heutige Iraner auf Schadensersatz wegen der Perserkriege verklagen würde (ja, ich weiss, einige Mazedonier werden mir jetzt widersprechen). Ein Politiker, der über Geschichte spricht, abstrahiert nicht, sondern spricht über konkrete Ereignisse, die seinem Volk widerfahren sind und die jetzt kompensiert werden müssen. Deswegen sollte man aus der Geschichte durchaus lernen, aber keine Ansprüche ableiten können. Das was die Bundesrepublik Deutschland nach dem 2. Weltkrieg auf sich genommen hat und sich verantwortlich für die Verbrechen des Naziregimes erklärte, ist sehr lobenswert, doch leider auch recht einmalig in der Weltgeschichte. Welche Kolonialmacht hat den schon ihre ehemaligen Kolonien entschädigt, Großbritannien, Frankreich, Italien, Niederlande, Spanien, Portugal? Hat Deutschland die Opfer der Kolonialzeit in Namibia entschädigt? Hat USA ihre afro-amerikanische Bevölkerung für die Zeit der Sklaverei entschädigt?

Selbst wenn Sie die oben angeführte Sichtweise nicht unterstützen, kann man auch konkret-geschichtlich argumentieren. Gerade wird in Estland 90-jähriges Jubiläum der Unabhängigkeit der Republik gefeiert. Es soll ein gigantisches Freiheitskreuz aufgestellt werden über dessen Ästhetik noch Generationen streiten werden, um die momentan schicke Sichtweise auf die estnische Geschichte zu zementieren (im wahrsten Sinne des Wortes). Erinnern wir uns doch, was der Frieden von Tartu eigentlich war, durch den Estland auch diplomatisch anerkannt wurde. Eine illegitime Sowjetregierung und die estnische Regierung erkannten sich gegenseitig an, als erste Staaten überhaupt. Es stellen sich sofort mehrere Fragen: Kann es denn nicht sein, dass die legitime Regierung Russlands durch den Putsch der Bolschewisten von 1918-1991 ausser Kraft gesetzt worden war und deswegen nicht für die Taten der Sowjetunion (unter anderem Okkupation des Baltikums) verantwortlich gemacht werden kann? Wie wirksam ist die gegenseitige Anerkennung von zwei sonst von niemanden anerkannten Staaten? Ist der Frieden von Tartu immer noch in Kraft? Wenn er in Kraft ist, dann war es sehr kurzsichtig von der EU, Estland aufzunehmen, solange der Grenzverlauf mit dem Nachbar Russland nicht geklärt ist (wie Sie wissen, bestehen Gebietsansprüche Estlands an Russland gemäß dem Frieden von Tartu). Wenn er nicht mehr in Kraft ist (oder vielleicht auch niemals war), über welche Unabhängigkeitsfeiern sprechen wir überhaupt? Wie Sie sehen, ist es auch für Estland vorteilhafter, sich nicht allzu tief in konkreter Geschichte zu vergraben, es kann sehr schnell gegen sie wenden. Die völkerrechtswidrige Okkupation würde sich wegen der völkerrechtwidrigen Anerkennung in die Luft auflösen.

Zu der Definition des Begriffes Heimat kann ich nur sagen, dass diese Frage doch so persönlich ist und bleiben sollte, dass eine verbindliche Definition nicht erwünscht ist. Niemand sollte einem vorschreiben können, was er als seine Heimat sieht und ob die Begründung dafür stichhaltig ist oder nicht.

Sie werfen mir vor, dass ich Ihre Artikel kommentiere, ohne sie zu lesen. Keine Sorge, ich lese alles aufmerksam durch, bevor ich antworte. Wie gesagt, mir erschliesst sich bis jetzt nicht, was ein lettischer Denkmal, der zugegebenermassen sich mit der gleichen Thematik auseinandersetzt, mit den gewaltsamen Protesten der russisch-sprachigen Bevölkerung in Estland zu tun hat und den Polizei und Geheimdienstrepressionen als Antwort? Wie Sie vielleicht wissen, in Treptow-Park in Berlin steht auch ein gewaltiger Denkmal zum gleichen Thema, vielleicht gibt es da auch eine Verbindung? Deswegen nochmal meine Frage: Warum denken Sie, dass die Ausschreitungen nicht hätten verhindert werden können, wenn man das Denkmal ehrenvoll umgebettet hätte? Damit wären sowohl die estnischen, als auch die russischen Befindlichkeiten befriedigt worden. Oder ich stelle die Frage mal anders rum. Vielleicht wurden die estnischen Befindlichkeiten erst mit der gewaltsamen Auflösung der Demonstration befriedet worden, denn nach dem Bericht des "Historikers" Peter Kaasik, der aus Hören-Sagen-Lügen bestand und den Andrus Ansip wortwörtlich zitierte, wurde die Anti-Denkmal-Stimmung auf der estnischen Seite richtig aufgeheizt?

Insofern sind Einwanderer in allen genannten Ländern freiwillig gekommen und es ist für sie wichtig, im Interesse des beruflichen Fortkommens, die Landessprache zu erlernen, was von diesen Ländern sowohl erwartet als auch unterstützt wird.

Sie wissen doch hoffentlich selbst, dass es absolut blauäugig ist, was Sie hier schreiben. Waren Sie in der letzten Zeit in USA? Sind Ihnen denn nicht die spanischen Unterschriften auf allen Schildern aufgefallen? USA haben sich hier der Realität gebeugt, dass viele Einwanderer nicht die Landessprache lernen, sondern weiterhin ihre Muttersprache sprechen. Und Sie wissen doch genauso gut wie ich, wie es um die Deutsch-Kenntnisse vieler gebliebener ehemaliger Gastarbeiter in Deutschland steht. Sie fragen mich um meine eigene Sprachkenntnisse? Nun, als ich in Estland lebte, sprach ich durchaus Estnisch, das ich sowohl in der Schule, als auch auf der Strasse gelernt habe, ein paar Brocken kann ich bis heute noch. In Deutschland sind diese Kenntnisse wegen des Nichtgebrauchs recht schnell eingeschlafen, können nach einem längeren Besuch aber recht schnell reaktiviert werden, wie schon mehrere Male geschehen. Ich versuche mit einer estnischen Verkäuferin mich durchaus auf Estnisch zu unterhalten, ist für mich eine Frage der Höflichkeit, aber auch der gewissen Sprachbegabung.

Die SU hingegen war eine Diktatur und faktisch ein Kolonialreich, die sich ihre Gebiete mit Gewalt einverleibt hat und um diese einen eisernen Vorhang zog.

Wenn ich diese Zeilen lese, kommt mir der Spruch von Ronald Reagan vom "Imperium des Bösen" in den Sinn. Vor kurzem war ich auf einer Ausstellung über Dschingis Han's Reich in München und war sehr erstaunt zu sehen, was die blutdurstigen, primitiven Mongolen sich für Methoden einfallen liessen, um ihr riesiges Reich zu beherrschen. Ich denke die Geschichte über die Sowjetunion ist noch viel zu emotional besetzt, um wissenschaftlich verarbeitet zu werden (siehe erster Absatz). Erst die Generationen von Historikern nach uns werden die Frage beantworten können, ob alles an Herrschaftsmethoden der Sowjetunion schlecht war, oder einiges besser gelöst wurde, als in EU oder anderswo. Nur ein Punkt, der nachdenklich macht: In der Verfassung der Sowjetunion gab es theoretisch die Möglichkeit, dass eine Republik austreten könne. Diese Möglichkeit hat ein EU-Staat nicht.

Stört es Sie denn als Deutscher, dass Deutschland einen größeren Teil der 800 Jahre Unterdrückung Estlands nicht anerkennt?“

Ich leugne die Unterdrückung nicht und berichte gegenüber Ausländern aus Deutschland darüber ausführlich. Die Russen aber protestieren regelmäßig, wenn von Okkupation die Rede ist.

Wie schade, dass Sie mich bei der Diskussion auf Delfi nicht unterstützen konnten, als ich dort einen satirischen Artikel veröffentlicht habe, nach dem Estland möglichst keine diplomatischen Kontakte mit USA pflegen sollte, denn damit würden sie ein Regime unterstützen, der seit Jahrhunderten die stolze Nation der Indianer okkupiert. Mir wurde vorgeworfen, dass zum damaligen Zeitpunkt Indianer gar keinen Staat oder kein Verständnis von sich als Volk hätten, um ihre Unterwerfung als Okkupation zu begreifen. Sie hätten mir bei dieser Diskussion sicherlich Beistand geleistet, denn wenn die Esten seit 800 Jahren okkupiert sind, dann sind es Indianer erst recht und zwar bis heute, ohne Anzeichen von Besserung. Sie schreiben doch gerne Briefe an Politiker. Vielleicht sollten Sie die estnische Regierung davon in Kenntnis setzen, dass Sie ihre Beziehungen zu Ländern, wie USA, Kanada, Australien verurteilen. Doch war Präsident Ilves nicht selbst Okkupant, als er in USA lebte? Oder entschuldigte er sich bereits dafür bei den Vertretern der indianischen Minderheit?

Zum Schluss noch ein Wort zu Ihren Phantasien bezüglich der Deportation der russisch-sprachigen Bevölkerung nach der Erlangung der Unabhängigkeit. Sie wissen genau mit was der letzte Versuch der Vertreibung in Europa, nämlich der der Kosovo-Albaner geendet hat. Hätten Sie gerne ein ähnliches Szenario im Baltikum gehabt? Glücklicherweise war selbst der am nationalistischsten denkende herrschende Politiker sich der Folgen bewusst, die solch eine Deportation angerichtet hätte. Die Nichtaufnahme in die EU wäre nur der geringste Schaden gewesen. Ich wäre mir nicht sicher, ob die Landkarte Estlands heute so aussehen würde, wie sie jetzt aussieht.

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Weltanschauung, Fakten und Wissenschaft

„In der Verfassung der Sowjetunion gab es theoretisch die Möglichkeit, daß eine Republik austreten könne. Diese Möglichkeit hat ein EU-Staat nicht.“

Wie Kloty auf diese Weisheit kommt, ist mir schleierhaft.


Das war ein Zitat vom Professor für Politikwissenschaft an der Uni Mannheim Egbert Jahn, vielleicht haben Sie von ihm gehört.

Kloty beginnt an dieser Stelle faktisch mit einer Argumentation der Aufrechnung.

Die Aufrechnung steht im sogenannten Weissbuch, das die "Okkupationsschäden" auflistet und eine detaillierte Rechnung präsentiert. Dieses Weissbuch ist von den Servern des estnischen Aussenministeriums zu beziehen, ich schliesse daraus, dass das offizielle Politik Estlands ist. Also bitte nicht den Bock zum Gärtner machen.

Aber wie definiert sich nach Klotys Ansicht ein unabhängiger Staat?

Ein unabhängiger Staat wird durch Anerkennung anderer unabhaengiger Staaten anerkannt. In diesem Fall erkannten sich zwei Staaten an, die sonst von niemandem anerkannt wurden. Ein Gedankenspiel: Sie und ich kaufen uns zwei Inseln und erkennen uns gegenseitig als unabhängig an. Sind wir zwei unabhängige Staaten? Aber ich schliesse mich Ihnen an, vieles hängt von der politischen Realität ab und nicht vom internationalen Recht, siehe Kosovo.

Einzig hat Rußland unter allen möglichen Vorwänden diese Texte ewig lange nicht ratifiziert.

Die alle möglichen Vorwände war die Forderung nach Anerkennung der Okkupation und Referenz auf den Frieden von Tartu, so dass die Gebietsansprüche nicht endgültig ad acta gelegt werden konnten.

Die Staaten im Osten sind zusammengebrochen, nicht jene im Westen

Es sind schon ganze Imperien zusammengebrochen, und keiner hat je behauptet, dass man aus ihrer Geschichte nichts positives lernen kann. Wie gesagt, eine ideologiefreie Bewertung ist erst im hinreichenden zeitlichen Abstand möglich.

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Diskussion mit Kloty

Hallo Herr Reetz,

nur 3 kurze Kommentare:

Gleichzeitig versteht er nicht, was eine Argumentation der Aufrechnung ist. Daß die Esten vorrechnen, welche Kosten die Okkupation erzeugt hat, ist ihr gutes Recht.

Ist es nicht ein bisschen naiv zu prognostizieren was passiert wäre, wenn Estland nicht von Sowjetunion besetzt worden wäre und daraus Schäden zu berechnen? Wie heisst es so schön: Opportunitätskosten sind keine Kosten? Oder können Sie prognostizieren, was aus Deutschland geworden wäre, wenn Hitler nicht an die Macht gekommen wäre? Ich meine es ist ein beliebtes Thema bei Science-Fiction Autoren in Zeitmaschinen-Romanen, aber ist so was wirklich seriös?

Und ist denn so kurzsichtig, um nicht zu verstehen, das sofort eine Gegenrechnung präsentiert wird, in der z.B. Kosten für die gesamte Infrastruktur, die für die Olympische Spiele 1980 benötigt wurde aufgelistet wird, von den Wiederaufbaukosten nach dem Krieg ganz zu schweigen?

Warum anerkennt Rußland nicht seinerseits die Unrechtmäßigkeit der Okkupation, während die baltische Republiken der Macht des Faktischen, der Vernunft und dem Willen des Westens nachgeben und auf ihr Territorium verzichten.

Sie scheinen nicht zu verstehen, dass das Thema der Territorien überhaupt hochkommt, weil Estland eben nicht ernsthaft auf die Territorien verzichtet, sondern bei jeder passender und unpassender Gelegeheit darauf hinweist (zum Beispiel Umrisse Estlands auf dem jüngst geplantem Unabhängigkeitsdenkmal). Denken Sie doch logisch nach, warum sollte Russland das Thema überhaupt auch nur erwähnen? Sie haben doch die Territorien.

Rußland hingegen beharrt auf dem „nahen Ausland“

Auf was soll Russland sonst beharren, auf "fernem Ausland"? Estland ist nun mal geographisch nah bei Russland und deswegen wünsche ich mir nichts mehr als gute nachbarschaftliche Beziehungen, die mit Stunde 0 anfangen sollten. Unterzeichnet endlich den Grenzvertrag (und das gilt für beide Seiten), hört auf sich in Massenmedien zu beschimpfen (ich möchte hier nicht zitieren, wie Putin und Medwedjew im estnischen Fernsehen genannt wurden), ich verlange keine Männerfreundschaft zwischen Medwedew und Ilves, einfach ungestörte kulturelle, wirtschaftliche und politische Beziehungen zwischen zwei Nachbarländern.

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Der letzte Beitrag

Hallo Herr Reetz,

hiermit möchte ich mich bei Ihnen bedanken, dass Sie so viel Zeit und Mühen in die Diskussion mit mir investiert haben. Diskussion mit Ihnen war bisher die interessanteste und fruchtbarste, die ich seit des Erstellung meines Blogs geführt habe. Sie haben Ihren Standpunkt immer klar und gut argumentiert vertreten und auch nie ausfällig geworden, was in solchen Internet-Diskussionen durchaus keine Seltenheit ist. Wie es aussieht hat keiner von uns den anderen von seinen Positionen abbringen können, aber selbst das ist ein Ergebnis, zumindest kennt jeder die Argumentation der anderen Seite, was auch schon (zumindest für mich) sehr wertvoll ist.

Mit freundlichen Gruessen,

kloty

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