Mittwoch, Januar 11, 2012

Leise rieselt der Schnee

ich komme gerade aus zugeschneitem Estland, wo ich vier Tage mit meiner Freundin, die vor 11 Jahren zum letzten Mal Estland besucht hat, und einem Freund, der zum ersten Mal in Estland war, verbracht habe. Deswegen sind viele Beobachtungen nicht nur meine, sondern auch ihre.

1. Estland ist teuer. Was schon 2007 spürbar war, ist jetzt endgültig zur Wirklichkeit geworden. Insbesondere die Preise in der Tallinner Innenstadt für Essen, Kleidung, Eintritte sind so gestiegen, dass selbst deutsche Touristen sich zweimal überlegen müssen, was sie unternehmen und wo sie essen gehen. Dieses Gefühl kenne ich von keiner anderen osteuropäischen Stadt, hier ist Tallinn skandinavisch geworden. Am teuersten sind interessanterweise die estnischen Erzeugnisse (nicht alle, aber die Ausnahmen bestätigen die Regel)


Tafel estnische Schokolade für 5,29 EUR gefällig?

2. Tallinn ist voll mit russischen Touristen. Deutsche gibt es kaum, Englisch hört man auch recht selten, aber dafür Russisch an jeden Ecke. Die Macht des Faktischen ist deutlich spürbar, so haben die Buchhandlungen die Waffen-SS Kalender aus der Vitrine geräumt, und dafür estnische Kochbücher auf Russisch platziert. Bedienungen, die nicht russisch sprechen, sind die Ausnahme geworden, alle Restaurantmenüs gibt es auch in russischen Sprache. Am Rathausplatz beim Weihnachtsmarkt ist der estnische Weihnachtsmann gezwungen sich mit den Kindern auf Russisch zu unterhalten, sonst versteht ihn dort niemand.

3. Auch die estnische Elite beginnt zwischen den "nützlichen" und "unnützen" Russen zu unterscheiden. Die "nützlichen", das sind diejenigen, die Geld in das Land bringen, denn nur die Touristen-Russen akzeptieren es ohne Murren, die teueren Preise zu bezahlen und kommen sogar evtl. wieder. Die "unnützen" Russen leben in Lasnamäe, verbreiten Geschlechtskrankheiten und machen Arbeit, die sonst kein Este tun würde, so O-Ton einer jungen Estin, die irgendwie ins Fernsehen geschafft hat.

4. Tallinn hat sich sehr herausgeputzt und sieht besonders im Schnee wunderschön aus. Manchmal ist es schon zu viel an Weihnachtseffekten, man muss nicht unbedingt die Dächer der Viru-Tore mit roten Lichterketten bedecken, aber der Weihnachtsmarkt, der Weihnachtsbaum sind sehr gelungen. Nur lasst bitte beim nächsten Mal die armen Rentiere aus dem 5x5m grossen Käfig raus, 6 Wochen darin ist reinste Tierquälerei.

5. Letztes Mal habe ich moniert, dass es keine estnischen Märchen in russischen Sprache in den Buchhandlungen gibt. Es gibt auch keine estnischen Klassiker in deutschen Sprache. Mein Freund wollte Jaan Kross auf deutsch kaufen. No luck.

6. Estland entwickelt sich zu einem Land für Feinschmecker. Das nötige Kleingeld vorausgesetzt kann man Elchleber probieren, Vorschmack (eine Art Labskaus) mit Elementen der Molekularküche degustieren, oder auch Wildschweingulasch essen. Selbst Bärenfleischkonserven bestehen aus 85% Bärenfleisch, in Russland sind es ca 15%, obwohl in Russland viel mehr Bären leben. Sehr empfehlenswert ist Lido in Solaris, wo man für wenig Geld recht gut essen kann und braucht nicht auf die Bedingung zu warten.

7. Die coolste Bar in Tallinn ist immer noch die DM Baar (für Uneingeweihte DM steht für Depeche Mode). Jeder, der zwischen 1970-1980 geboren wurde, wird mir zustimmen.

8. Wintersportanfänger kommen am Sängerfestplatz auf ihre Kosten, es gibt da Schneekanonen und sogar ein Miniskilift, also kann man da schon die ersten Schritte auf dem Snowboard ausprobieren. Wer Langlauf bevorzugt, kommt erst recht auf seine Kosten. Wir haben viele Touristen aus Russland gesehen, die in Estland Skilaufen. Wahrscheinlich denken sie, dass sie sich hier nicht verlaufen können und nicht vom Bären gerissen werden. Man kann sich auch täuschen, angeblich leben noch 500 Bären in Estland.

9. Im estnischen historischen Museum läuft gerade die Ausstellung 11.000 Jahre estnische Geschichte. Das ist der neue Rekord, wie alt das estnische Volk nun eigentlich ist. Den letzten Rekord hat der estnische Präsident Ilves aufgestellt, der in seiner Neujahrsansprache von 750 Jahren Warten auf die Freiheit gesprochen hat. Zur Ehrenrettung der Ausstellung muss man sagen, dass dort gesagt wird, dass erst 1805 die Esten sich als ein Volk zu fühlen begannen.



10. Noch ein Geheimtipp für die Liebhaber des Jugendstils. Die Standesamtmitarbeiter werden mich verfluchen, aber der Tallinner Standesamt ist definitiv ein Besuch wert. Einfach sich einer Hochzeit anschliessen, den wunderschönen Jugendstil-Leuchter anschauen und ja keine Gegenstände auf das Klavier legen, denn wie auf dem aufgeklebten Schild steht, ist das Instrument alt und wertvoll, für alle Schäden haftet das frischgetraute Ehepaar und wir wollen ja nicht ihnen ihren schönsten Tag vermiesen.

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

So viel wie ich weiß, kamen gerade während Weihnachten die russichen Touristen mit Zug (mit Züge) nach Estland. Sie sagten: "Moskva ist ja noch teurer." Einige von denen wollten noch nach Finnland für ein-paar Tage. Für russische Leute ist es in Estland auch nicht so kalt zur Zeit, für viele andere Länder ist das keine Verrreisen-Zeit.. Eher kommen sie im Sommer.. wenn am Meer nicht so kalt ist. Und diese Leute waren auch reicher als durchschnittlich vielleicht in Rußland. So habe ich Interwiew mit denen in online-Zeitung verstanden.

kloty hat gesagt…

Ein Tourist ist ein sehr unpolitisches Wesen. Er will nur sich was anschauen, ein paar Photos machen und was einkaufen. Was die Politiker sagen interessiert ihn nicht. Die meisten werden nicht mal wissen, wie der estnische Präsident heisst, geschweige denn seine Interviews auf deutsch gelesen haben. Deswegen denke ich, dass selbst wenn es einen Widerstand seitens der estnischen Politik geben sollte, die nicht gerne sieht, dass die estnische Hauptstadt von Russen bevölkert wird, viel ausrichten können sie nicht, zudem die Schengen-Visen über die finnische Botschaft einfach ausgestellt werden.