Freitag, Mai 30, 2008

Und noch eine Gerichtsverhandlung

Nach den ausführlichen Berichten zu der Gerichtsverhandlungen über die Mitglieder des Notchnoj Dozor und der abgelehnten Verhandlung über die Misshandelten vom Terminal D gibt es noch eine Gerichtsverhandlung, die in Estland und Russland die Gemüter erhitzt. Der Angeklagte heisst Arnold Meri, er wird beschuldigt bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit beteiligt gewesen zu sein.

Arnold Meri ist am 1 Juli 1919 in Tallinn geboren. Er ist verwandt mit dem zweiten Präsidenten der Estnischen Republik Lennart Meri, was versinnbildlicht, wie zerrissen die estnische Gesellschaft war und immer noch ist. Während Arnold Meri 1940 in die Kommunistische Partei eintritt, wird die Familie von Lennart Meri 1941 nach Sibirien deportiert. 1941 wird Arnold Meri als Mitglied des estnischen Schützenkorps bei den Kämpfen rund ums belagerte Leningrad wegen besonderer Tapferkeit die höchste Auszeichnung Held der Sowjetunion verliehen, er ist heute der einzige noch lebende Este, der diese Auszeichnung hat. Nach dem Krieg macht Arnold Meri Parteikarriere, wobei 1951 ihm sämtliche Auszeichnungen aberkannt wurden. 1956 werden ihm alle Auszeichnungen wieder zurückgeben. Er wird der Vorsitzende der estnischen Gemeinschaft für Freundschaft und kulturellen Verbindungen mit ausländischen Staaten. 1989 wird er pensioniert, beteiligt sich aber nach wie vor am politischen Leben des Landes. So wird er Vorsitzender des estnischen Antifaschistischen Komitees, nimmt an Veteranentreffen teil und hält sich mit seiner Meinung über die jetzige Regierung und politischen Stimmung im Land nicht zurück.

1995 begannen erste Untersuchungen über die Deportation von Zivilisten von der Insel Hiiumaa nach Sibirien, bei denen auch Meri figurierte. Er selbst erzählte schon 1987 einer estnischen Zeitung über seine Beteiligung und zwar als Beobachter. Am 25 März 1949 wurden 251 Zivilisten festgenommen und nach Paldiski übergesetzt, von wo sie nach Sibirien geschickt wurden. Nur 17% der Personen waren physisch kräftige Männer, die eine Gefahr für den estnischen Staat darstellen konnten, es gab viele Kinder. Meri war zu diesem Zeitpunkt Mitglied des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Estlands und der erste Sekretär des estnischen Zentralkomitees des Komsomol. Nach seinen Worten wurde er als Spezialbeauftragter nach Hiiumaa geschickt, um die Angestellte der Sicherheitsdienste zu beobachten, ob sie, die die Deportation durchführten, keine "Gesetze" damaliger Zeit übertreten würden; so musste jeder Deportierte genügend Zeit zum Sammeln bekommen, jede Familie durfte bis zu 500 kg persönliches mitnehmen. Laut Meri verlangte er die Liste der Deportieren einsehen zu dürfen, doch bekam er sie nicht. Daraufhin berichtete er nach Tallinn, dass er jede Verantwortung von sich weist. Dies wurde ihm wohl übelgenommen, so dass er in Ungnade fiel, worauf ihm seine sämtliche Auszeichnungen weggenommen wurden. Einzig seine Stellung als Held der Sowjetunion hat ihm womöglich das Leben gerettet, wobei er freiwillig seiner Verbannung zuvorkam und bis 1960 nach Altai übersiedelte.

Erst im Mai dieses Jahres fand auf Hiiumaa die erste Gerichtsverhandlung statt. Meri, der dieses Jahr 89 Jahre alt wird, ist fast taub, zu 75% blind, ausserdem hat er Lungenkrebs. Bei der Verhandlung gab er an, dass er die Anschuldigung versteht, doch nicht akzeptiert. Nach der Vorlesung der Anklage wurde die Sitzung unterbrochen, damit Mediziner die Verhandlungstauglichkeit Arnold Meris untersuchen können. Von ihnen hängt es ab, ob die Verhandlungen fortgesetzt werden können.

Als scharfer Kritiker des Prozesses ist Russland aufgetreten. Putins Pressesekretär Dimitrij Peskov hofft, dass aus humanitären Gründen, in Berücksichtigung des Alters des Angeklagten, er nicht vors Gericht gestellt wird. Das russische Aussenministerium bezeichnet den Prozess als "schandhaftes Gericht" und "unsauberes Unterfangen". Die estnische Regierung wird "der Verfolgung und Diskreditierung der Veteranen des 2. Weltkrieges" beschuldigt.

Warum reagiert Russland so heftig? Der Sieg über Nazi-Deutschland ist in Russland bis heute heilig, deswegen sind auch alle Personen, die zu dem Sieg betrugen, über jeden Verdacht erhaben und werden verehrt, besonders wenn es Helden der Sowjetunion sind. In einer populären Talkshow wurde die Frage gestellt, kann man einen Helden der Sowjetunion überhaupt vors Gericht stellen? Allein diese Tatsache wird als Provokation empfunden.

Meine Meinung dazu ist, dass ein Held der Sowjetunion selbstverständlich kein Heiliger ist und durchaus Verbrechen gegen Menschlichkeit begehen kann, zudem die Taten, um die es hier geht, erst nach dem Krieg begangen wurden und haben mit seiner Auszeichnung nichts zu tun. In mehreren Artikeln habe ich gefordert, dass alle diejenigen, die sich an den Verbrechen gegen Menschlichkeit beteiligt haben, auch zur Verantwortung gezogen werden. Dass solche Verbrechen nicht verjähren beweist das Zentrum von Simon Wiesenthal, der heute noch nach Nazi-Verbrechern fahndet.

Allerdings muss ich einige Fragen stellen. Warum wurde Arnold Meri erst jetzt vors Gericht gestellt, 12 Jahre nach der ersten Anklage, in einem Gesundheitszustand, der ein Abschluss des Verfahrens in Frage stellt? Wesentlich neue Fakten sind nach seiner Quasi-Selbstanzeige 1987 nicht aufgetaucht. Warum also gerade jetzt? Im Gegensatz zu den Nazis, die von Simon Wiesenthal gejagt wurden, hat er sich nie versteckt, nie den Namen geändert, seine Beteiligung eingeräumt. Die zweite Frage ist, warum ausgerechnet Arnold Meri? Er hat niemanden eigenhändig getötet, hat auch kein Befehl gegeben, hat die Liste der Deportierten nicht erstellt. Sollte seine Version der Geschichte zutreffen, dann kann man ihn vielleicht der Beihilfe beschuldigen, wobei selbst das schwer sein dürfte. Gab es niemanden, den man direkt beschuldigen kann, den Ersteller der Liste der Deportierten, derjenige, der sie unterschrieben hat, den Kommandierenden der Operation "Priboj"?

Es drängt sich der Verdacht auf, dass Meri als unbequemer Gegner der jetzigen Regierung aus dem Weg geräumt werden sollte. Gericht hat bis zum letzten Moment gewartet, denn selbst wenn ein Urteil auf schuldig lautet und Arnold Meri den kurzen Rest seines Lebens hinter Gitter verbringen muss, er definitiv keine Zeit haben wird, vor einem internationalen Gericht zu klagen und womöglich auch noch Recht zu bekommen. Die Politik der Nadelstiche gegenüber Russland wird erfolgreich fortgesetzt, wobei immer betont wird, dass das Verhältnis zum grossen Nachbarn gut ist und wenn nicht, dann ist es definitiv Schuld Russlands. Die russisch-sprachige Minderheit verliert eine ihrer Führungs- und Identifikationsfiguren.

Es bleibt also dabei, obwohl ich dieses Gericht grundsätzlich für richtig und notwendig halte, um die Verbrechen in der Geschichte Estlands aufzuklären, bleibt ein Beigeschmack übrig, dass sehr viel aktuelle Politik in diese Verhandlung involviert ist.

Mittwoch, Mai 28, 2008

Ein Protestschreiben und eine Antwort

Inzwischen hat sich um Herr Dornemann eine Gruppe von deutschen Unterstützern gebildet, die in Estland und Deutschland verschiedene Aktivitäten entfalten. So wurde ein Protestschreiben mit Unterschriftslisten aufgesetzt und unter anderem an Raivo Aeg, seines Zeichens National Police Commissioner geschickt.

In seiner Antwort teilt Herr Aeg mit, dass die strafrechtlichen Voruntersuchungen im Fall Dornemann mit Verfügung vom 08.05.08 eingestellt worden sind, weil keine Person identifiziert werden konnte, die sich einer Straftat schuldig gemacht habe.

Zur Dokumentationszwecken stelle ich beide Schreiben online.



Dienstag, Mai 27, 2008

Gesucht für ein Dokumentarfilm

Eine Münchener Filmschaffende sucht für ein Dokumentarfilm (Arbeitstitel "Estnische Farben: blau, rot, grau") Leute in Estland, die zwar unterschiedliche Pässe haben (blaue, rote und graue), aber trotzdem miteinander verbunden sind, sei es als Familienmitglieder oder Nachbarn, Kollegen, Freunde, Kommiltonen... In dem Film soll es um die unterschiedliche Sichtweisen der neuen estnischen Geschichte gehen, die von der Farbe des Passes abhängig sind und das Verhältnis untereinander. Der Film selbst soll noch dieses Jahr in Estland gedreht werden.

Interessenten oder jemand, der solche Gruppe von Leuten kennt, bitte bei Olga Richter (olga-richter at gmx.de) melden.

Vielen Dank

Montag, Mai 26, 2008

Bericht zu Demonstration am 27.04 am Hafen

Ich habe ein Bericht von Herrn Dornemann bekommen, in dem er das Meeting am Jahrestag der Bronzenen Nächte am Terminal D beschreibt. Ich veröffentliche ihn in ungekürzter Form und habe auch Herr Dornemann gebeten selbst Stellung zu auftauchenden Fragen zu nehmen.

Sehr geehrte Damen und Herren und alle Freunde !

Ich will hier nun ihnen einen aktuellen Bericht über die allgemeine Lage in Estland abgeben, um endlich den blauäugigen Träumern im Westen zu zeigen, wie Estland sich in der EU verhält. Sind doch die Erfolge längst Vergangenheit, weil man sich mit Firlefanzereien abgibt, ohne dem wesentliche Problem zu begegnen. Kindergartenpolitik würde ich das nennen, wenn man mich dazu fragen würde.

Ganz gegen meine Art vermeide ich es aber, Namen zu nennen, um nicht in irgendeine Meinungsecke zu geraten, wie es dann getan wird, wenn Andersdenkenden die Argumente ausgehen, und das ist oft genug der Fall, wie ich durch entsprechende Zuschriften sehe.

Als ich am Sonntag, es war der 27. April, gerade von der Erinnerungsdemonstration zu den Geschehnissen um den „Bronzenen Soldaten“ am 27. April vergangenes Jahres kam, die ich persönlich angemeldet habe, setzte ich mich hin, um diesen Bericht zu verfassen..

Wiederum war die Geheimpolizei „Kapo“ mit dem riesigen, grauen Bus, bespickt mit den erwähnten modernsten Spionageelektroniken längst vor der Veranstaltung vor Ort, allerdings waren vielleicht nur hundert Demonstranten dort und ein großes Aufgebot an Journalisten, sicherlich auch nicht weniger als tagszuvor, also gegen 3o Journalisten, auch diesmal waren mehrere estnische Medien vertreten. Für estnische Verhältnisse war die Teilnehmerzahl ein durchschnittlicher Erfolg.

Ab und an lugte verdeckt einer der Kapo-Busbesatzung hinter dem Ungetüm hervor und machte Aufnahmen. Ich ging dann dorthin und meinte, sie könnten mich auch so photographieren und brauchten das nicht heimlich zu tun. Frech fragte einer derer mich, ob ich ein Problem hätte. Nee, meinte ich, wohl eher sie, denn ich verstecke mich ja nicht. Zu Hause stand dann die Polizei vor der Tür. Was immer die da denn wohl wollte. Einschüchterung ist angesagt, bei den Esten funktioniert das traditionell auch gut, bei mir weniger.

Ansprachen wurden keine gehalten, doch war eine von den Leuten gehaltene Plakatwand das Haupt der Information. Es war mehr eine „Abeitsveranstaltung“ und so gab es viele Diskussionen mit Passanten und neugierigen Besuchern, allerdings erschreckend viel Nationalismus. Viele Besucher scheuten sich demonstrativ auf Photos zu erscheinen oder ins Blickfeld zu geraten, weil sie ansonsten ihren Arbeitsplatz verlieren werden. Weiß man das im Westen??

Die schon gestern erwähnte einzige deutsche Journalistin, Frau van Detten, hatte sich auch heute nicht blicken lassen, was ich auch so erwartet hatte und ich vermute mal böse wie ich bin, daß sie die Reise ins Baltikum eigens für eine Berichterstattung auf Geschäftskosten gemacht hat und dann einen Bericht konstruiert, ohne dabeigewesen zu sein, weil sie Besseres zu tun gedachte. Halt typisch deutsches Informationsgehabe. Es läßt sich eben viel besser über die Farbe der Unterhosen von Paris Hilton berichten. Ich meine, es geht nicht ohne Bissigkeiten gegen die Massenberichterstattungen, was mir ja nicht schwer fällt, wie sie wissen und die Stadtpolizei heute aktuell durch mich erfahren konnte. Die Polizei war nur für unsere bescheidene, völlig ruhige Maßnahme mit mehr als vierzig Beamten ( ohne Kapo) in sicherem Abstand aufgezogen und als wir die Veranstaltung pünktlich beendeten und etwa 2o Leute zum Terminal D schlenderten, vielleicht achthundert Meter Wegs, wer war schon da, natürlich der graue Bus und ein Polizeiaufgebot. Nach einem Photo vor dem Bus fuhren wir zum Gericht und, wer war schon da, der graue Bus. Das nennt der Spiegel dann Demokratie und zeigt die garantierte, verfassungsverankerte Versammlungsfreiheit, waren unsere Treffen doch entsprechend genehmigt. Mir sagte mal ein Polizist hier, die Polizei darf alles. Ein Journalist des hiesigen „Postimees“ diskutierte mit mir über das neue Gesetz zur Einführung der Elektroschocker zum Gebrauch bei der estnischen Polizei als ein wahrlicher Fortschritt um Ordnung zu schaffen.

Den Aufwandt, den ein so bevölkerungskleines Land zur Überwachung und Einschüchterung seiner Bürger treibt, kommt dem der DDR oder der Sowjetunion gleich. Wer bezahlt das nur bei der momentanen, miesen Wirtschaftslage? Natürlich die EU und damit wesentlich der deutsche Steuerzahler, denn die ehemals großzügigen skandinavischen Staaten haben der estnischen Großkotzigkeit wegen ihre nicht unerheblichen Zahlungen längst eingestellt. Dem Beispiel sollte, nein muß die EU und auch alle anderen Geldgeber folgen. Solche Verschwendung fremder Steuergelder gab es vorher nur in sogenannten Entwicklungsländern, ich denke da besonders an die goldenen „Badewannen“ in Afrika in den 60-iger Jahren, oder ein bißchen an die Bokassa-Zeit.

Sie werden`s nicht glauben, berichtet doch unsere Botschaft und andere wichtige, hier vertretene Informationsträger ganz anderes. Nur habe ich keinen Vertreter derer irgendwann mal irgendwo gesehen, wenn es keinen Imbiß gab und bei uns gab es halt keinen. Auch Vertreter der hiesigen Menschenrechtsorganisation haben sich bis zum heutigen Tage nirgendwo sehen lassen, publizieren aber fleißig, sogar Bücher. Woher nehmen die ihre hellseherischen Kenntnisse?

Immerhin können einige Ausländer, Kenner der Lage, das alles bestätigen und den vielen selbsternannten Kennern im Westen Erfahrung entgegensetzt werden, darunter Südafrikaner, Australier, Briten, Dänen, Deutsche, die allesamt schon seit mehr als zehn Jahren hier leben. Eine Liste dazu werde ich erstellen und später auch veröffentlichen. Allerdings finden sie alle kein Gehör, paßt es doch nicht in aller Denkmodell, vor allem nicht der politischen Führung in Deutschland, merken sie denn überhaupt wie unwissend sie sind. Wer gesteht sich das schon ein?

Nun zum Abschluß die große Frage, wie kann das alles so sein, ohne daß irgendjemand aus der gesamten europäischen Politik jemals davon auch nur einen Hauch davon mitbekommt ? Ich will mein Urteil dazu nicht verraten, denn es fällt vernichtend aus. Aber es gibt ja ausreichend Klugsprecher, die wissen das besser als ich wie z. B. ein Gewisser C.-J. C., der mir kurios schreibt ………….. Nun habe ich allerdings Ihre Veröffentlichung bei kloty gelesen und bin doch entsetzt, wie unkritisch Sie offensichtlich das Ganze verarbeiten……………..wenn Sie denn tatsächlich völlig unbeteiligt in die polizeilichen Maßnahmen geraten sein sollten. Da habe ich jetzt allerdings so meine Zweifel, die nur Sie ausräume können. Aber auch viele andere, wie der Dr. A. R. Die mir allesamt auch noch emotionales Reagieren vorwerfen, ohne zu wissen, daß das was ich tue Leidenschaft ist, und das ist ein völlig anderer Schuh. Ist doch emotional kurzzeitig, spontan, unüberlegt, während leidenschaftlich genau das Gegenteil ist.

Die breite Berichterstattung selbst aus der estnischen Presse war nicht so schlecht wie „erhofft“. Das finde ich erstaunlich, nur deutsche waren nicht zu sehen (van Detten!).

Sie werden verstehen, daß ich keine Rechtfertigung nötig habe, denn meine Aussagen sind weitverbreitet anerkannt und auch autorisiert. Trotzdem wünschte ich denen mal dieses Schicksal. Das dann folgende Gejammer möchte ich nicht hören.
Aber wie es eben so ist im Leben, die Besserwisser stützen natürlich die Autoritäten, hier die Polizei, ohne geringste Kenntnisse zu haben.

Nun nochmal zurück zu den beiden Demonstrationen. Es waren ja nicht meine ersten Auftritte
und unter Einbeziehung der gesamten Lage waren es gelungene Veranstaltungen. Heute noch schüttelten mir mehrere Taxifahrer in der Stadt spontan die Hand und meinten, daß ich mich für deren Belange so einsetze, finden sie gut. Übrigens werde ich zu gegebenerer Zeit alle jene zu Wort kommen lassen, die das so sehen und auch so empfinden.

Übrigens ist der Gerichtsprozess gegen die sogenannten Drahtzieher oder Aufrührer zum zweiten Mal vertagt, nun bis zum November. Ist schon seltsam. Vermutlich braucht man diese lange Zeit, um wie schon mehrfach geschehen, ein Gesetz zu erstellen, um die vier verurteilen zu können.

Für heute lassen wir`s mal damit gut sein. Ich muß vorsichtig sein, werde ich doch überwacht, was mir ein einfältiger Este meinte sagen zu müssen, das gehört zu einem demokratischen Staat wie Estland dazu. Ich habe gelacht darüber, vielleicht können sie das emotional auch.

Immerhin habe ich emotional für diesen Bericht vier Wochen gebraucht.!!
Ihr emotionaler Berichterstatter aus Estland, Klaus Dornemann




Donnerstag, Mai 15, 2008

Prozess an sich

Folgenden Artikel von Jewgenia Garanza von der Zeitung Den za Dnjem in dem sie die Fortsetzung der Gerichtsverhandlung um die Anstifter der "Bronzenen Nächte" beschreibt, habe ich übersetzt.

Prozess an sich

- Fähnrich, mögen Sie Kinder?
- Nein, aber den Prozess
Ein Witz mit Bart

Vom fünften bis zum siebten Mai verlief in dem Harju Gericht die nächste Etappe der Verhandlung in der Sache Dimitrij Klenskij, Dimitrij Linter, Maksim Reva und Mark Siryk, die der Organisierung von Massenunruhen beschuldigt werden.

Wenn ein Theater mit einer Garderobe beginnt, so fing die neue Etappe der Gerichtsverhandlung über die Angeklagten in Organisierung von Unruhen Dimitrij Klenskij, Dimitrij Linter, Maksim Reva und Mark Syrik mit den Toren des Metalldetektors am Eingang an. Ein älterer Wächter schüttelt energisch eine aufgebracht piepsende Tasche des Fräuleins-Korrespondents vom Russländischen Rundfunk.

- Natürlich piepst es, dort ist Geld drin - verteidigt sich das Fräulein
- Eisernes Geld - mit Naivität eines Adams am ersten Tag der Erderschaffung wundert sich der Wächter
- Kopeken!

Meine, nicht weniger tiefe und laute Tasche, hat man in das Gerichtsgebäude ohne Widerspruch reingelassen. Schätzen wir das als eine Massnahme zur Unterstützung des heimatlichen Informationserzeugers.

Zwischendurch versammelt sich langsam im Foyer eine Gruppe von Unterstützern der Angeklagten. Ein nicht mehr frisch aussehender Mann mit der Armbinde "Notchnoj Dozor", fitte ältere Damen mit roten Fähnchen. Ein Herr mit grau-melierten Schläfen und dem Georgen-Bändchen auf der Brust erzählt mit einschläfernder, aber klingender Diakon-Stimme auf Englisch dem Fernseh-Aufnahmeteam irgendwas über "Cruelty against people..." Reva kommt und dankt den Unterstützern. Klenskij und Linter unterhalten sich hauptsächlich mit den Anwälten. Der jüngste der Angeklagten, Mark Syrik, kommt so leise, ich bemerke ihn erst im Gerichtssaal.

Die Schwierigkeiten mit der Übersetzung

Die erste nicht nur ins Auge, sondern auch ins Ohr springende Besonderheit des Prozesses: schreckliche Akustik im Gerichtssaal und nicht weniger schreckliche Aussprache aller Beteiligten. Die Angeklagten und die Zeugen könnte man noch verdächtigen in ihrem Wunsch die Arbeit des Gerichts zu erschweren, doch auch die Staatsanwältin und die Richterin nuscheln die Fragen in ihren nicht vorhandenen Bart und Verschlucken die Berichte so, dass sogar die ersten Reihen nur noch die Fetzen des Gesprächs erreichen.

Fügen wir die Synchronübersetzung in beide Richtungen hinzu und als Ergebnis kommt periodisch folgendes heraus, dass die Staatsanwältin denkt, dass der Angeklagte auf ihre dritte Frage antwortet, der Angeklagte - auf die zweite und die Gerichtsschreiberin - fast heulend - beschwert sich, dass sie die erste noch nicht protokollieren konnte.

Einige Fragen ändern sich als Resultat von mehrfachem Nachfragen und Übersetzung fast bis zur Unkenntlichkeit.

Staatsanwältin an den Zeugen: Wer von den Angeklagten trat auf bei den Versammlungen des "Notchnoj Dozor"?
Zeuge: Auftritte gab es keine, die Leute haben einfach geredet, einige mehr, andere weniger.
Staatsanwältin: Wer hat das Wort geführt?
Zeuge: Derjenige weilt nicht mehr unter uns. Er ist ein Fotograph, ein Mensch, Vladimir Studentskij. Er hat am meisten gelitten.
Staatsanwältin: Er wird nicht beschuldigt. Sie möchten sagen, dass niemand von den Angeklagten aufgetreten ist?
Zeuge: So ist es, dass eine konkrete Person auftrat, so was gab es nicht.
Staatsanwältin (nach langen Diskussionen): Antworten Sie auf die Frage, hat Linter das Wort genommen?
Zeuge: Natürlich ist er aufgetreten. Sonst würde er nicht hier sitzen. Doch der Unterschied zwischen das Wort nehmen und einer Rede ist recht gross.

Der Unterschied zwischen "Wort nehmen" und "auf einer Versammlung auftreten" ist wohl recht gross.

Eine Aufmerksamkeit verdient auch die Methode der Staatsanwaltschaft die Frage zu stellen. Die Staatsanwältin sucht lange nach Wörtern, doch trotzdem ist das Endergebnis so unkonkret, dass auch ein Journalist mit grosser Interviewerfahrung nur schwer vermuten kann, wie man auf die Weise gestellte Frage antworten könnte. Zum Beispiel:

Staatsanwältin an den Zeugen: Wie war die Art der Auftritte (vom Linter, Anm. des Autors)?
Zeuge: Er hatte mehr Erfahrung, deswegen habe ich mehr auf ihn gehört. Volodja Studentskij habe ich auch angehört. Aber keiner hat zu etwas aufgerufen.
Staatsanwältin: Ich frage über die Art der Auftritte.
Zeuge: Wie man das Denkmal vom Wegtragen schützt. Genauer gesagt, zu damaligen Zeitpunkt, vor Schändung.
Staatsanwältin: Welche Mittel hat Linter vorgeschlagen?
Zeuge: Verstehe ich nicht...
Staatsanwältin: Aber das war doch das Ziel der Gründung der Bewegung...

Über was soll der Zeuge nun reden: über die Ziele der Bewegung, über die Art der Auftritte oder über die von Linter vorgeschlagene Mittel des Protestes?

Einmal, nachdem sie dem Zeugen klarmachte, dass er auf ihre Frage nicht geantwortet hat, musste die Staatsanwältin lange grübeln, wonach sie ihn den gefragt hat.

Zeugen, die ihre Gedanken klar formulieren können, sind eine grosse Seltenheit. Natürlich haben es die Übersetzer nicht leicht, deswegen geben sie dem chaotischen Redefluss den Sinn, den sie aufgeschnappt haben. Die Folgen werden sofort sichtbar: am zweiten und am dritten Tag ergeben sich Situationen, als die Staatsanwältin und der Advokat die Antworten des Zeugen verschieden in Erinnerung haben. Im ersten Fall stimmten meine Aufzeichnungen (ich versuche alles wörtlich zu fixieren) mit der Version des Advokaten überein, im zweiten Fall mit der der Staatsanwältin. Interessant, dass weder beim ersten noch beim zweiten Mal ist es den Streitenden nicht in Kopf gekommen sich mit dem Protokoll der Sitzung abzugleichen. Vielleicht vertrauen sie selbst nicht darauf?

Ich bin keine Juristin, deswegen weiss ich nicht, ob es für normale Sterbliche unbekannte Begründungen gibt, dass man die Sitzung nicht auf ein Diktafon aufzeichnet und später genau dechiffriert, aber schon jetzt ist es klar, dass die Anzahl der Ungenauigkeiten des Verstandenen im Gerichtsprotokoll, die dorthin aus rein technischen Gründen gerieten, sehr hoch sein wird.

Zudem haben sich die Aussagen von Mehrheit der Zeugen im Gericht im vielen unterschieden, was sie im Laufe der Untersuchungen im April-Mai 2007 gesagt haben. Die Zeugen selbst erklären das mit der Ungenauigkeiten der Übersetzung während der Untersuchungen. Und selbst wenn man vermuten könnte, dass bei der Polizei gleich nach den "Bronzenen Nächten" die Leute einfach mehr gesagt haben, als sie jetzt in viel entspannteren Atmosphäre des Gerichts zu wiederholen bereit sind, vor dem Hintergrund des prozeduralen Schindluders kann man ihre Behauptungen nur schwerlich in Zweifel ziehen.

Erstaunen Sie mich

Der erste Tag fing mit der Befragung von Mark Siryk an. Wenn man aufgrund der Fragen, die die Staatsanwältin dem jungen Mann stellt, eine Anklage begründen kann, dann könnte man wenn nicht das halbe Land hinter Gitter bringen, so doch sicher alle Journalisten.

- Wissen Sie wieviele Mitglieder hat die Bewegung "Naschi"?
- Wieviele Kommissare?
- Woher wissen Sie das?

(Als Experiment habe ich diese Information im Internet innerhalb von 30 Sekunden gefunden).

Staatsanwältin: Was bedeutet aus ihrer Sicht die sowjetische Symbolik ... für das estnische Volk?
Siryk: Ich zähle mich für einen Russen und das estnische Volk soll selbst darauf antworten. Jeder hat seine Sicht.
Staatsanwältin: Sie sagen, dass die nicht wissen, was die sowjetische Symbolik für das estnische Volk bedeutet. Und für sie?
Siryk: Für mich ist das die Symbolik des Landes in dem ich geboren wurde und deren, die die Welt von Faschismus befreit haben.

Siryk kommentiert seine Gespräche in Messenger, wo er unter dem Pseudonymen "Erstaunen Sie mich" aufgetreten war, erzählt, wie er half die Fahrt der "Naschi" nach Estland zu organisieren, er stellte das kulturelle Programm zusammen. Mark verneint, dass er jemals ein Kommissar dieser Organisation gewesen sei. Er sagt, er schaffte nicht bis zum Ende den Ausbildungsprozess und blieb ohne das Kommissarabzeichen.

Die Staatsanwältin interessiert sich, ob für die Teilnahme an der Wache auf Tõnismägi Geld bezahlt worden sei.
Siryk: 16 Stunden zu bewachen ist eine schwere Arbeit. Heute tut man für Geld sogar die Strassen aufräumen. In jedem Fall war das eine Idee und ist auch eine Idee geblieben. Wir standen aufgrund eigener Initiative.
Staatsanwältin: Sie sehen einen Unterschied zwischen freiwilligen und bezahlten Arbeit auf jedem Level?
Siryk: Ich sehe einen. Wenn es eine Bezahlung gäbe, wäre es eine Belohnung für die schwere Mühe. Es gibt Programme, wo man Freiwilligen auch Taschengeld gibt, oder die Unterkunft bezahlt.

Grundsätzlich stellt sich die Ansicht, dass die Staatsanwältin nicht besonders darauf aus ist, den gestrigen Schüler in die Zange zu nehmen. Wenn Mark keine genaue Antwort geben kann und versucht zu philosophieren, wartet sie nicht ab, bis er was falsches sagt und würgt ihn müde ab: "Machen sie es sich nicht zu schwer. Sagen Sie einfach, dass Sie sich nicht erinnern..."

Im Vergleich zu Bublikov nicht schlecht...

Nach Siryk hört das Gericht die Aussage eines Zeugen aus der Zahl der ehemaligen Teilnehmern der Bewegung "Notchnoj Dozor". Der Zeuge arbeitet auf dem Bau.

Die Staatsanwältin versucht mit ihm zu klären, ob Linter der Führer von "Notchnoj Dozor" war, weil aus den Ausführungen des Zeugen während der Voruntersuchung rauskam, dass Linter nach dem Tod Studentskijs die Initiative in der Bewegung ergreifen wollte.
- So ein Wort - Führer - kommt bei mir im Kopf gar nicht vor. Führer - ist viel zu laut. Ich kann sagen, Linter war aktiv - verteidigt sich der Zeuge.

Staatsanwältin: Welches Wort benutzen Sie anstatt "Führer"
Zeuge: Aktiver...
Staatsanwältin (im Ton einer Grundschullehrerin): Und welches anderes Wort kann man anstatt "Aktiver" benutzen?
Zeuge (im Ton eines Vierer-Kandidats, dem endlich vorgesagt wurde): Aktivist!
Staatsanwältin: Ist Linter aktiv aufgetreten?
Zeuge: Im Vergleich zu mir, mehr oder weniger.

Hier habe ich mich aus irgendeinem Grund an Novoselzev aus dem Rjazanschen "Angestellte- Roman" (eine sehr bekannte sowjetische Filmkomödie Anm. des Übersetzers) erinnert, der auf die Frage nach seinem Befinden, nach dem Bekanntwerden des Todes des Kollegen Bublikov, antwortete: "Im Vergleich zu Bublikov, nicht schlecht".

Klenskij im Original

Am zweiten Tag kam die Anklage zu den Zeitungen.

Staatsanwältin: Wie bekamen Sie Informationen über Versammlungen, Meetings, Wachen?
Zeuge: Die Wachen fanden regelmäßig statt. Über sie brauchte man keine Information zu bekommen. Quellen über Meetings gibt es verschiedene. Telefon, elektronische Post, Presse.
(...)
Staatsanwältin: Wessen Artikel und Meinungen haben Sie gelesen?
Zeuge: Ich suche speziell nicht rum, damit ich Information über Meeting finden kann und teilnehmen.
Staatsanwältin: Haben Sie die Artikel von Klenskij gelesen?
Zeuge: Ja, auf jeden Fall. Sehr gute Artikel.
Staatsanwältin: Welchen Inhalt hatten die Artikel?

Interessant, muss man daraus folgern, dass ein Artikel, der in einer legalen Printausgabe erschienen ist, der keine Beanstandungen seitens der Regierung oder der Kontrollorgane der Presseethik bekommen hat, Grundlage für eine Anklage werden kann?

Andere Informationsquellen, die von den Zeugen und Angeklagten genannt wurden, sind aus der gleichen Operette: Portal "Delfi", Seite von "Notchnoj Dozor", Radio, estnische Fernsehkanäle. Sogar die Mailings des "Notchnoj Dozor" haben fast alle heimischen Massenmedien bekommen. Bei all dem genannten, der ernsthafteste Grund für eine Anklage wären Fragmente des Mailaustausches der "Dozor"-Mitglieder über den Druck und Verbreitung von Flugblättern. Nur für den Fall natürlich, falls man beweisen kann, dass der Inhalt des Flugblattes kriminell gewesen sei.

Zarenkov im dunklen Königreich

Im Ganzen strengt sich die Anklage an, die Bestätigung zu finden, dass das Volk wegen dem Aufruf des "Notchnoj Dozor" sich am Tõnismägi versammelt hat, die Verteidigung versucht zu beweisen, dass es eine unkoordinierte Aktion des Protestes gegen die Taten der Regierung und der Polizei gewesen ist.

Es setzt sich die Vorstellung durch, dass als Hauptziel der Anklage Linter und Klenskij auserwählt wurden. Linter als ein Führer des "Notchnoj Dozor". Klenskij als vermutlicher Autor des Aufrufes sich am Tõnismägi zu versammeln und als Erstellter des Dokuments, den die Staatsanwältin als "Plan zur Vorbereitung des 9.Mai" bezeichnet (die Version der Verteidigung ist, es seien nur auf die Schnelle ohne besondere Reihenfolge von Klenskij notierte Ideen, die von Teilnehmern einer besonders zahlreich besuchten Versammlung von "Notchnoj Dozor" ausgesprochen wurden). Auf Reva und Siryk, zumindest während dieser drei Tage, verwendet die Staatsanwältin erheblich weniger Aufmerksamkeit.

Ein Lichtstrahl in das dunkle Königreich brachte plötzlich der Politiker Andrej Zarenkov. Er erschien im Gericht ausgezeichnet gekleidet, formulierte seine Gedanken mit ungewohnten für ihn Klarheit, antwortete konkret auf die Fragen, kam nicht durcheinander in seinen Angaben und verriet die Brüder im Geiste nicht. Er war ausgesucht höflich, die Richterin bezeichnete er nur: Euer Ehren. Man hätte sehen sollen, wie die Richterin aufgeblüht ist! Die Blütezeit ging an der Staatsanwältin vorbei. Bestimmt weil Zarenkov sie irgendwarum nur als Herr Staatsanwalt ansprach.

Anstatt Kommentars:

Bolivar hält nicht aus

Die ganzen drei Tage während des Prozesses quälte mich dasselbe Gefühl, das ich vor einem Jahr während der Aprilen Geschehnisse empfand. Ein Gefühl, das am besten eine veraltete, doch nichtsdestotrotz treffende Phrase ausdrückt: Ich schäme mich für das Land! Weil das, was vor einem Jahr rund um Tõnismägi geschah und das was jetzt im Gerichtssaal passiert, ohne Unterscheidung zwischen Gerechten und Schuldigen, Richter und Angeklagten, Volk und Staat kann man in zwei Worten ausreichend beschreiben: beschämend und unprofessionell.

Man kann durchaus die Verantwortung für die Unruhen vom 26-27 April 2007 an die Vierer-Clique Klenskij-Linter-Reva-Siryk auferlegen. Doch lassen Sie uns die Geschichte bis zu ihrem logischen Ende fortführen und bestrafen gebührend alle anderen, die im gleichen Masse dazu beitrugen, dass "die Bronzene Nacht" gelang.

Also, die Verschwörer-Dozor-Mitglieder - schuldig. Weiter, selbstredend, schliessen wir alle Massenmedien, die ihnen jemals die Bühne gegeben haben und so beitrugen die Aufruhrstimmung zu stiften, vom soliden öffentlich-rechtlichen Fernsehsender und Radio bis zu sensationslüsternen Kanal 2 und skandalgierigen "Delfi", die Zeitungen vergessen wir auch nicht. Nach den Journalisten marschieren im Stechschritt ins Gefängnis die Polizisten, weil sie die öffentliche Schändung der Staatsfahne ermöglichten, die Verkaufsstände und Vitrinen nicht retten konnten und überhaupt nicht erfolgreich waren.

Premier-Minister Ansip, der von der Polizei und Massenmedien aufgestachelt wurde, auch dorthin, in die Kammer, für den betrunkenen Panzerfahrer und absolute Unzuverlässigkeit in seinen Versprechungen, so dass das Volk aufhörte jeden Versprechungen der Regierung Glauben zu schenken. Die restlichen Mitglieder der Regierungskoalition, die in Rekordzeit den mit solchen Mühen und hauptsächlich nicht mit ihren Händen aufgebauten Image des Staates untergruben, auch dorthin. Den oppositionellen Bürgermeister von Tallinn Savisaar, der die Menge nicht zur Vernunft bringen wollte, sonnenklar, auch dorthin. Liim - Bem - Madisson - hinter Gitter, dort wird es ohne sie langweilig. Soziologen Juhan Kivirähk, der es wagte, die Verantwortung für die Bronzene Nächte der Regierung aufzuerlegen - in den Bau. Nach ihm in voller Besatzung schicken wir die Jury, die Kivirähk als Freund der Presse betitelte und den Oberhaupt der Regierung als deren Feind bezeichnete. Nach ihr - all diejenigen, die in diesem Jahr sich sicher waren, dass die jetzige Regierung zurücktreten soll und zudem sich gegen die Bildungsreform, Steigerung der Preise und Begrenzungen auf Alkoholverkauf aussprachen - denn das ist praktisch ein Aufruf zur Abschaffung der Verfassung!

Und wenn wir, als ein ganzes Land uns endlich in einer Kammer wiederfinden, vielleicht dann könnten wir uns absprechen. Falls wir uns natürlich nicht beim Verteilen des Bettlagers zerstreiten.

Doch da Bolivar unseres Strafsystems solch eine Volksmasse nicht aushält, so wäre das einzige was ich an Stelle des Staates machen würde, falls er sich Gedanken über sein Image machen würde: den "Bronzenen Prozess" so schnell wie möglich beenden, ohne Lärm, ohne Staub und ohne Opfer. Solange er uns in Übereinstimmung mit dem im Vorwort erwähnten alten Witz keine sehr unsympathische Kinder in der Schürze bringen wird.

Mittwoch, Mai 07, 2008

Ergänzung zum letzten Artikel

Kaum habe ich im letzten Artikel über die Kommunisten hergezogen, die immer noch ungestraft an Hebeln der Macht sitzen, gleich werde ich durch einen britischen Abgeordneten des Europaparlaments bestätigt.

Montag, Mai 05, 2008

Eine Geschichte - viele Interpretationen

Ein grosses Hindernis auf dem Weg des gegenseitigen Verständnisses zwischen Esten und Russen ist das unterschiedliche Geschichtsverständnis. Beide Seiten werfen einander vor die Geschichte nicht zu kennen, und gleichzeitig wird behauptet dass man selbst sich sehr gut in der Geschichte auskennt. Was ist also das Problem, es wird über die gemeinsame Geschichte (die Geschichte der Sowjetunion) gesprochen ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Vielleicht ist die Lösung des Rätsels, dass über zwei komplett verschiedene Perioden der Geschichte der Sowjetunion gesprochen wird und dabei nicht konkretisiert wird welche man gerade meint.

Estnische Sicht auf die Sowjetunion ist hauptsächlich die Sicht von 1939-1953, also die Zeit, als die Rote Armee nach Estland einmarschierte, so dass die unabhängige Republik Estland ihre Unabhängigkeit verlor. Die anschliessenden Deportationen liquidierten die estnische Schicht der Intellektuellen und Regimegegner, die von der deutschen Besatzung Hilfe erwarteten und nicht bekamen. Nach dem Rückzug der Wehrmacht, setzen sich die Deportationen der Regimegegner fort und die Angriffe der Waldbrüder wurden mit Repressionen gegen die Zivilbevölkerung beantwortet. Die Periode der stalinistischen Diktatur hat sich für immer in das estnische Kollektivgedächtnis eingebrannt und definiert heute die Erinnerung an die Sowjetzeit. Der estnische Präsident Ilves geht gar soweit und erklärt die Deportationen zum Genozid an dem estnischen Volk. Zu dieser Zeit wurden auch die Russifizierung Estlands begonnen, als viele benötigte Arbeitskräfte aus den anderen Sowjetrepubliken nach Estland entsandt wurden, um die Kriegsschäden zu reparieren und die Industrie aufzubauen.

Die Sicht der russischen Minderheit auf die Sowjetunion ist etwas andere. Wenn man die Altersstruktur der lautstärksten Vertreter der Minderheit anschaut, sieht man, dass die wenigsten von ihnen die Gräuel der Stalinzeit direkt erlebt haben. Nur die wenigsten von ihnen dürften über diese Zeit in der Schule lernen, die Auseinandersetzung damit, die in den 80-90ern Jahren in Russland stattfand, ging an ihnen auch größtenteils vorbei. Das Kollektivgedächtnis der in Russland gebliebenen Verwandtschaft hat sie nicht erreicht. Welches sowjetische Estland haben sie in Erinnerung? Das war das Estland der späten 60-80er Jahre, Zeit von Breschnjew und Gorbatschow. In dieser Zeit war die Sowjetrepublik Estland immer auf einem der vordersten Plätze unter allen Sowjetrepubliken, was die Lebensqualität, Bildung und Meinungsvielfalt (ich sage nicht Freiheit) anging. Die estnische Sprache und Kultur sind präsent, wenn auch nicht von der hinzugekommen Bevölkerung übernommen, es existiert eine Parallelgesellschaft, die trotz aller Bemühungen seit der Unabhängigkeit kaum aufgelöst wurde. Aus der Sicht des russisch-sprachigen, der in dieser Zeit sozialisiert wurde, gibt es estnische Kindergärten, estnische Schulen, Studiengänge auf Estnisch. Es gibt das Sängerfest, es existiert estnisches Kino, estnische Theater, estnische Literatur, estnische Musik. Von einer Ausrottung der Kultur kann keine Rede sein. Die Vorwürfe, dass es keinen Arzt gab, der estnisch sprach (Behauptung von Ilves), entbehren in dieser Zeit jeglichen Grundlage. Die Investitionen in die estnische Infrastruktur auch im Zusammenhang mit der Olympiade 1980 waren gewaltig. Ausserdem bestand ungefähr 3/4 der Führung der Sowjetrepublik Estlands aus Esten (von denen einige bis heute aktiv in der Politik sind und von denen keiner zur Verantwortung gezogen wurde). Damit kein Eindruck entsteht, dass die Zustände in der Sowjetunion der 70-80 Jahre paradiesisch waren, es war ein totalitäres System mit Zensur, ohne Reise-, Presse-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit, mit mächtigem Geheimdienst, mit staatstreuer Erziehung der Jugend, mit einer Staatspartei, die immer Recht hatte, mit Verfolgung Andersdenkender, mit mieser Wirtschaft und noch mieserem Umweltschutz, doch ohne Massenrepressionen, Massenerschiessungen und Massenumsiedlungen wie zur der Stalin-Era. Diese Periode ist aus der historischen Sicht kaum erforscht und kaum erwähnt, vielleicht weil sie sich weit weniger für propagandistische Ziele ausnutzen lässt, oder zu viele Personen aus dieser Zeit noch aktiv sind?

Diese beide Geschichtsblicke auf Sowjetunion stehen sich diametral gegenüber. Daraus resultiert meiner Meinung nach das gegenseitige Unverständnis. Die Russisch-sprachigen verstehen nicht die Leiden des estnischen Volkes wegen der Deportation, gleichzeitig erlebten sie selbst die Wirklichkeit der 70-80er Jahre und können vielen Behauptungen der Esten aus eigener Erfahrung nicht zustimmen, besonders wenn diese Behauptungen von Personen aufgestellt werden, die diese Zeit nicht in Estland verbracht haben. Für die Esten überwiegt die Erinnerung an den stalinistischen Staatsterror, für diese Zeit wird auch die Entschuldigung von Russland erwartet. Es ist immer wichtig diese Tatsachen im Hinterkopf zu behalten, wenn man mit dem Vertreter einer der Gruppen über die Geschichte diskutiert.