Seit Anfang der Jahres erlebt Estland eine massive Reihe von Protesten gegen die Regierungspolitik. Nicht weniger als 7000 Leute haben gestreikt, 4000 Mediziner, 1500 Lehrer, 800 Mitarbeiter des öffentlichen Verkehrs, 400 Mitarbeiter von energieerzeugenden Firmen und 200 Eisenbahner. Reaktion der Regierung: Ansip ist im Winterurlaub, Finanzminister Ligi spricht über rote Fahnen und fremdländische Sprüche, die dazu aufrufen die Regierung abzulösen, also Aufruf zu den alten estnischen Ängsten. Dabei sieht man auf den Photos der Demonstrationen ganz klar, dass die Plakate in beiden Sprachen geschrieben wurden, es wird schon von der Konsolidierung der Gesellschaft gesprochen, die seit 2007 zum ersten Mal wieder stattfindet. Das Gesetz gegen den die Gewerkschaften am schärfsten protestiert haben, nämlich die Möglichkeit der ersatzlosen Auflösung der Kollektivverträge seitens des Arbeitgebers, wurde von der Regierungsmehrheit in Parlament durchgewunken, Protest der Lehrer wurde vom Bildungsminister Aaviksoo so uminterpretiert, dass durch den Streik erst recht die Notwendigkeit der Schulreform gezeigt wurde, bei der zwei Drittel der estnischen Gymnasien geschlossen wird. Durch die eingesparten Mittel sollen die übergebliebenen Lehrer dann einen höheren Gehalt bekommen. Insgesamt kann man bemerken, dass die Regierung schon mindestens zum zweiten Mal ihre Argumentationskette komplett geändert hat. Zum ersten Mal war das 2009, als von Aufforderungen SMS-Kredite zu nehmen und hemmungslos zu konsumieren auf einmal Aufrufe zum vernünftigen Haushalten kamen. Jetzt wird von "Estland wird fertig mit Rezession, allen geht es gut" zu "Wir sind komplett verarmt und haben für nichts Geld übrig" umgeschaltet. So argumentiert Ligi, dass das Brutto-Gehalt der Lehrer jetzt schon höher ist, als das Durchnittsgehalt von einfachen estnischen Frauen, 80% der Estinnen verdienen weniger als die Lehrer, also weniger als 600 EUR/Monat. Aaviksoo versuchte in Paide zu argumentieren, dass er von 600 EUR/Monat gut leben könnte. Er wurde von anwesenden Pädagogen unterbrochen, die ihn Demagogie und Hochnäsigkeit beschuldigten. Überhaupt wird die Hochnäsigkeit der Reformisten und ihrer Partner die gängigste Beschuldigung. Das Leitbild ihres Handelns wird immer wieder mit einer Asphaltwalze veranschauligt, die alle Kritik niederwälzt.
Doch am interessanten sind die Proteste, die nicht von Gewerkschaften, sondern von Irina Holland organisiert und durchgeführt werden. Irina hat durch pure Eigeninitiative mehrere hundert Leute schon zum zweiten Mal zu einem Protestmeeting auf Toompea eingeladen. Hier ist ein Interview mit Irina:
baltija.eu: Es ist bemerkenswert, dass viele estnische Massenmedien eine beschränkte Berichterstattung über das Meeting haben. Mit was hängt das zusammen?
Irina: Ich denke, dass die regierende Koalition versucht die Information, die für die Leute notwendig ist, totzuschweigen und zu verhindern. Ich habe die Information und Einladungen an alle Massenmedien geschickt, Kanal 2, ETV, Kanal 3 und an alle estnischen Zeitungen, um die Leute zu benachrichtigen. Doch niemand hat das publiziert. Das hat einen einfachen Grund - es passt nicht für die regierende Koalition
baltija.eu: Ja, es ist zu vermuten, dass der Grund für das Verschweigen der Information über das bevorstehende Meeting, genau der ist, den sie beschrieben haben. Noch eine Frage: auf ihrem Meeting trat ein Mann auf, der vorgeschlagen hat, mehrere Meetings zu vereinen. Sie wurden doch auch von Mitarbeitern der Rettungsdienste unterstützt?
Irina: Nein, wir haben sie unterstützt. Sowie auch die Lehrer, und Polizisten und die Ärzte. Ich unterstütze alle, denn ich verstehe in welcher Situation sie sich befinden. Wobei, es ist, als ob uns niemand hört, niemand sagt über uns etwas, darüber dass unsere Meetings stattfinden. Wir sind gegen die Erhöhung der Preise für die Heizung, es ist uferlos: in drei Monaten eine Erhöhung um mehr als 50%. Jetzt werden noch die Preise für Strom erhöht.
baltija.eu: Jetzt wird es für Sie wahrscheinlich schwierig zu sagen, was Sie als nächstes unternehmen werdet?
Irina: Ich denke ich werde nicht aufhören. Wahrscheinlich Ende April oder Anfang Mai werde ich das Meeting wiederholen, eher an einem freien Tag, wenn die Leute zu Hause sind und nicht in der Arbeit. Und falls unsere Regierung uns nicht anhören wird, dann werden wir radikale Massnahmen ergreifen.
baltija.eu: Wie man sieht treten bei Ihren Meetings jedes Mal die Mitglieder der Zentristen-Partei auf, es könnte der Eindruck entstehen, dass hinter dieser Reihe von Meetings die Zentristen-Partei steht. Wie ist es tatsächlich?
Irina: Nein, es ist nicht so. Die Mitglieder der Zentristen, die gleichzeitig Mitglieder des Parlaments oder des Tallinner Stadtrates sind, traten auf unseren Meetings aufgrund meiner Bitte an sie auf. Mit gleicher Bitte wandte ich mich auch an ihre Gegner im Parlament, doch diese, wie Sie sehen, haben abgelehnt. So haben die Zentristen tatsächlich die Meetings unterstützt, doch auch sie nicht von Anfang an. Auch auf dem Meeting, Sie haben's gehört, hat das Volk "Ene Ergma" gerufen, in der Hoffnung, dass die Parlamentssprecherin aus der Regierungskoalition zum Volk kommen wird und auf die Fragen antwortet. Doch wir haben umsonst gewartet. Noch mehr: vor den Meetings habe ich die Vorabinformation über das Meeting an alle Massenmedien und an alle Parteien geschickt, doch als Ergebnis auf die mehrfache Bitte diese Information durch ihre Informationkanäle zu schicken haben nur die Leute in der Zentristen-Partei reagiert. In der Partei der Reform versuchte man es umgekehrt zu machen: die Emails der Zentristen wurden als eigene Initiative der Zentristen vorgestellt, die Meetings zu organisieren. Das heisst die Reformisten haben anstatt zu helfen, versucht diesen Fakt als Provokation und Verzehrung des Sinns der Frage auszunutzen.
baltija.eu: Mit anderen Worten heisst es, dass die Reformisten versuchen den Grund des Stattfindens der Meetings zu zwischenparteilichen Geplänkel zwischen der Opposition und der regierenden Koalition runterzuspielen?
Irina: Genauso ist es, doch sind die Parteien hier nicht schuld: Die Notwendigkeit unser Protest in dieser Form auszudrücken ist deswegen hervorgerufen, dass die sozialen Probleme überhaupt nicht in Parlament diskutiert werden, das ganze Parlament ignoriert diese Probleme und will nicht mal sie an die Tagesordnung setzen. Zum Schluss möchte ich allen denjenigen einen grossen Dank aussprechen, die auf unsere Meetings gekommen sind und denjenigen, die bei der Organisation geholfen haben, ohne sie hätte das meine Kräfte wohl überschritten. Nochmals bedanke ich mich bei allen Unterstützern!
Irina Holland
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6 Kommentare:
Mhh, Irina ist selber eine Zentristin und labert nur BS. Wenn die Lehrer streikten, wurde sie gebeten vom Platz zu gehen.
Hallo Anonymous. Geht es bitte etwas ausführlicher, was genau BS an den Aussagen von Irina sein soll? Entweder Du willst diskutieren, oder Du willst trollen.
Die Teilnehmer von diesen Streiks (von den Zentristen organisiert) sind Mitarbeiter der Stadt Tallinn und Narva, die werden gezwungen teilzunehmem (2 oder 3 Miarbeiter aus jedem Amt), die meisten dort wissen überhaupt nicht wieso sie dort sind, was auf den Plakaten stehen und was sie fordern.
Die Lehrer Zahl sollte etwa 15000 sein.
Hallo Anonymous, die Lehrerstreiks waren überall in Estland, nicht nur in Hochburgen der Zentristen, Eesti Energia und Eesti Raudtee sind private Firmen. Gibt es eine Aussage von den zum Streik gezwungenen? Was hätte ihnen gedroht, wenn sie nicht teilgenommen hätten? Überall konnten sich die Mitarbeiter entscheiden, ob sie am Streik teilnehmen, oder nicht. So fuhren durchaus noch Busse und Trams in Tallinn, weil nicht alle Mitarbeiter des öffentlichen Verkehrs am Streik teilgenommen haben.
kloty, du verwechselst den Streik der Lehrer (wo die Mitarbeiter aus Med, Energ. usw teilgenommen haben) und den Streik der Zentristen. Die erste Gruppe verlangt mehr Lohn und die Zentristen wollen an die macht.
Hallo Anonymous, Du verwechselst Streik mit Demonstration. Irina hat in ihrem Interview doch recht deutlich gesagt, wer wen zur Demo eingeladen hat.
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