Montag, März 19, 2012

Von Kühen und Bombardierung Tallinns

"Wessen Kuh auch muht, Deine sollte still sein" - spricht ein russisches Sprichwort. Die modernere Version dieses Sprichwort lieferte Jacques Chirac, als er meinte, dass gerade eine ausgezeichnete Gelegenheit verpasst wurde mal den Mund zu halten.

Am 9. März erschien auf der Seite der US-Botschaft in Estland auf Russisch folgender Text:

Am 9. März wird dem Tag gedacht, als vor 60 Jahren Tallinn in den Fadenkreuz der sowjetischen Kampfbomber geraten ist. Heute Abend wird der Botschafter der USA und Mrs. Polt an der Anzündung der Gedenkkerzen in der Niguliste Kirche teilnehmen, einem aus tausenden Gebäuden, die während des Luftangriffes 1944 zerstört wurden. Dies geschieht in Erinnerung über die Opfer der Bombardierung. Laut Tradition werden die Kirchenglocken der Stadt genau um 19:15 anfangen zu läuten, um den Moment des Erscheinens der ersten Welle der Kampfbomber anzukündigen. Entlang der Harjustrasse in der Altstadt werden Kerzen angezündet. Dieser Luftangriff ist besonders, was die schockierende Zahl der Opfer angeht, als auch durch seine militärisch gesehen Ineffektivität. Ganze 300 sowjetischen Kampfbomber warfen mehr als 3 000 Explosions- und Brandbomben auf Tallinn, radierten dabei ein Drittel der Stadt von der Erdoberfläche aus und verursachten den Bürgern und Objekten der Kultur Tallinns zerstörerischen Schaden. Mehr als 500 Leute, die grosse Mehrheit von ihnen waren friedliche Bürger wurden getötet, noch 650 wurden verwundet, 20 000 wurden mitten im estnischen Winter obdachlos. Ausser der Niguliste Kirche wurden bei der Bombardierung und nachfolgendem Brand der Theater "Estonia", die Stadtsynagoge und Tallinner Stadtarchiv, wo eine Sammlung der mittelalterlichen Dokumenten sich befand, zerstört. Gleichzeitig war der Schaden der der deutschen militärischen Infrastruktur zugefügt wurde minimal. Doch wurde der Geist des estnischen Volkes nicht gebrochen, sondern es wurde der stählerne Entschluss bekräftigt gegen die ausländische Okkupation zu kämpfen. Heute ist Estland ein starkes, friedliches und eigenständiges Land, das sich an die Vergangenheit erinnert, doch im heutigen Tag lebt und sich auf die Zukunft sich vorbereitet.

Selbst wenn dieser Text vom Herrn Botschafter auf seinem privaten Blog erschienen wäre, hätte es wahrscheinlich Diskussionen ausgelöst, doch als offizielle Pressemitteilung der US Botschaft Estlands ist dieser Text eine Provokation. Es werden ohne irgendwelche Quellen anzugeben Behauptungen aufgestellt, die höchstens bei den rechten Parteien Zustimmung finden werden. Es wird unterstellt, dass die Bombardierung alleine dem Zweck gedient hat, den Kampfgeist der Esten zu brechen, sich gegen die sowjetische Okkupation zu verteidigen. Beweise? Fehlanzeige. Beweise für Ineffektivität der Luftangriffe? Fehlanzeige.

Normalerweise scheue ich Vergleiche und Beschuldigungen wegen Doppelstandards, doch in diesem Fall sollte ein offizieller Vertreter der Nation, die flächendeckende Bombardements von deutschen Städten und Atombomben-Abwürfe über Hiroshima und Nagasaki praktiziert hat, sich zurückhalten. Es wird ganz ungeniert ein weiterer Keil in ohnehin schon kompliziertes Verhältnis zwischen Russland und Estland reingetrieben, was offensichtlich das Ziel von gewissen Vertretern der US-Politik zu sein scheint.

7 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Estonia ist die Nationaloper, kein Theater.

Ineffektivität? Etwa 50 Soldaten wurden getötet,

kloty hat gesagt…

Hallo Anonymous,

Estonia ist die Nationaloper, kein Theater.

Mein Fehler, sorry

Ineffektivität? Etwa 50 Soldaten wurden getötet

Quelle? Meinen Informationen zufolge wurde sowohl der Tallinner Hafen zerstört, als auch die Eisenbahnlinie, die nach Haapsalu und Narva führte. Damit waren wichtige logistische Verbindungen unterbrochen, die zum einen Nachschub für die Truppen in Sinimäe geliefert haben, andererseits den Rückzug der Truppen der Wehrmacht erschwerten. Es müssen nicht immer Soldatenleben sein, Zerstörung der Infrastruktur ist auch effektiv.

Anonym hat gesagt…

http://et.wikipedia.org/wiki/Märtsipommitamine

757 Menschen wurden getötet, davon 586 waren Zivilisten, 50 Soldaten, 121 Gefangene. 213 wurden leicht und 446 schwer verletzt. 20 000 verloren ihr zu Hause.

kloty hat gesagt…

Hallo Anonymous,

danke für den Link. Gibt es auch andere Quellen als die estnische Version von Wikipedia? Nachdem der Artikel über Klooga auf Estnisch prinzipiell was anderes aussagt als alle Klooga Artikel in anderen Sprachen, ist für mich die Glaubwürdigkeit der estnischen Version der Wikipedia stark erschüttert.

Wie ich schon geschrieben habe, die Effektivität misst sich nicht unbedingt in Soldatenleben, sondern auch in Zerstörung der Infrastruktur.

Anonym hat gesagt…

Was sagt http://et.wikipedia.org/wiki/Klooga denn anders, als in anderen Sprachen?

Die Quelle steht dort auch unten, aber hier auf English über Tallinn http://en.wikipedia.org/wiki/Bombing_of_Tallinn_in_World_War_II

kloty hat gesagt…

Anonymous: Ich meine natuerlich diese Artikel ueber Konzentrationslager Klooga:

http://et.wikipedia.org/wiki/Klooga_koonduslaager

http://en.wikipedia.org/wiki/Klooga_concentration_camp

http://de.wikipedia.org/wiki/KZ_Klooga

http://pl.wikipedia.org/wiki/Klooga_(KL)

Die Unterschiede im Inhalt sind bemerkenswert.

Ich zitiere den Satz aus dem englischen Wikipedia-Artikel: A large part of the wooden suburbs burnt down and the city centre suffered major damage.

Ich habe lange Zeit in Pforzheim gewohnt, das am 23.02.1945 von amerikanischen und britischen Bombern angegriffen wurde. Wenn mich Touristen gefragt haben, wo ist denn die Altstadt, konnte man nur antworten, es gibt keine Altstadt, es gibt keine Holzhaeuser, es gibt nur den Pforzheimer Vulkan, den Scherbenberg. Dieser Berg ist entstanden, als man die ganzen Truemmer zusammentrug. Wenn ich das mit Tallinn vergleiche, wo ich in der Naehe des Bahnhofs in einem Holzhaus aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts jahrelang gewohnt habe, wo die in Europa am besten erhaltene Mittelalter-Altstadt steht und mir dann die Quellen anschaue, auf die sich die Wikipedia-Artikel beziehen, dann ist diese Aufregung um die Bombardierung von Tallinn politisch motiviert. Und ausgerechnet diesen Vorwurf von amerikanischen Seite praesentiert zu bekommen ist ein Schlag ins Gesicht sowohl fuer die ex-sowjetische Kolationspartner, als auch fuer die Deutschen und die Japaner, die viel groessere Schaeden davongetragen haben.

Anonym hat gesagt…

Inhalt von Klooga (en vs et) ist doch fast das selbe, die et Version verlinkt nur mehr.