Mittwoch, Februar 17, 2010

Ein Gastbeitrag von Schirren

Wer immer behauptet, man könne oder müsse endlich einen „Schlußstrich“ unter das Thema Zweiter Weltkrieg und Drittes Reich ziehen, hat nichts begriffen von Geschichte.

In der Geschichte zieht man Schlußstriche nicht nach Lust und Laune, wenn man von einem Thema die Nase voll hat. „Man“ zieht sie überhaupt nicht. Die Entscheidung darüber, wann ein Thema seine Bedeutung für unser Alltagsleben verliert und nur noch für die Historiker interessant ist, hängt nicht von unserem Willen ab.

Ich behaupte, daß wir Deutschen gut damit gefahren ist, zu akzeptieren, daß die dunklen Kapitel unserer Geschichte uns wohl noch eine Weile begleiten werden. Wir haben uns nicht einfach nur einem blinden nationalen Masochismus hingegeben wie das einige behaupten. Wir haben vielmehr im ureigenen Interesse gut dran getan, uns damit abzufinden, daß unsere Vergangenheit uns Beschränkungen auferlegt.

Manche Rechtsausleger in Deutschland, aber auch ausländische Beobachter (zum Beispiel aus Rußland) kritisieren oder bespötteln ja gerne den Umstand, daß wir Deutsche angeblich ständig „im Büßerhemd herumlaufen“ und uns andern Völkern „auf der Nase herumtanzen lassen“ würden.

Es trifft natürlich zu, daß die deutsche Schuld bisweilen als Druckmittel verwendet wird, um uns davon abzuhalten, unsere Interessen durchzusetzen. Zum Beispiel, wenn die Zusammenarbeit mit Rußland und das Projekt der Nordseepipeline in Polen oder den baltischen Staaten als neue Hitler-Stalin-Pakt bezeichnet wird (http://www.focus.de/politik/ausland/polen_aid_108334.html ). In vielen Ländern gehört das German-Bashing auch zur einfach zur Bestätigung der nationalen Identität. Holländer (http://www.skats.de/der-spiegel-der-welt/11407-die-moffen-kommen-das-deutsch-niederlaendische-nicht/ ), Schweizer (http://zueri-berlin.blogspot.com/2007/02/neuer-volkssport-german-bashing.html ), Briten (http://www.guardian.co.uk/uk/1999/oct/13/mattwells ) und andere haben das Klischee vom tumben Nazi auch deswegen so lange gepflegt, weil sie sich dadurch besser fühlen. Gott sei dank das wir nicht so sind wie die…

Das alles ist sicher bedauerlich, aber Interessengegensätze und diskriminierende Klischees gäbe es auch ohne das Dritte Reich. Aber dadurch, daß wir das Thema nicht verdrängt, sondern uns unserer Vergangenheit gestellt haben, haben wir es geschafft, auf lange Sicht wieder ein normales Verhältnis zu uns selbst und zu unseren Nachbarn zu finden (http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,425907,00.html ). Wir haben Formen gefunden, uns mit unseren Konkurrenten zu arrangieren, Konflikte zu lösen und sind dabei auf lange Sicht gesehen sehr gut gefahren. Und was die oft kritisierten deutschen Minderwertigkeitskomplexe angeht so habe ich das Gefühl, dass jede Generation in dieser Hinsicht etwas entspannter ist als ihre Eltern, ohne daß wir dadurch wieder Gefahr laufen, in Überheblichkeit und Selbstüberschätzung zu verfallen. Und auch im Ausland, außer bei gewissen östlichen Nachbarn, gewinnt man allmählich ein differenzierteres Bild von unserem Land (http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,605904,00.html, http://www.suedkurier.de/news/panorama/weltspiegel/;art3334,3740967, http://www.focus.de/politik/deutschland/image-studie--und-die-welt-mag-uns-doch_aid_141195.html ).

Ich will damit nicht behaupten, daß es an unserer Art mit der Vergangenheit umzugehen, überhaupt nichts auszusetzen gäbe. Oder daß die ehrliche Auseinandersetzung mit diesem Thema wirklich alle Teile der Bevölkerung umfaßt. Natürlich gibt es blinde Flecken und es gibt Ewiggestrige. Aber im Großen und Ganzen haben wir das geschafft, was jeder Psychologe seinem Patienten rät, nämlich nicht zu verdrängen, sondern aufzuarbeiten. Was verdrängt wird, das kommt nämlich wieder, und das meist in noch monströserer Form.

Das, was ich gerade beschrieben habe, ist mir erst aufgegangen beim Betrachten der Entwicklungen, die das Auseinanderfallen der Sowjetunion ausgelöst hat. Hier, so scheint mir, hat es einen solchen Prozess bis heute nicht gegeben. Ich meine damit den Versuch, die Vergangenheit ehrlich und ohne ideologische Scheuklappen aufzuarbeiten.

Vor dem Zerfall der UdSSR war die Lage relativ eindeutig, Diskussionen schienen überflüssig und waren in der Sowjetunion auch kaum möglich. Es gab einen Täter, der hieß Deutschland, alle anderen waren Opfer Deutschlands und/oder Sieger über Deutschland. Selbst Österreicher und Italiener hatten es geschafft, sich auf die andere Seite zu retten.

Seit dem die Sowjetunion begann, auseinanderzubrechen, ist das Bild nicht mehr so klar. Plötzlich gibt es verschiedene Täter und nicht alle Opfer wollen ausschließlich Opfer von Deutschland sein. Rußland, das lange Zeit mit den USA um die Rolle des ersten Siegers konkurrierte und sich zu Recht als eines der Hauptleidtragenden der deutschen Aggression sah, sieht sich nun von einigen Mitspielern – vor allem Balten, Ukrainern und Polen – in das Lager der Täter gedrängt. Dadurch gereizt hebt die russische Öffentlichkeit plötzlich die Rolle von Teilen des früheren „Sowjetvolkes“ als Nazi-Kollaborateure (http://blog.boell-net.de/blogs/russland-blog/archive/2009/05/19/kreml-kommission-soll-252-ber-quot-historische-wahrheit-quot-wachen.aspx) hervor, die noch dazu, anders als die Deutschen, nichts aus der Vergangenheit lernen wollen. Nach Schlußstrich klingt das alles nicht, eher nach einer neuen Runde. Eine Runde, in der wir Deutschen eher die Rolle diskret schweigender, die Augen niederschlagender Zuschauer einnehmen und neue Kombattanten die Arena betreten.

Diese überraschende Konstellation ist, so behaupte ich, die Folge von erfolgreicher bzw. ungenügender Aufarbeitung der Vergangenheit. Natürlich wurde der Zweite Weltkrieg in der Sowjetunion keineswegs verdrängt. Im Gegenteil, er war viel mehr im Alltag präsent, als das in Deutschland oder irgendeinem westlichen Land der Fall war. Doch auch wenn vieles, was in der Sowjetunion zum diesem Thema gesagt wurde, richtig ist und näher an der Wahrheit als manche westlichen Darstellungen, so war doch die Hauptstoßrichtung propagandistisch http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/aktuell/der_praeventivschlag_1.2630863.html) . Das eigene Volk und die Welt sollte verstehen, daß die Sowjetunion, also die Kommunistische Partei praktisch ganz alleine das absolute Böse besiegt hatte. Um diese Botschaft erfolgreich zu transportieren, wurde eine große Legende gebildet. Eigene Verbrechen (Katyn) (http://de.wikipedia.org/wiki/Massaker_von_Katyn )sowie der menschenverachtende Zynismus und die grotesken Fehlleistungen der eigenen Führung wurden verschwiegen. Die eigenen Verluste je nach Bedarf herunter oder heraufgerechnet. Heldentaten, die keine waren, wurden geschönt (Marinesko http://rusnavy.com/history/events/marinesko.htm http://en.wikipedia.org/wiki/Alexander_Marinesko ). Die unterschiedlichen Sichtweisen und historischen Erfahrungen der verschiedenen Völker innerhalb der Union wurden ausgeblendet. Das alles hat heute verheerende Auswirkungen.

Alle Volker der ehemaligen Sowjetunion, egal wo sie heute stehen, haben eine Lektion verinnerlicht: Krieg und Leid sind ein tolles Instrument, um sich eine nationale Identität zurechtzuschustern, wie man sie gerade braucht. Jeder will ein Opfer sein, denn Opfer sind gerechtfertigt vor den Augen der Welt. Am liebsten ist man Opfer eines Genozids (http://de.wikipedia.org/wiki/Genozid ). Ob hinter historischen Verbrechen wirklich die Absicht steckt, eine ethnische Gruppe auszurotten, spielt keine Rolle. Egal wie viele umgekommen sind und warum, es muß Genozid sein. Die Hungersnot in der Sowjetunion von 1932/33 (http://www.zeit.de/2008/48/A-Holodomor ) ist nicht etwa das Resultat der Brutalität und ideologischen Verblendung der sowjetischen Führung, sondern ein teuflischer Plan, das ukrainische Volk zu vernichten. Dass dabei auch Russen, Weißrussen, Kasachen und andere ums Leben kamen, ist nur ein perfides Ablenkungsmanöver.

Die Deportation von Esten und Letten (http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2007/0831/horizonte/0004/index.html http://www.tagesschau.de/ausland/deportationen2.html ) hatte nicht etwa politische Hintergründe, sondern war darauf gezielt, diese Völker und ihre Kultur auszulöschen. Und natürlich haben die Georgier laut russischer Propaganda einen Genozid angerichtet, als sie 2008 Süd-Ossetien angriffen und dabei nach russischen Angaben 162 Menschen http://www.sueddeutsche.de/politik/833/452536/text/ um ihr Leben brachten. Irgendwann gilt vermutlich auch der Verkauf von Kondomen als Genozid und die Völkerpsychologen werden Holocaust-Neid als neues Krankheitsbild beschreiben.

Russland, das sich aus der Erbmasse der Sowjetunion auch das Monopol auf ein Phantom namens „Antifaschismus“ zu sichern wünscht, sieht diese Tendenzen aus zwei Gründen mit Grausen. Einmal sind diese Vorwürfe natürlich Munition im täglichen Info-Krieg. Doch es geht noch um ein viel grundsätzlicheres Problem. Denn jegliche Bestrebungen, die die Sowjetunion als grausame Diktatur in eine Reihe mit dem dritten Reich stellen und den Kommunismus mit dem Nationalsozialismus vergleichen, sind geeignet, Russland jene Aura des Geheiligten zu nehmen, auf die jede russische Regierung soviel Wert legt. Die Legende zum Sieg im Großen Vaterländischen Krieg besagt nämlich nicht mehr und nicht weniger, als dass die Sowjetunion, die das absolute Böse besiegt hat, aus diesem Grunde selbst das absolute Gute verkörpert. Die Rechnung ist einfach: Faschismus = Böse, Antifaschismus = Sowjetunion = Russland = Gut. Dieser Legende gemäß hat sich die Sowjetunion nicht einfach nur ganz legitimer Weise gegen einen heimtückischen Überfall zu Wehr gesetzt. Sie hat völlig uneigennützig und unter größten Opfern die Welt gerettet. Dieses Verdienst hefteten sich die Kommunisten als Orden ans Revers, die russischen Patrioten wollen heute nicht auf diese Aura verzichten. Wer etwas abweichendes behauptet, der „verhöhnt“ die Leiden der Opfer. Darum wird auch nach dem Zusammenbruch der Herrschaft der KPdSU alles kleingeredet, was nicht in die Heiligenlegende paßt. Von der direkten (http://www.spiegel.de/spiegel/spiegelspecialgeschichte/d-55573688.html) und indirekten (http://de.wikipedia.org/wiki/Sozialfaschismusthese ) Zusammenarbeit zwischen Kommunisten und Nazis vor Hitlers „Machtergreifung“ über die mangelhafte Vorbereitung der Führung vor und das lausige Management im Krieg bis hin zu den eigenen Verbrechen. Wo es darum geht, eine nicht mehr hinterfragbare moralische Legitimität zu beanspruchen, stören solche Fakten nur. Darum ist auch unter russischen Dissidenten die abstruse These vom Präventivschlag Hitlers gegen die Sowjetunion so populär (http://www.jf-archiv.de/archiv09/200936082810.htm ). Die Gegner des Putin-Regimes fühlen instinktiv, dass sie mit solchen Thesen die Autorität der Machthaber untergraben und ignorieren großzügig die Tatsache, dass sie damit gleichzeitig deutschen Rechtsradikalen in die Hände arbeiten. Russische Politiker hingegen biedern sich bei jüdischen Organisationen an (http://rus.delfi.ee/projects/opinion/zuroff-ne-stesnyalsya-v-vyrazheniyah.d?id=24808217) , um gemeinsam gegen einen „Revisionismus der Geschichte“ zu kämpfen, obwohl man in Russland im allgemeinen sehr unzufrieden ist mit der Tatsache, dass der Holocaust von der Weltöffentlichkeit wesentlich stärker wahrgenommen wird als das Leid und die Verluste der Sowjetunion. Wahrlich, das Bild ist alles andere als eindeutig nach dem Zusammenbruch der UdSSR.

Die Führer der aus der Sowjetunion hervorgegangen Staaten haben die sowjetische Lektion verinnerlicht, daß Geschichte die Magd der Politik ist und nach Lust und Laune vergewaltigt werden kann. Da werden fröhlich alte Denkmäler eingerissen und neue errichtet. Personen die zu Sowjetzeit Anathema waren, wie der ukrainische Nationalist Stepan Bandera (http://www.fr-online.de/in_und_ausland/politik/aktuell/1976452_Stepan-Bandera-Held-mit-dunkler-Vergangenheit.html), oder die autoritären baltischen Politiker Päts (http://de.wikipedia.org/wiki/Konstantin_P%C3%A4ts) und Ulmanis (http://de.wikipedia.org/wiki/K%C4%81rlis_Ulmanis) werden zu Nationalheiligen. Unbequemes wird heruntergespielt oder ignoriert - zum Beispiel die aktive Beteiligung der Letten an der Oktoberrevolution (http://de.wikipedia.org/wiki/Lettische_Sch%C3%BCtzen)und am Aufbau des russischen Geheimdienstes (http://www.spiegel.de/spiegel/spiegelspecialgeschichte/d-54841251.html und http://en.wikipedia.org/wiki/Yakov_Peters )

Das mag den Politikern dieser Länder und einem Teil ihrer Wähler ein gewisses Gefühl der Befriedigung geben. Endlich ist Schluß mit der Verdrehung unserer Nationalgeschichte durch Fremde, endlich bestimmen wir selbst, was gut und was schlecht war. Die Naiveren unter ihnen bemerken nicht, dass sie einfach nur die Vorzeichen auswechseln. Was schwarz war ist nun weiß und umgekehrt. Von einem differenzierten Geschichtsbild, von Aufarbeitung kann nicht die Rede sein.

Die Folge ist, dass sich diese Staaten in politische Konstellationen hineinmanövrieren, die ihnen mittel- und langfristig keine Vorteile bringen. Anstatt sich die Zusammenarbeit mit dem Westen, mit Russland und sonstigen Partnern als Option offenzuhalten, legt man sich fest: Russland ist der Gegner. Die westlichen Staaten, insbesondere die USA sind Freunde und alle Befehle aus Washington werden ausgeführt. Kurzfristig bringt das Wählerstimmen, und natürlich bringt es bisweilen sogar auch Geld. Geld, das dann wieder für den Kauf amerikanischer Produkte ausgegeben werden darf. Länder, die diesen Weg wählen, werden in einflussreichen Medien der USA und England als Musterländer der Demokratie gepriesen. Aber diese Festlegung legt auch Beschränkungen auf. Russland fällt als potentieller Abnehmer von Waren weg, die Wirtschaft muß nach dem angelsächsischen Prinzip organisiert werden, also möglichst wenig Realwirtschaft, möglichst wenig soziale Sicherheit und möglichst viel Kasino-Kapitalismus. Wohin das geführt hat, zeigt die aktuelle Lage in den baltischen Staaten.

Spiegelbildlich dazu lenkt die russische Führung mit ihrer populistischen Sowjetnostalgie und der permanenten Agitation gegen den bösen Westen von ihren eigenen innen- und wirtschaftpolitischen Defiziten ab. Da Russland etwas größer ist als Estland, kann es sich solche Extravaganzen auch eher leisten, aber langfristig fruchtbar ist diese Politik auch nicht. Russland könnte den tatsächlichen und vermeintlichen Versuchen des Geschichtsrevisionismus im „nahen Ausland“ wesentlich gelassener entgegentreten, wenn man davon ablassen würde, den Sieg über Deutschland zu mystifizieren und daraus die Auserwähltheit des Landes abzuleiten. Was wäre wohl, wenn Präsident Medwedjew den Esten sagte: „Liebe estnische Freunde, wir sind völlig einer Meinung mit Euch, dass die Deportation Eurer Landsleute durch Sowjettruppen grausam war und in vielen Fällen ungerechtfertigt gewesen sein mag. Ein kleines Land hat wenige Optionen, wenn zwei Großmächte sich darum streiten, wer es besitzen darf. Wir sind bereit, uns an bilateralen Kommissionen zur Aufarbeitung dieser Geschichte zu beteiligen. Wir legen auch gerne Kränze an diesbezüglichen Mahnmalen nieder und können auf Wunsch an Gedenkfeiern teilnehmen, wo wir dem Totalitarismus jeglicher Couleur eine eindeutige Absage erteilen und unsere guten Beziehungen beschwören werden. Wenn es der Sache dient, werde ich sogar einen Kniefall hinlegen, der sich hinter dem Willy Brands nicht zu verstecken braucht. Ansonsten könnt ihr mit Denkmälern und anderen Überbleibseln aus der sowjetischen Zeit tun, was ihr wollt. Meinetwegen funktioniert ihr sie zu öffentlichen Toiletten um. Kommende Generationen werden ihre Schlüsse daraus ziehen. Unseren Sieg könnt ihr uns damit jedoch nicht nehmen, wenn ihr Euch aber von diesem historischen Ereignis distanzieren wollt - bitte. Wir sind auch gerne bereit, dazu beizutragen, dass die in Estland lebenden Russen die Landessprache in einer Weise lernen, die sie befähigt, am öffentlichen Leben teilzunehmen. Dafür erwarten wir aber auch, daß die russische Sprache und die Menschen, die sie beherrschen, nicht benachteiligt werden. Wir sind für gute Nachbarschaft und behalten uns vor, gegen Menschenrechtsverletzungen gegen Vertreter der russischsprachigen Minderheit beim Europarat zu klagen. Und, ach ja, noch was: die Nordseepipeline, die bauen wir. Egal was ihr darüber denkt.“?

Das ist natürlich nur Phantasie. Leider wird man derzeit als Ausländer weder in den baltischen Staaten noch in Rußland Erfolg haben, wenn man zu mehr Pragmatismus und Objektivität in Sachen Geschichte rät. Sofort würde man als Agent des jeweiligen Feindes entlarvt und zum Teufel gejagt.

Also versuchen wir’s im eigenen Land. Denn auch wir Deutschen könnten in Sachen Vergangenheitsbewältigung noch mehr tun – in unserem eigenen Interesse. Und zwar im Bezug auf Russland. Schon Bismarck hat erkannt, dass ein ausgeglichenes Verhältnis mit Russland zur deutschen Staatsraison gehört - weder Konfrontation noch Abhängigkeit. Im Kalten Krieg praktizierten die damals existierenden zwei deutschen Staaten gleich beides. Das verhinderte eine rationale Aufarbeitung des russisch-deutschen Verhältnisses. Im Westen lebte die antirussische Hetz-Propaganda der Nazis mit gewissen Abstrichen weiter, während in der DDR die unverbrüchliche Freundschaft mit dem großen Bruder Verfassungsrang hatte. Als Folge davon sind heute weder der Beitrag der Sowjetunion zu Sieg über Deutschland noch die deutschen Kriegsverbrechen des Ostfeldzugs ein angemessener Bestandteil unseres öffentlichen Diskurses (http://www.zeit.de/2007/25/27-Millionen-Tote). Geht es um die Rote Armee, dann kommt man bei uns schnell auf Plünderung und Vergewaltigung – natürlich ausgeführt von Russen. Was die wenigsten Deutschen wissen, ist, dass wir in Russland keineswegs den Krieg um die Ohren gehauen bekommen und in die Nazi-Rolle gedrängt werden, wie uns das im Westen teilweise selbst heute passieren kann. Solange die Medien weiterhin munter die alten rußlandfeindlichen Klischees bedienen (http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2002/0408/media/0005/index.html) während die deutsche Wirtschaft zur Annäherung aufruft, ist das Verhältnis zur östlichen Großmacht ein Schlingerkurs. Mal oberlehrerhafte Belehrungen, mal vorschnelle Verurteilungen, mal wegsehen, wo Kritik angebracht wäre. Aber wie in Rußland und den baltischen Staaten gibt es auch bei uns zu wenig Menschen, die ein rationales Verhältnis wünschen, nicht belastet ist von Hypotheken der Vergangenheit. Und zu viele, die meinen, aus alten Vorurteilen Vorteile schlagen zu können. Von Schlussstrichen sollte man daher nicht einmal träumen.

Donnerstag, Februar 11, 2010

Brief aus verschneitem Estland

Lieber Anton !

Lange genug hast Du von mir nichts mehr gehört. Naja, politisch war hier auch nicht viel los, jedenfalls nichts aufregendes. Die Ansip-Regierung lügt weiterhin vor sich hin und die einfältigen Esten glauben es immer noch bedingungslos.
Die größte Kiste ist aber, daß Estlands Staatsverschuldung mittlerweile die EU-Beitrittskriterien erfüllen soll und dieses Durcheinander den Euro wohl bekommen wird. Dann hat Deutschland als Hauptträger der Gemeinschaft halt eine Beule mehr am Bein.
Natürlich ist auch das gelogen, aber die Vorschußlorbeeren für die Esten sind noch nicht aufgebraucht, also glaubt man alles, was von den unqualifizierten Verantwortlichen so ausgestoßen wird.

Derweil versuchte am 31. Januar 2o1o ein kleiner Teil der russischen Bevölkerung sich erneut, ich weiß garnicht zum wievielten Male, eine Ordnung im Zusammenschluß, genannt Notchnoi Dozor, zu geben.
Nach langatmigen, sinnlosen Diskussionen wurde dann doch noch ein Vorsitzender gewählt. Es ist Dmitri Linter, einer der seinerzeit angeklagten, vermeintlichen Rädelsführer der Unruhen um den 27. April 2oo7. Wenn Linter alles ist, ein Aufrührer wird der nie werden! Aufrührer sind aus anderem Holz geschnitzt und daß dieser Staat hier ihn dafür angeklagt hat, zeigt nur wieder, wie unerfahren die Esten allgemein sind.
Nun sind mit Linter nicht die potentiellen Köpfe der vergangenen Zeit wie z. B. Alexander Korobov oder Sergej Tydyjakov , zum Zuge gekommen, sondern Linter, der populistisch sich gut herausputzte. Die Masse der ohnehin nicht gerade herbeigeströmten Wahlberechtigten fiel daher auch auf ihn herein.
Nun hatte ich ja in der Vergangenheit schon oft über die naiven Unzulänglichkeiten von Notchnoi Dozor berichtet. Mit der vergangenen Wahl aber wird die große Chance vertan, den russischen Belangen im Zusammenleben in Estland eine organisierte, wirklichkeitsnahe Perspektive zu geben. Ansip kann sich mit all seinen nationalistischen Schwätzern beruhigt zurücklehnen denn von Notchnoi Dozor geht keine wirkliche Gefahr aus, früher schon nicht, nun überhaupt nicht mehr.
Warum, werden eventuelle Leser nun fragen. Nun, das ist recht einfach zu beantworten. Das ohnehin magere Konzept, wurde anläßlich der Verabschiedung der Satzung auf den „bronzenen Soldat“ minimiert, mit großem Aufwand wurde auch festgelegt, was damit gemeint sein wird, in der Zukunft. Das hört sich nach osteuropäischem Kindergeburtstag an. Also, regelmäßige Besuche des Denkmals mit Kerzenaufstellen und Blumendarbringungen und andächtige Demonstrationen dort. Da das Denkmal weit genug weg von jeder öffentlicher Wahrnehmung gelandet ist, kratzt das dann eh niemanden mehr. Den meisten Raum in der Arbeit von Notchnoi Dozor aber wird zukünftig der Antifaschismus einnehmen. Der Kampf gegen den Faschismus also. Was das ist, wissen in der Masse nicht einmal die Deutschen. Die Verfechter dieser Albernheit hier aber sind völlig unbeleckt. Sie verwechseln sicherlich Nationalsozialismus mit Faschismus, wie es ja auch sonst in der Welt so ist. Wer sich mal damit näher befasst hat, weiß über den Unterschied. Das riecht aber sehr streng nach aufgewärmtem Kommunismus stalinistischer Prägung. Und wenn man den einen oder anderen kennt wie ich, der weiß wer und was damit gemeint ist.
Hier aber ist Johan Bäckman aus Finnland der führende Kopf und nutzt meiner Erfahrung nach die ganze Sache und die Unwissenheit der Träumer ausschließlich für sich, ohne daß die es merken. Übrigens, wenn er selbst glaubt, was er dazu sagt, halte ich dieses für bedenklich.
Nun sind die Esten, besonders die Führungselite, keine Nationalsozialisten oder Faschisten, sondern schlichte, verbohrte Nationalisten. Das kann allerdings genau so schlimm sein.

Diese Arie ist nun gesungen und Notchnoi Dozor wird so nicht mehr als Faktor in der Zukunft Beachtung finden, auch nicht bei dem russischen Bevölkerungsteil.
Nun gab es aber recht flott massive Reaktionen der Unzufriedenheit bei Notchnoi Dozor-Mitgliedern, vornehmlich bei den „aktiveren“ Köpfen insofern, daß, es sind zur Zeit deren 8, die die „Organisation“ verlassen und etwa eine neue gründen wollen. Die Zustimmung anläßlich der Wahl für Linter war überraschend groß, umso mehr erstaunt mich, daß so viele nun dagegen sind!
Ich selbst werde sicherlich nicht einem unqualifizierten Laberladen meine Zeit zur Verfügung stellen und ebenfalls Konsequenzen ziehen. Mit dem oben schon beschriebenen Konzept kann ich nicht im entferntesten mitgehen. Meine Idee war von Anfang an und ist es immer noch, eine Organisation zu haben, die sich Gedanken macht, welche Möglichkeiten es gibt, daß Esten und Russen in diesem Lande ordentlich miteinander leben können. Davon redet niemand, ist wohl auch zu schwierig für all die antifaschistischen Geister.
Heute vormittag machte Postimees mit mir ein Telefoninterview darüber und überraschenderweise wußte der Frager schon recht gut Bescheid. Dabei sprach er auch schon von einer Neugründung unter Führung von Larissa Neschadimowa. Nun ist auch Larissa nicht gerade eine mitreißende Anführerpersönlichkeit, außerdem vertrat sie immer lautstark vorrangig die Bekämpfung des Faschismus und Kerzen und Blümchen usw.. Warum also sie Linter nun verlassen will, ist mir deshalb ein Rätsel. Selbst ein Name rauscht schon durch die Gemüter, der mir aber nicht geläufig ist, soll übersetzt „Alle Zusammen“ heißen, noch dazu soll diese Organisation schon vor 2o Jahren verboten worden sein!

Das war`s ersteinmal für heute. Ich werde Dir baldigst über die weitere Entwicklung alle Neuigkeiten zusenden !!

Mach`s gut und beste Grüße aus dem verschneiten Estenlande


Dein alter Klaus

Mittwoch, Februar 10, 2010

RIP Notchnoj Dozor

Heute geschah genau das, was schon vor einiger Zeit sich abgezeichnet hat. Mehrere Aktivisten von Notchnoj Dozor haben die Organisation verlassen, die de facto damit nicht mehr existiert.

Schon bei meinem letzten Besuch in Estland vor einem Jahr war es klar, dass es zwei Lager innerhalb von Notchnoj Dozor gibt, auf der einen Seite stehen Maks Reva und Dmitrij Linter, die weit über Estland Bekanntheit erlangt haben und Notchnoj Dozor als Organisation brauchen, in deren Namen sie auftreten können und die andere Gruppe, die Notchnoj Dozor als Graswurzelbewegung sieht, die nicht mal Vorstand braucht und sich auf kleinere Aktionen, wie Protestveranstaltungen, Veteranenhilfe und Bewahrung der russischen Sprache, Kultur und Glaubens sich beschränkt. Mit Politik wollte diese Gruppe nichts zu tun haben. Zwischen den beiden Gruppen kam es schon damals zu gewaltigen Spannungen.

Letzten Monat haben sich Reva und Linter durchgesetzt und führten Vorstandswahlen durch, bei denen Linter zum Vorsitzenden der nichtkommerziellen Organisation Notchnoj Dozor gewählt wurde. Das war ein Lebenszeichen seit langer Zeit, danach protestierte Maks Reva im Namen der Organisation gegen die Verleihung von Ehrenabzeichen der Estnischen Republik an Personen, die während des Zweiten Weltkrieges Mitglieder der Waffen-SS waren und heute, am 10. Februar, kam es dann zu Bruch innerhalb des Vorstandes.

Es wurde ein offener Brief veröffentlicht in dem andere Vorstandsmitglieder Linter und Reva vorwerfen, dass sie nicht autorisierte Interviews geben, kein Bericht über ihre Aktionen und Kontakte mit anderen Organisationen abgeben und die Satzung der Organisation ignorieren. Unter anderem wird Linter vorgeworfen, dass er in einem Interview "von einem Kampf auf den Strassen, Massenmedien und vor Gerichten" gesprochen hat, ohne andere Mitglieder nach ihrer Meinung zu fragen. Deswegen werden solche Mitglieder wie die Pressesprecherin Larisa Neschadimova, Peter Puschkarnyj, Sergej Tydyjakov und andere Vorstandsmitglieder Notchnoj Dozor verlassen. Damit ist die Organisation de facto tot.

Notchnoj Dozor hat sich recht unorganisiert zusammengefunden, weil die Leute nicht mehr anders konnten, als aufzustehen um ihr Recht auf unverfälschte Geschichte, ihre Würde, ihre Erinnerung zu verteidigen. Jeder, der den Bronzenen Soldaten nachts bewacht hat, zählte sich zum Mitglied der Organisation, niemand wollte als eine politische Kraft auftreten, das einzige Ziel war die Schändung des Bronzenen Soldaten durch die estnische Regierung zu verhindern. Nach dem Tod von Wladimir Studnezkij, einen Photografen, der als Führer der Bewegung akzeptiert war, gab es keine Persönlichkeit mehr, die aufgrund der natürlichen Autorität und Selbstaufopferung es geschafft hätte uneingeschränkte Zustimmung aller Mitglieder zu bekommen. Zudem war Notchnoj Dozor das neue Hassobjekt der estnischen Bevölkerung, eine radikale Kraft, die die nichtassimilierten Russen repräsentierte und deutlich die Missstände in Estlands Integrationspolitik benannte. Es gab Druck seitens der KAPO, viele Mitglieder wurden eingeschüchtert und trennten sich von der Organisation. Doch das Ende kam nicht wegen dem Druck von aussen, sondern wegen dem Richtungstreit im Inneren.

Was kommt nach Notchnoj Dozor? Nach den bitteren Niederlagen bei den Europawahlen und Kommunalwahlen sind die Parteien, die exklusiv die russisch-sprachige Bevölkerung repräsentieren, quasi nichtexistent, evtl. bei den Parlamentswahlen melden sie sich wieder, doch dürfen bei diesen Wahlen die nichtestnischen Bürger nicht wählen, so dass die Chancen in Parlament zu kommen äusserst gering sein dürften. Dmitrij Klenski, der als egomanischer Einzelkandidat sich immer wieder aufstellt, hat auch jede Unterstützung in der Bevölkerung verloren. Eine Kulturautonomie wird es unter dieser Regierung definitiv nicht geben, selbst wenn die etwas russenfreundlichere Zentristenpartei an die Macht kommen sollte, ist es fraglich, ob es die Autonomie dann geben wird. Einige Organisationen, die von Russland finanziert werden, sind betont apolitisch und kümmern sich um die russländischen Bürger, wobei dort der Tenor ist, dass man nach Russland umziehen solle, es gibt ja einige Regierungsprogramme von der russländischen Seite, die aber in Estland nicht wirklich populär sind. Von den Zuständen wie in Lettland, wo mehrere Parteien, die explizit Interessen der russisch-sprachigen Bevölkerung vertreten im Parlament vertreten sind, den Bürgermeister der Hauptstadt stellen und mehrere Vertreter in Europaparlament entsenden, ist Estland sehr weit entfernt.