Am Sonntag gingen die Kommunalwahlen in Estland zu Ende. Selbst für einen Beobachter aus dem Ausland wurde der Wahlkampf langsam unerträglich, ständig wurde was gefeiert, ob der Lasnamäe-Tag, oder die Eröffnung einer Unterführung, oder einer Eislaufhalle, die Parteigranden durften immer winken, die Kandidaten überboten sich mit Giveaways auf öffentlichen Plätzen. Vor Ort muss es noch schlimmer gewesen sein mit ständig vor Parteireklame überquellenden Postkästen und Parteienwerbung im Fernsehen. Eine funktionierende Demokratie würde man da sagen, besonders im Hinblick auf den grossen Nachbarn. Ja, aber es gibt auf jeden Fall Momente, die nachgearbeitet werden sollten. Zum Beispiel ist das eine Täuschung des Wählers, dass die Minister und Parlamentsabgeordnete auch an den Kommunalwahlen teilnehmen dürfen, obwohl es klar ist, dass sie die Arbeitsplätze niemals antreten werden. Ausser dem Ministerpräsidenten Ansip hat jeder Minister kandidiert, von den 101 Parlamentariern waren nur drei am Wahlkampf nicht beteiligt. Alle gewonnenen Mandate werden an andere Parteimitglieder gehen, von denen man nicht mal weiss, wer das ist.
Wie bei anderen Kommunalwahlen auch, war die wichtigste Frage an wen Tallinn gehen wird, das wirtschaftliche, politische, kulturelle und mit mehr als 1/3 der Gesamtbevölkerung das einwohnerreichste Zentrum Estlands. Kann Bürgermeister Savisaar und seine Zentrumspartei erneut die absolute Mehrheit gewinnen, um alleine regieren zu können? Kurz vor der Wahl hat der Bürgermeisterkandidat der Sozialdemokraten Andres Anvelt bei Fernsehdebatten eine Koalitionsvereinbarung die anderen drei Parteien ein Aussicht gestellt, was von Vertretern der Zentrumpartei sofort als "wir" gegen "den Rest" interpretiert wurde, die Fronten waren also klar abgesteckt. Der natürliche Gegenkandidat gegen Savisaar sollte eigentlich traditionell der Vertreter der Reformpartei sein, diesmal war es Valdo Randpere, der sich zwar gegen die Ex-Frau von Savisaar bei den partei-internen Wahlen durchgesetzt hat, ansonsten aber blass blieb. Doch der wahre Gegner kam von der stramm-rechten IRL Partei, es war den Lesern dieses Blogs nicht ganz unbekannter Eerik-Niiles Kross, der Sohn des bekannten estnischen Schriftstellers Jaan Kross.
Wenn man alle Skandale, bei denen Eerik-Niiles Kross zumindest mitbeteiligt war, aufzählt, kommt man auf eine recht eindrucksvolle Liste. Nach einem Magisterstudium in London, arbeitete er in den estnischen Botschaften in London und Washington. Seine politische Karriere fing Kross als Staatssekretär für Koordination der estnischen Geheimdienste an. Im Jahr 2000 hat man ihm ein Missbrauch seiner Geschäftskreditkarte für private Zwecke angelastet. Doch rausgeflogen ist er im April 2001, als er einem von FBI und InterPol gesuchtem Betrüger Antonio Angotti Zuflucht in Estland gewährt hat, wo er sogar an der Privatisierung der estnischen Eisenbahn teilgenommen hat, die später teuer vom estnischen Staat zurückgekauft werden musste. Als Sicherheitsberater beriet er den georgischen Präsidenten Michail Saakaschwili. Doch die Krönung war der Skandal mit dem Lastkahn Arctic Sea, als estnische Piraten ein Schiff vor der finnischen Küste kaperten und bis nach Cabo Verde entführten, wo es von der russischen Kriegsmarine befreit wurde. Bis heute ist es nicht klar, warum die Entführung stattgefunden hat, aber der Anführer der Piraten, die jetzt in russischen Gefängnissen einsitzen, behauptet, dass es Kross war, von dem er Geld und Anweisungen bekommen hat.
Seine Kampagne gegen die Zentristen kopierte Kross größtenteils von dem erfolgreichen Wahlkampf Indrek Tarands, der als rechter Populist einen Platz im Europaparlament bekommen hat. Hauptvorwurf an die Zentristen war die ausufernde Korruption. Zu den Aktionen zählten riesige Poster, wo Korruptionsfälle der Zentristen angeprangert waren und ein ferngesteuerter Modelhubschrauber, auf dem ein Transparent gegen Korruption befestigt war, und der genau dann vor den Fenstern des Tallinner Fernsehstudiums aufstieg, als Savisaar dort ein Interview gegeben hat. Passenderweise vor den Wahlen meldete sich ein gewisser Tarmo Lausing, ein ehemaliger Funktionär der Zentristen, der der Öffentlichkeit mitgeteilt hat, dass es bei der Zentrumspartei genauso schwarze Kassen gibt, wie bei den Reformisten, allerdings waren die Vorwürfe derart nebulös und wenig konkret, dass sie kaum gezündet haben.
Die Bombe platzte am Samstag vor den Wahlen. InterPol hat dem Gesuch Russlands stattgegeben und alle Mitgliedsländer in Kenntnis gesetzt, dass ein gewisser Eerik-Niiles Kross aus Estland, männlich, 46 Jahre alt, von russischen Justizbehörden wegen Vorwurfs der Piraterie gesucht wird. Somit kann er bei der Einreise in jedes Land festgesetzt werden und es ist die Sache des Landes, ob er an Russland ausgeliefert wird oder nicht. Das war das gefundene Fressen für die estnischen Politiker, Zentristen forderten Absetzung seiner Kandidatur und fürchteten um Estlands Ruf. Die Politiker der IRL, darunter der Parteichef und Verteidigungsminister Urmas Reinsalu behaupteten, es sei alles lange Hand Moskaus, InterPol ist Handlanger und es war genaues Timing, um dem Moskau-Freund Savisaar Sieg bei den Kommunalwahlen zu ermöglichen. Mitglied des Riigikogu Juku-Kalle Raid behauptete, dass die Russische Föderation nicht Savisaar verlieren möchte, das wäre das Ende der Estnischen Sozialistischen Republik. Der Ehrenpräsident der IRL Mart Laar sagte, dass das die Rache Russlands wäre, weil Eerik ihre geopolitischen Ambitionen während des Georgien-Krieges gestört hätte. Der Innenminister Ken-Marti Vaher verstieg sich schliesslich zu der Behauptung, dass das eine massive Einmischung der russischen Geheimdienste in die inneren Angelegenheiten Estlands sei. Es wäre ein politischer Prozess und diese Sichtweise wird InterPol und Russland präsentiert. Kross bekam auch Unterstützung von Ex-Schachweltmeister und einem der Führer der oppositionellen Kräfte in Russland Garry Kasparov, der in Tallinn weilt und in einem Fernsehinterview den Einwohnern Estlands empfohlen hat seinen Freund Kross zu wählen. Auf seiner Facebook-Seite schrieb er, dass "die langen Hände Moskaus reichten mit der Hilfe des neuen Verbündeten InterPols bis in das nachbarschaftliche Estland".
Und Kross? In einer Fernsehdebatte sagte er folgendes: "Russland hat schon vor drei Jahren ein Haftbefehl ausgestellt. Und ich, und auch der estnische Volk leben im Bewusstsein dieses Faktes schon recht lange Zeit. Und eine kleine Erinnerung vor den Wahlen, wird die Emotionen bei diesen Wahlen nur verstärken. Obwohl es komisch ist, aber ich denke, das nützt mir am allermeisten". Ein glänzender Gewinner also.
Als endlich die Ergebnisse der E-Wahlen veröffentlicht wurden, schien Kross sogar Recht zu behalten. Mit 26% bekam IRL die meisten Stimmen in Estland, danach folgten mit 22% die Reformisten, mit 15% die Sozialdemokraten und schliesslich mit 9% die Zentristen. Doch im Gegensatz zu den Briefwahlen in Deutschland, die sich von den endgültigen Ergebnissen nur um 1-2% unterscheiden, sehen die Ergebnisse der Papierwahlen komplett anders aus. Im Endergebnis bekamen die Zentristen estlandweit 31,9% (31,5% 2009), IRL kam auf 17,2% (13,9% 2009), Reformisten holten sich 13,7% (16,7% 2009), die Sozialdemokraten 12,5% (7,5% 2009) und die Konservative Volkspartei vom russophoben Martin Helme 1,3% der Stimmen.
Die Ergebnisse in Tallinn sehen folgendermassen aus: Zentristen 52,6%, IRL 19,1%, Reformisten 10,5%, Sozialdemokraten 9,9%, Konservativen 2,7%. Savisaar bleibt Bürgermeister und Alleinherrscher von Tallinn. Er schaffte es wiedermal einen persönlichen Rekord bei der Anzahl der für ihn abgegebenen Stimmen zu sammeln, satte 39 932 Stimmen entfielen nur auf ihn, also 1/5 der gesamten estlandweit abgegebenen Stimmen für Zentristen. Eindrucksvoller kann man seine Macht kaum bestätigen. Die berechtigte Frage ist nur, was in der Nach-Savisaar-Ära passieren wird, schliesslich ist der Mann schon seit mehr als 25 Jahren im politischen Geschäft.
IRL lief den Reformisten als zweitstärkste Partei den Rang ab. Werden nach mehreren Parteiaffären geschwächte Reformisten bei den Parlamentswahlen 2015 sich aufrappeln können? Wird Eerik-Niiles Kross an Russland ausgeliefert? Bereuen die Sozialdemokraten ihre unvorsichtige Koalitionsavancen Richtung IRL und Reformpartei? An diesen Fragen wird die estnische Politik noch lange zu kauen haben.
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