Der Artikel ist eine Übersetzung des Artikels von Nikolay Karaev, den ich für den besten russisch-sprachigen Journalisten in Estland halte.
Ehrlich gesagt haben mich nicht die rituelle politische Tänze rund um die bedingungslose Staatsbürgerschaft, sondern ein ganz anderes, viel kleineres und privates Vorkommnis zum Schreiben dieser Kolumne bewegt.
Zur Menschenliebe nicht fähig
Tänze sind etwas wie ein Ritual. Wissen Sie, es gibt noch diese Orte in Afrika: es versammelt sich ein Haufen von halbnackten Leuten in Bambusröckchen mit Nasenringen, sie fangen an zum Schamanengesang Speere zu schwingen, anständige und unanständige Körperbewegungen zu machen, irgendetwas unverständliches zu schreien und den Anschein zu erwecken, etwas allgemeinnützliches zu tun, für das man sie füttern, tränken und heilen sollte und zwar aus Volksmitteln.
Bei allem Respekt zum Premierminister und den anderen Teilnehmern des Schauspiels, es bleibt ein Schauspiel. Eine Zeremonie von der kaum jemandem heiss oder kalt werden sollte. Man möchte rausgehen und schreien: Vielleicht reicht es mit dem Schwachsinn?
Wir „feiern“ dieses Jahr das zehnte - stellt Euch das nur vor - das zehnte Jubiläum der Bronzenen Nächte. Das 25-jährige Jubiläum des neuen Estlands haben wir schon hinter uns gebracht. Wenn ihr Jungs da oben während der gesamten dieser Zeit es nicht geschafft habt ein hundert tausend Leuten ohne Pass (diejenigen, die gezwungen wurden die russische Staatsbürgerschaft zu nehmen noch nicht mitgezählt) die Staatsbürgerschaft zu geben, warum dann jetzt? Es ist zu spät Borzhomi zu trinken, die Nieren sind schon hin und das schon lange (Borzhomi ist ein Heilwasser gegen Nierenschäden, der Ausdruck bedeutet etwas Gutes zu tun, für das es zu spät ist. Anm. des Übersetzers). Kaum jemand wird jetzt euch wegen dem estnischen Pass lieben. Niemand wird jetzt auch böse sein, dass es ohne eine Prüfung keinen Pass geben wird, noch mehr böse sein, als in den 1990ern oder in 2007. Niemand erwartet von euch Gnade oder, es ist schrecklich zu sagen, Menschenliebe. Alle haben längst verstanden, dass ihr zur Menschenliebe kategorisch, katastrophal nicht fähig seid.
Doch das wichtigste - das allerwichtigste - nichts werdet ihr niemandem geben. Ihr werdet es versprechen, aber ihr werdet es nicht geben. Weil ihr Angst habt den chauvinistischen estnischen Wähler zu verlieren. Denn vor 25, 15, ja sogar vor 10 Jahren hätte man noch was tun können. Jetzt seid ihr die Geiseln der nationalistischen Ideologie, die man bei eurem zumindest verständnisvollem Schweigen ausübte.
Es haben faktisch nur die einzelnen nicht geschwiegen. Aber auch die werden jetzt von euch getreten. Denn der chauvinistische Wähler und seine treuen Politiker-Lautsprecher werden aus allen Ecken schreien: „Die Wölfe! Die Wölfe! Die russischen Wölfe kommen!…“
Wenn man lange auf der Illoyalität rumreitet
Es geschah etwas was man die selbsterfüllende Prophezeiung nennt. Es ist ein interessantes Phänomen, über das die Psychologen gerne erzählen: Wenn eine Vorhersage die Leute dazu bringt sich entsprechend zu verhalten, dann trifft die Vorhersage ein. Wenn man z.B. laut über die Inflation schreit, dann stürmen die Leute die Läden und kaufen massig Waren, die Inflation tritt tatsächlich ein.
In Estland ist es wie auf einem Notenblatt. „Diese Russen! Die sind uns gegenüber illoyal! Sie lieben Russland! Wir geben ihnen keine Pässe, wir geben ihnen keine Bürgerrechte!“ Und voilá: viele Russen, die seinerzeit recht loyal waren und zu Russland ein undifferenziertes Verhältnis hatten (öfters kannten sie es gar nicht, denn sie wurden hier geboren und verbrachten hier ihr ganzes Leben), als sie mit so einem offensichtlichen Signal seitens der estnischen Regierung zusammenstiessen, fingen sie gegenüber dem estnischen Staat an so was wie Antipathie zu empfinden.
Was möchten sie denn befehlen zu empfinden, wenn der Staat dich einfach nicht liebt und kein Ereignis ausläßt, um es klar zu demonstrieren? Schauen wir dich an, wie du bist: ein Arbeiter, ein Lehrer, ein kleiner Selbstständiger, der irgendwann mal keine politischen Ansichten hatte, der wegen des Alters und der Arbeit nicht in der Lage war estnisches selgeks (est. Sprache, Anm. des Übersetzers) zu lernen. Hier bist du, der in Sillamäe, in Narva, in Lasnamäe lebt und du hast keine Freunde unter den Esten, und die Esten beeilen sich nicht mit dir Freundschaft zu schliessen, ja und du hast auch keine Zeit für neue Freunde, denn du hast eine Menge zu tun und die Familie zu ernähren. Hier bist du, der nur möchte, dass man dich in Ruhe läßt…
Und hier ist der Staat, der wie die Heldin bei Tschechow, die, wie sie sich erinnern „einen Hering nahm und mit dessen Schnauze mir in die Fresse zeigte“. Doch anstatt des Herings ist es deine Illoyalität. Du bist der Feind. Offen sagt man das nicht, alle sind politkorrekt bis zu geht nicht mehr, in Europa macht man so was nicht, doch sinngemäß bist du der Feind. Du bist schon dessen schuldig, dass du in der UdSSR geboren wurdest und kein Este bist. Du bist der Okkupant! Oder ein Nachkomme des Okkupanten, also doch ein Okkupant. Die fünfte Kolonne, die Gefahr für die nationale Sicherheit. Du hast nichts dagegen, hier Donezk und Krim zu organisieren. Wir werden dich karikaturieren, wir werden über dein Ghetto lachen, du lebst doch im Ghetto, falls du es nicht weisst, wir werden auf dich runterschauen, und wir werden zum Beispiel den Arzneien keine russische Infoblätter beilegen, denn die russischen Alten sollen ihren Platz kennen. Und juristisch wird es alles korrekt sein.
Doch wage es nicht zu hoffen, wir werden dich nicht in Ruhe lassen. Du musst umformatiert werden! Und es entstehen mehrere fast-wissenschaftliche Schulen, deren Vertreter sich nicht schämend in der Presse diskutieren, wie genau man dich umformatieren soll. Vielleicht nicht mal dich selbst, denn du bist nicht mehr korrigierbar, sondern deine Kinder oder Enkelkinder: lasst uns aus ihnen Esten erschaffen, lasst uns mit ihrer Hilfe unsere Demographie retten, zwingen wir sie auf estnisch zu lernen, anstatt sie in der Schule die Sprache zu lehren, und es ist scheissegal, ob sie Nervenzusammenbruch haben, oder sie sitzenbleiben, dafür werden sie unsere Werte haben, nicht die, die du hast. Also nicht die feindlichen. Hast du verstanden?…
Die Prophezeiung hat sich erfüllt!
Und natürlich, ein heiliges Plätzchen kann nicht leer bleiben: die russländische Regierung, die ihre Aufgaben hat, innere und äussere, die dich überhaupt nichts angehen, sie sehen ausgezeichnet wohin sie schlagen können, wo es weh tut und schlagen genau dorthin. Mit Propaganda. Mit „analytischen“ Sendungen von Puschkow. „Talk-Show“ von Solowjew. „Nachrichten“ von Dmitrij Kisiljev. Deine Wut auf Estland, die durch Estland geboren wurde, wird in die benötigte Kanäle, in das richtige Wertesystem umgeleitet, in dem Putin und Trump rechtens sind, Obama und Gayropa links. Das witzigste daran ist, dass du bei dieser Deutung nur ein Nebenprodukt bist. Das Zielauditorium der zentralen Kanäle in Russland lebt in Russland, das Auditorium wird gelehrt sich zu einen und loyal zu sein, und du…, lassen wir dich auch einen von uns zu sein, uns wird es nicht schaden. Je mehr Hölle, je mehr Binarität, je öfters du in den Begriffen „wir und die“ denkst, desto besser.
Auch in Estland gibt es genügend Befürworter desselben Wertesystems „wir und die“. Nur, was bei den Jungs „wir“ sind, sind bei den anderen Jungs „die“ und umgekehrt. Man sagt, dass schwarz-weisse Brillen das Leben sehr erleichtern: mit dem Kopf braucht man nicht mehr zu denken.
Doch wenn vor 25, 15 oder erst recht vor 10 Jahren die Politiker, diejenigen, die an der Macht waren, die Reformisten, obwohl das System alle Teilnehmer, selbst die Opposition nicht schlecht fütterte, tränkte und heilte, anstatt gegenseitigen Hass anzufachen, ihn löschen würden, wenn damals unter entsprechenden Bedingungen die bedingungslose Staatsbürgerschaft geben würde, die Befürworter des schwarz-weissen Wertesystems würden kaum so eine reiche Ernte einfahren.
Doch unsere Politiker zogen die selbsterfüllende Prophezeiung vor. „Wir geben ihnen keine Pässe, sie sind illoyal!“ Sind sie denn wirklich illoyal? „Lasst uns ein Viertel Jahrhundert warten… Wow, schaut mal, diejenigen ohne die Pässe, schaut mal wie illoyal die sind! Wir haben alles richtig gemacht, alles richtig!“ Wie man in dem Film „Klassik“ sagte: „Eine sehr schöne Kombination…“
Angenommene Fremde und was tun mit ihnen
Aus der Sicht der Psychologie ist der Prozent der Radikalen in jedem Volk ungefähr ähnlich und schwankt in der Abhängigkeit von der allgemeinen Anspannung. Einen Teil der Russen in Estland machte die Regierung mit dem schweigenden Einverständnis des Volkes zu Radikalen (auf beiden Seiten der schwarz-weissen Front). Nicht alle natürlich. Viele haben mehr schlecht als recht die Sprache gelernt und die Prüfung abgelegt, was nicht heisst, dass sie „eine Seite annahmen“ oder „alles vergaßen“. Viele, wie auch in Russland, tauchten in ihr Privatleben ein und wollen gar nicht wissen, welche Spielchen auf unserem politischen Himmel gespielt werden. Ich würde gar nicht dem schweigenden Volk die Schuld geben, der den Reformisten erlaubte so viele Jahre das Land in einem Zustand der Spaltung gehalten zu haben. Das Volk ist immer schweigend, das kann man auch psychologisch erklären.
Es ist belustigend jetzt die Tänze rund um die bedingungslose Staatsbürgerschaft zu beobachten. Alle verstehen, dass nichts passieren wird. Es ist auch egal. Ein Viertel Jahrhundert sind nicht die vierzig Jahre die Moses die Juden in der Wüste rumführte, doch auch das reicht schon für ein Paradigmenwechsel aus. In 25 Jahren konnte man viel über die Jungs verstehen, die dort oben sitzen. Besonders, wenn die Jungs, die da oben sitzen, es auf jede Weise unterstützen.
Es ist nicht verwunderlich, dass weiterhin es mehr Gründe geben wird die bedingungslose Staatsbürgerschaft zu untergraben. „Ach, die russischen Alten können kein Estnisch lernen? Doch vor 25 Jahren waren sie nicht alt!…“ Richtig, doch zu denjenigen, die vor 25 Jahren alt waren, habt ihr euch genauso verhalten. Es ist keine Frage des Alters. Es ist keine Frage der Sprache. Die Sprache war immer ein Vorwand: mit ihr ist es am einfachsten die angenommenen Fremde zu identifizieren. Doch in einem chauvinistischem Wertesystem bleibt der Mensch ein Fremder und Feind, selbst wenn er in deiner Sprache spricht und mit dem richtigen Pass rumläuft.
Und sagen sie mir nicht, dass die Vertreter einen kleinen Volkes keine Chauvinisten sein können, dass es immer das Schicksal einen grossen Volkes sei. Erstens sind in Estland die Russen eine nationale Minderheit, das Mehrheitsvolk sind die Esten. Zweitens, die Suche nach dem Feind aufgrund der ethischen Zugehörigkeit kann jeder Vertreter eines Volkes ausüben, das hängt nicht von der nationalen Identität ab, sondern vom Inhalt des Hirns und Herzens. Und sagt mir nichts über die Geschichte. Die Geschichte geschah all diese 25 Jahre, tagtäglich, und für jeden lokalen Russen ist das eine viel wichtigere Geschichte, als die längst vergangene Sowjetunion.
Es ist so: die Chauvinisten wollen einfach nur die Fremden nicht neben sich sehen - und erklären sie schon mal zu Feinden. Und die Prophezeiung fängt sich selbst zu erfüllen an: Die Sprachfremde fangen an die Chauvinisten als auch die, die sie schweigend unterstützen, schief anzuschauen. Bitte zum Tisch, die Spaltung in der Gesellschaft ist fertig. Alles was man braucht ist es zu den angenommenen Fremden sich schlechter zu verhalten, wie zu den Seinen, zweieinhalb Jahrzehnte lang. Und dann einmal kommt in das Facebook der Abgeordneten des Europaparlaments Yana Toom der Historiker Lauri Vahrte und fängt an auf den Fingern zu erklären, warum die bedingungslose Variante gar nicht geht: „Die Vergrößerung der Anzahl der Bürger, die feindlich (belustigend, arrogant und so weiter) sich zu der Estnischen Republik verhalten, ist nicht im Interesse der Estnischen Republik…“
Darauf widerspricht ein Nikolay Karaev Vahtre (auf Estnisch), dass das ein vorurteilsbehafteter Chauvinismus sei und die „Argumente“ über die Einbürgerung auch: Einbürgerung ist für die Einwanderer, derjenige, der hier geboren wurde und sein ganzes Leben lebt, ist kein Immigrant und der Staat ist einfach verpflichtet ihm alle Bürgerrechte zu geben.
Darauf antwortet Vahtre, dass über die Rechte „ein Okkupant brüllt“, das Karaev ein „Gedankengut eines Okkupanten“ hätte.
Ja, es ist ein kleiner Streit im sozialen Netzwerk. Doch in diesem Streit spiegelten sich die ganzen vergangene 25 Jahre wider. Niemand hat behauptet, dass es einfach wird.
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