Übersetzung aus stolitsa.ee
Die Problematik der Beziehung zwischen Esten und in Estland lebenden Russen kann man erst lösen, wenn man die Besonderheit des Prozesses der Formierung des estnischen Volkes und des nationalen Selbstverständnisses begriffen hat. Das ist die Meinung des französischen Historikers Jean-Pierre Minaudier, der letzte Woche eine offen zugängliche Vorlesung im Konferenzsaal des Auswärtigen Amtes Estlands gehalten hat.
"Deutsches Produkt"
Es gab keine Nation. Gar keine. Nur Leute, die auf dem Lande und in den ärmlichen Vorstädten gelebt haben, die sich von der vermögenden Klasse hauptsächlich durch ihre Sprache und ihren sozialen Status unterschieden haben. "Estländer" - also Bewohner Estlands nannten sch öfters örtliche Deutsche, die sich von Preussen, Sachsen und Bayern absetzen wollten. Vorfahren jetziger Esten, die auf der sozialen Treppe aufsteigen konnten, wollten aus allen Kräften umgekehrt sich für Deutsche ausgeben…
Mit solchen Worten beschreibt Professor Minaudier die Sachlage auf dem Territorium des modernen Estlands vor zwei Jahrhunderten. "Man kann nur in dem Fall über eine Nation sprechen, wenn sich das Volk als solche begriffen hat - bemerkt der französische Historiker. Bei den Esten lief das Prozess des "Selbstverständnisses" in einer sehr kurzen historischen Periode ab. Die Epoche der nationalen Erweckung vollzieht sich in wenigen Jahrzehnten des XIX Jahrhunderts. Im Vergleich zu den Völkern des so genannten alten Europas ist diese Zeitdauer praktisch rekordverdächtig.
Zweifellos ist die Selbstfindung der Esten als eine eigene Nation keine einmalige Erscheinung in Europa. Parallel zu ihnen haben ähnliche Prozesse zum Beispiel die Finnen, die Letten, die Slowaken, die Kroaten durchlaufen. "Nationale Erweckungen" vor anderthalb Jahrhunderten sind Nebenwirkungen der Philosophie der nationalen Romantik, die zwischen XVIII-XIX Jahrhunderten in dem in hunderte Kleinfürstentümern zerteilten Deutschland geboren wurde. Das "Deutsche Produkt" wurde plötzlich zwischen Mittelmeer und der Ostsee gebraucht. Als das "ihriges" wurde es von Dutzenden von Völkern vereinnahmt, die in der Regel nicht in ihren nationalen Staaten, sondern unter einer fremden Herrschaft lebten.
Sprachstolz
"Das nationale Selbstbewusstsein der Esten hat sich in "vorstaatlichen" Ära formiert", unterstreicht Minaudier. "Das Bewusstsein als Nation wurde nicht mittels der Politik, sondern mittels der Kultur und der Sprache erreicht. Das ist eins der Unterschiede des Selbstbewusstseins der Esten und der "alten Europäer". Das nationale Selbstbewusstsein der Franzosen, zum Beispiel, basiert auf dem Fundament des Staates. Das ist kein Zufall, denn das Königreich Frankreich wurde mehrere Jahrhunderte vor dem Zeitpunkt erschaffen, als sich die Franzosen als eine Nation begriffen haben. Deswegen ist das wichtigste für einen Franzosen das Leben auf dem Gebiet des Staates, der Besitz des französischen Passes und nicht das Können der Sprache".
Bei den Esten ist es umgekehrt: Ein Mensch, der estnisch spricht, wird als "unser Este" angenommen, unabhängig von seiner ethnischen Herkunft oder Staatsangehörigkeit. Und sogar vom Wohnort. "Für einen Franzosen ist es sehr schwer zu verstehen: ein französisch-sprechender Schweizer oder Belgier oder gar Einwohner des französisch-sprechenden Teils Kanadas kann kein Franzose sein", gibt Minaudier offen zu. "Umgekehrt, der in Frankreich lebender Baske oder Bretagner, der nicht die literarische französische Sprache spricht, wird unabhängig von seinem eigenen Verständnis von der Umgebung als Franzose wahrgenommen."
Die durch die Philosophen-Romantikern ausgerufene Treue zur Altertümlichkeit, hat ihren Eindruck auf das Verhältnis der Esten zu der Muttersprache geprägt und durch sie auf das ganze Modell des nationalen Selbstbewusstseins. "Finno-Ugrische Sprachen sind mit die archaischsten" - erinnert uns Minaudier. In Augen eines Esten gibt das ihr zusätzliche Wertigkeit und gibt einen Grund für Stolz: "Wir konnten etwas sehr Altes aufbewahren, trotz aller Widrigkeiten". Doch die Bewahrung der estnischen Sprache im Laufe der sieben Jahrhunderte fremdländischen Besatzung wurde durch zwei Faktoren ermöglicht: das Fehlen der deutschen Bauernschaft im mittelaltrigen Livonien (Fremdländischen wohnten in den Städten und mischten sich nicht mit der örtlichen Bevölkerung) und das Fehlen einer zielgerichteten Sprachpolitik bei den Mächtigen Livoniens - solchen Sachen schenkte man im Mittelalter überhaupt keine Beachtung.
Die Treue zu Anachronismen
Wie Professor Minaudier glaubt, wurde eines der ernsthaften Schläge für das nationale Selbstbewusstsein der Esten im XX Jahrhundert durch die Sowjetmacht zugefügt. Als Estland durch UdSSR geschluckt wurde, blieb vom erklärten "proletarischen Internationalismus" der zwanzigen Jahre keine Spur übrig. Die proklamierte Gleichheit aller Kulturen und Sprachen war ein Lippenbekenntniss der Regierung der Sowjetunion, tatsächlich hat sie nach dem Krieg das Model des "älteren Bruders - des russischen Volkes" und des "jüngeren Bruders - die Rolle der anderen Völker der UdSSR" angewendet.
"Das bedeutet nicht, dass die Sowjetmacht zielgerichtet das Baltikum russifizieren und Estland in ein "Kleinrussland" verwandeln wollte", unterstreicht Minaudier. Estnische Sprache und estnische Ausbildung waren niemals in der Sowjetunion verboten und die Politik Moskaus gegenüber Tallinn war viel weniger brutal als die Politik von Paris gegenüber Tunesien und Algerien. Doch die offiziell erklärte Zweisprachigkeit hat im realen Leben bedeutet, dass man ohne die Kenntnisse des Estnischen in Estland leben konnte, doch ohne die Kenntnisse des Russischen wurde es immer komplizierter. Der Bevölkerungszufluss, der die estnische Sprache nicht kannte und nicht lernen wollte, wurde von den Esten als ein Angriff auf das Fundament der estnischen Kultur gesehen, als "kulturelles Genozid".
Die Ursache der modernen Widersprüche zwischen Esten und örtlichen Russen entsteht nach Meinung Minaudiers mehrheitlich daraus, dass zwei nationale Ideen aufeinanderstossen - die "kulturelle" und die "staatliche". Um einander zu verstehen, müssen die Träger anerkennen, dass sie beide Recht auf Existenz haben. Obwohl sie in modernen, postmodernistischen Gesellschaft immer mehr und mehr zu einem Anachronismen werden.
Lion, Paris und Tallinn
Wie es aussieht hegt der französische Historiker die meiste Hoffnung auf Zeit. "Die Zeit der größten nationalen Traumas für Franzosen, die Epoche des Zweiten Weltkrieges, wird schon als Geschichte wahrgenommen", führt er aus. "Die Geschehnisse der vierziger Jahre ist das Erbe der Generation meiner Eltern. In Estland erinnert sich die Generation der Kinder an die Sowjetzeiten, sie sind meine Zeitgenossen. Dabei sind die Erinnerungen der Vertreter der beiden Gemeinden öfter diametral gegensätzlich. Das was für die einen eine "normale", "naturgegebene" Situation ist, wird von den anderen als Attentat auf die Existenz der Nation gesehen."
"Die Berührungspunkte zwischen der beiden Gemeinden werden immer mehr", erkennt Minaudier an. Dies kann man zum Beispiel beim Sport gut sehen, wo russisch-stämmige Sportler unter der estnischen Fahne auftreten, wobei sowohl die estnische, aber auch die russische Zuschauer für sie, wie für die "ihre" eintreten. Ich wurde angenehm über die Ergebnisse des Wettbewerbs über das Muster der estnischen Euro-Münzen überrascht: Die Einwohner haben sich für ein Symbol entschieden, das nicht einen nationalen, sondern geografischen Merkmal trägt - die Siluette der Grenzen der Estnischen Republik".
"Man kann sagen, dass das sprachliche Fundament des nationalen Selbstbewusstseins bei den Esten zum territorialem zu wechseln anfängt", stellt der französische Forscher fest. Doch ist dieser Prozess noch ganz am Anfang. Esten und Russen werden noch lange sich nicht zueinander so verhalten, wie die Einwohner von Paris und Lion."
Autor: Josef Kaz
Jean-Pierre Minaudier ist 1961 geboren.
Historiker-Diplom bekam er an der Hochschule Ecole Normale Supérieure.
Erlernte estnische Sprache im Pariser Institut für Ostsprachen. Zur Zeit unterrichtet er die estnische Geschichte und allgemeine Geschichte in Lycée La Bruyère in Versailles
2007 gab er das ausführlichste Werk über die Geschichte Estlands in französische Sprache heraus: Histoire de l'Estonie et de la nation estonienne.
Übersetzte vom estnischen ins französische historische und literarische Texte, darunter den dritten Teil des Werkes von A.H.Tammsaare "Wahrheit und Gerechtigkeit".
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4 Kommentare:
Schön, einmal etwas von einem Experten zu lesen, der keine (offensichtlichen) Verbindungen zu der einen oder anderen Seite hat.
Das scheint mir wirklich ein Historiker zu sein, der keine politischen Interessen hat. Vorher habe ich nie was von ihm gehört, hoffe, dass er noch öfters in Erscheinung treten wird.
Klasse Artikel, und weitestgehend frei von Propaganda.
"Esten und Russen werden noch lange sich nicht zueinander so verhalten, wie die Einwohner von Paris und Lion."
Ich weiss, was er meint, aber das ist mir nicht nur etwas von oben herab.
Migrations-Infi.de:
Die Aufstände sind für den Pariser Professor ein Ausdruck der Empörung über die Ausgrenzung, die die Jugendlichen in ihrem Alltag erfahren. Diese Jugendlichen leben in einer Gesellschaft, die alles verspricht und wenig hält, schreibt der Soziologe. Das Etikett „mit Migrationshintergrund“ sei ein deutliches Zeichen für die herrschende innergesellschaftliche Ablehnung, da es auf französische Staatsbürger angewandt würde, deren Verhältnis zur Migration mehrere Generationen zurückliege. In den Unruhen in den französischen Vorstädten habe sich das soziale und das ethnische Problem überlagert. Die dort lebenden Jugendlichen erleben diese an sie herangetragene „doppelte Benachteiligung der Rasse und der Klasse“ und das damit verbundene Schwinden von Lebenschancen und -träumen tagtäglich.
aus:
Rezension - Robert Castel: Negative Diskriminierung. Jugendrevolten in den Pariser Banlieues.
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