Dienstag, Juli 24, 2012

Aus dem Leben einen russischen Menschenrechtsanwalts in Estland

Sergej Seredenko ist ein Anwalt, der sich russischer Ombudsmann nennt und sich auf die Verteidigung von Rechten der russischen Minderheit in Estland spezialisiert hat. Hier sind Auszüge seiner Rede beim "Runden Tisch: Die Verbesserung der Arbeit mit russländischen Kompatrioten im Ausland: Recht und Information"

Wenn man die formelle Seite der Fragestellung nimmt, so beschäftigen sich in Estland mit dem Thema Menschenrechte recht viele GONGOs (Governmental Organized Non-Governmental Organizations) - es gibt den Institut für Menschenrechte, einige Zentren für Menschenrechte usw. Der Hauptsinn ihrer Tätigkeit - die Verteidigung des Staates gegen die Bürger und Rechtfertigung der ultranationalistischen Politik des Staates. Diese GONGOs sind sehr aggressiv zu den nationalen Minderheiten. Als Beispiel kann man den Fakt ansehen, dass sie für das "Recht" der russischen Minderheit "kämpfen" auf Estnisch zu lernen - so nennt man in Neusprech die Vernichtung der russischen Schulen.

Verteidiger der Menschenrechte in Estland, die sich hauptsächlich auf der Verteidigung der russischen Leute spezialisiert haben, kann man auf den Fingern einer Hand zusammenzählen. Sie alle, ausser mir, haben ihre Ausbildung im Informationszentrum für Menschenrechte (LICHR) bekommen. Alle diese Leute haben eine Mission, sie haben ein verschärftes Gefühl für Gerechtigkeit, mit einem Gen für Menschenrechte, wenn man das so sagen kann. Sie alle, ausser dem Ehepaar Semjonovs (Leiter des LICHR), haben eine juristische Ausbildung und Erfahrung in Arbeit im Gerichtssaal. Das sind sehr arme Leute, denn der Zugang zur staatlichen oder europäischen Finanzierung ist für sie per Definition geschlossen und ihr Klientel sind in der Regel mittellos. Daher kommt eine sehr grosse Müdigkeit, denn manche arbeiten unter solchen Bedingungen seit mehr als 10 Jahren (LICHR wurde vor 18 Jahren gegründet, Projekt "Russischer Ombudsmann startete im Frühling 2004).

Für diese Kategorie der Rechtsverteidiger in Estland ist solche Eigenschaft wie "Überqualifikation" typisch. Wie die berühmte Eiskunstläuferin Irina Rodina sagte, wenn man bei der Olympiade in Lake Placid gewinnen wollte, musste man nicht besser als andere sein, sondern dreimal so gut. Dasselbe kann man über die Erfolge vor den estnischen Gerichten sagen.

Eine besonderes Thema ist die Sicherheit der Menschenrechtverteidiger. Wie alle russischen Vertreter der Zivilgesellschaft sind sie recht bekannt und das bedeutet, dass sie ständig indirekt behindert werden. Zum Beispiel wurde die estnische Gesetzgebung derart "aufgebaut", dass faktisch alle unsere Jura-Diplome "annulliert" wurden. In meinem konkreten Fall endete mein Versuch in die Estnische Rechtsanwaltschaft einzutreten damit, dass die estnische Gerichte sinngemäß mein russländisches Hochschul-Staatsdiplom annuliert haben. Und mein Versuch meine juristische Ausbildung bis zum Magisterlevel zu vervollständigen, indem ich mich für das Programm der Kompatrioten im Ausland beworben habe, endete mit dem russländischen Verbot einen zweiten kostenlosen Hochschulabschluss zu bekommen. Ich sage das deshalb, weil um das Recht vor den estnischen Gerichten zu vertreten, zu bekommen, muss man jetzt Magisterabschluss haben.

Wir brauchen neue Leute, Schüler, doch kann man sie nirgends hernehmen, denn unser "Beruf" kann der Jugend nichts anbieten - kein Geld und keine Perspektiven.

Samstag, Juli 21, 2012

Bericht vom rechten Rand

Am 14. Juli fand in der Stadt Kuressaare auf der Insel Saaremaa das XX. Treffen der Union der Kämpfer für die Freiheit Estlands (est. Eesti Vabadusvоitlejate Liidu) statt. Es kamen ca. 400 Teilnehmer, sowohl aus Estland, als auch aus dem Ausland. Es wurde ein Gedenkstein an die Schlacht in Techumardi während des Zweiten Weltkriegs und eine Gedenktafel aufgestellt. Diese Veranstaltung ist normalerweise nicht so bekannt, wie das Treffen der Veteranen der Estnischen Legion der Waffen-SS in Sinimäe, das übrigens am 28. Juli stattfinden wird, doch diesmal ließ es sich der neue Verteidigungsminister Urmas Reinsalu nicht nehmen, daran teilzunehmen und eine Rede zu halten.

In der Rede betonte er, dass die Kämpfer für die Freiheit Estlands die Ehre des estnischen Volkes gerettet hätten. Es wäre auch klar, dass der unabhängige estnische Staat der Hauptgarant für den Erhalt des estnischen Volkes wäre. Das wäre die zentrale Frage der nationalen Sicherheit.

Nachdem in Februar das estnische Parlament eine Resolution verabschiedete, die Dank und Anerkennung all denjenigen aussprach, die für die Freiheit Estlands gekämpft haben, waren es äußerst neblige Formulierungen, so dass in Prinzip jeder sich angesprochen fühlen konnte. Doch nun, durch die Rede vor vielen ehmaligen Mitgliedern der Estnischen Legion und anderen Truppen, die einen Eid auf Hitler geschworen haben, wird es klar, wer in der Resolution gemeint war. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass der Verteidigungsminister eine ähnliche Rede am 9.Mai vor der Veteranen der Roten Armee halten wird.

Eine interessante Veranstaltung für die jüngeren Verehrer von der Estnischen Legion ist sicherlich der Auftritt der rechten Band Death in June in der Von Krahl Bar in Tallinn. Das pikante dabei ist, genau in dieser Bar wurde das Free Pussy Riot Konzert veranstaltet, bei dem der estnische Präsident Ilves anwesend war. Ob ein medienwirksamer Besuch einer Kneipe, die rechte Konzerte veranstaltet, für Herr Gauck so politisch gesund wäre? In Estland hat es nicht mal jemand gemerkt.

Von braunzonebw wurde mir folgender Link zugeschickt. Es wird über den Rücktritt des lettischen Justizministers berichtet, der sich geweigert hat jüdische Organisationen zu entschädigen, deren Besitz von der Nazibesatzung konfisziert wurde.

Wenigstens gibt es eine Stellungnahme von Welt ohne Nazismus. Der Vorsitzende Boris Spiegel schreibt zu der Veranstaltung in Kuressaare:

STATEMENT


On the glorification of Nazism in Estonia

On July 14, 2012 Estonia’s Defense Minister, Urmas Reinsalu, took part in the 20th rally of the so-called "Union of Freedom Fighters", which unites the former Waffen SS soldiers with other military units that fought on the side of Nazi Germany. Characteristically, the majority of the so- called “freedom fighters” present at the rally had a sign of the 20th SS division on their clothes, which allows us to assert that they were veterans of this particular division. According to state television and radio company, ERR, Estonia's Defense Minister expressed gratitude to the veterans of the Wehrmacht for their bravery in his speech at the rally. According to him, Hitler's henchmen’ contribution to the Republic of Estonia is crucial, "because they saved the honor of the Estonian people." According to the same TV source, the Minister also assured the audience that today's generation of Estonians is guided by the "freedom fighters”’s self-sacrifice.

So on behalf of the Estonian state, Urmas Reinsalu showed the world that the Nazi ideology could have an excuse, and that the executioners of Hitler’s orders in Estonia could become national heroes. The reason for such a complete disregard for the rule of law and human morality lies in the connivance of neo- Nazi sentiment in the upper echelons of the government of Estonia and the reluctance of the EU leadership to pay attention to attempts to falsify history and to glorify Nazi criminals in Europe.

International Human Rights Movement "World Without Nazism" repeatedly warned that the movement to defend Nazi ideas in Estonia is becoming increasingly progressive in its course: the war with the monuments, the awarding of state awards to nationalist activists, the Ministry of Defense’s funding of the SS veterans organizations, war games "Erna", which are based on real combat route of Nazi Germany’s diversionists in the Soviet Union, and gatherings of friends of the 20th SS division.

The people of Europe suffered huge casualties in the struggle against fascism, and we must never forget that. Attempts by the Estonian authorities to review the history and to present Wehrmacht soldiers as heroes and anti-fascists as extremists are not only insulting to the people of Europe that survived a difficult war and occupation, but they are a powerful destabilizing factor in modern politics, aiming to justify Nazism and to revise the postwar world.

Another demonstrative act of worship of the SS veterans’ "feats" is expected on July 28th in the Estonian town of Sinimyae, where the Estonian SS division was defeated in a heavy battle in 1944. On this day we expect another batch of praise to the Nazi warriors. In this regard, "World Without Nazism" expresses its strong protest against the unprecedented actions of the Estonian authorities and calls on the Council of Europe, UN and other international organizations to take immediate and decisive action in the case of Estonia, whose policy is fundamentally at odds with the principles of the postwar world order, with the principles on which modern Europe was built.

Chairman of the Board B. Shpiegel.

Sonntag, Juli 08, 2012

Wie estnisch ist Estland?

Am 06. Juli hat das Verwaltungsgericht Tallinns beschlossen den Klagen der 14 russischen Gymnasien in Tallinn und Narva nicht stattzugeben. Die Gymnasien haben gegen die 60% Regelung geklagt, nach der mind. 60% des Unterrichts auf Estnisch durchgeführt werden muss. Die Begründung dafür ist, dass die Benutzung der Sprache auf dem Territorium des estnischen Staates unter anderem in Bildungseinrichtungen, eine Frage ist, die der Staat bestimmen muss und nicht die örtlichen Kommunen. Die Sprache muss bewahrt werden und bestimmt die nationale Identität der Esten.

Soweit entspricht das Urteil der Präambel der estnischen Verfassung, denn dort heisst es: In unerschütterlichem Glauben und standhaften Willen, den Staat zu sichern und zu entwickeln; der aufgrund des unauslöschlichen Selbstbestimmungsrechts des estnischen Volkes geschaffen und am 24. Februar 1918 verkündet wurde; der auf Freiheit, Gerechtigkeit und Recht beruht; der den inneren und äußeren Frieden schützt und dem gesellschaftlichen Erfolg und dem gemeinsamen Nutzen der heutigen und kommenden Generationen dient; welcher die Erhaltung des estnischen Volkes und der estnischen Kultur durch alle Zeiten garantieren muss.

Also interpretieren wir mal freizügig, dass durch die Einführung der 60% Regelung die estnische Kultur durch die estnische Sprache auch unter den russischen Mitbürgern verbreitet werden soll (ob sie zum estnischen Volk gehören oder nicht ist nicht ganz klar). Doch stellen wir die Frage andersrum: In den mehr als 20 Jahren Unabhängigkeit, ist Estland estnischer geworden, wurde also alles getan, um das estnische Volk und und die estnische Kultur zu erhalten?

Estnisch ist die einzige Staatssprache in Estland, also doch hat die Anzahl der estnisch sprechenden Menschen eher ab, als zugenommen. Nach den Ergebnissen der letzten Volkszählung leben in Estland rund 890.000 Esten, also weniger als 1959. 1989 gaben 963.000 Menschen in der damaligen Estnischen Sowjetrepublik an, Esten zu sein. Viele sind gestorben, viele sind ausgewandert, die Frage ist, ob sie im fremdsprachigen die estnische Sprache pflegen, ob sie zurückkehren und ob sie die estnische Sprache und die Kultur ihren Kindern weitergeben. Was die Vertreter der nationalen Minderheiten in Estland angeht, der Anteil der estnisch-sprechenden hat sich zweifellos erhöht, welchen Stellenwert die estnische Sprache in ihrem täglichen Leben einnimmt ist nicht ganz klar. Oftmals wird Estnisch zur offiziellen Kommunikation verwendet, die Kultur und Medienumgebung sind nach wie vor Russisch.

Lennart Meri behauptete in seinem Werk Tulemägede Maale dass "die Wissenschaft uns aus den Ketten der Großstädte lösen und zurück zur Natur führen wird". Das war eine recht estnische Sicht, denn eine sehr estnische Eigenschaft ist das Leben auf dem Land, besonders auf den estnischen Inseln, wo sich viele Eigentümlichkeiten der estnischen Kultur entwickelt haben, seien es die Nationalkleider, oder die Strickmuster. Nun in den letzten 10 Jahren hat sich alleine die Bevölkerung auf der zweitgrößten estnischen Insel Hijumaa um 19% verringert. Die einzigen Landkreise, die Bevölkerung gewonnen haben, waren Tallinn und Tartu, das bedeutet, dass die Landbevölkerung zur Stadtbevölkerung wird und viel von der estnischen Kultur verliert.

Vor dem zweiten Weltkrieg gab es in Estland 140000 Höfe, die Landwirtschaft betrieben haben. Das Leben auf einem Bauernhof ist eine estnische Selbstverständlichkeit, selbst der estnische Staatspräsident ist sehr stolz auf seinen Hof, der seinen Ahnen gehörte und nach seiner Rückkehr ihm übergeben wurde (dass der Staat für die Pflege des Hofes aufkommen muss, ist eine andere Geschichte). Nach der Erlangung der Unabhängigkeit und der Zerschlagung der Kolchose, haben viele Esten wieder Landwirtschaft in ihren kleinen Höfen betrieben und ihre Erzeugnisse an die Produzenten von Lebensmitteln verkauft.

Die Statistik zeigt ein recht eindeutiges Bild, Estland ist führend bei der Vernichtung von Bauernhöfen. Damit geht auch ein Teil der estnischen Kultur verloren.

Diese Prozesse der Bevölkerungsabnahme und der Landflucht sind zum Teil natürlich und dem technischen Fortschritt geschuldet, denn heutzutage können nur grossangelegten Landwirtschaftsbetriebe mit entsprechender Technik und Skalierungseffekten konkurrenzfähig produzieren, der kleine Bauer kann sich nicht die Technik leisten. Doch die Politik ist auch nicht unschuldig am Landsterben. Es wird wenig in die Infrastruktur investiert, das Netz der Schulen, der Bankautomaten, der Krankenhäuser wird ausgedünnt, so dass weder die Jungen, noch die Alten eine adäquate Ausbildung oder medizinische Versorgung auf dem Land bekommen können. Dass damit ein Teil der estnischen Kultur vernichtet wird, scheint bei den politischen Überlegungen nur einen geringen Anteil zu spielen. Der Plan des Bildungsministeriums sieht vor, dass bis zu 2/3 aller Gymnasien geschlossen und zusammengelegt werden sollen, das bedeutet, dass die Kinder auf dem Land von der höheren Bildung abgeschnitten werden, sie sollen bei den Verwandten in der Stadt unterkommen, denn Bau von angeschlossenen Internaten ist nicht in Planung.

Abschliessend kann man nur sagen, dass bevor die russisch-sprachigen Mitbürger zu richtigen Esten umerzogen werden sollen (und trotzdem wegen ihren russischen Namens bei der Arbeitssuche benachteiligt werden), man vielleicht auch schauen sollte, dass die Grundlagen der estnischen Sprache und Kultur nicht verlorengehen.

Freitag, Juli 06, 2012

Von Nahrungsmittelhilfen und Dienstwägen

Eigentlich wollte nichts mehr über Ilves vs. Krugman schreiben, doch dann hat mich eine meiner treusten Leserinnen auf folgenden Artikel aufmerksam gemacht: Õhtuleht schreibt:

Der Umfang der Nahrungsmittelhilfe das dieses Jahr nach Estland aus der EU ankommen wird, wird eine neue Rekordmarke erreichen. Es werden kostenlos 2571 Tonnen Trockenprodukten wie Nudeln, Mehl, Zucker usw. und 590,8 tausend Liter Rapsöl mit dem Wert von insgesamt 2,2 Mio. Euro geliefert.

Den größten Hilfsbedarf haben der estnische Rote Kreuz, der Verein der kinderreichen Familien und ein holländisch-estnisches Wohlfahrtsfond angemeldet. Insgesamt werden die Nahrungsmittel unter 129 500 Menschen verteilt.

Das bedeutet, dass jeder 10. Einwohner Estlands sich nicht im ausreichenden Umfang ernähren kann und auf kostenlose Lebensmittel der EU angewiesen ist.

And now something completely different:

Auf dem Bild ist der neue Dienstwagen der First Lady Estlands abgebildet. Die monatliche Leasingrate ist um 1/4 höher, als der estnische Durchschnittsgehalt.

Sonntag, Juli 01, 2012

Mythen des 14. Juni

Die Sicherheitspolizei Lettlands startete eine Untersuchung bezüglich des russischen Politikers, der als Kind die Deportation am 14. Juni erlebt hat, Alexander Gilman. Er hatte die Frechheit den Mut die gängigen Mythen über die Repressionen der 40-er Jahre in Frage zu stellen.

Laut dem Stellvertreter des Direktors der Sicherheitspolizei Christina Apse-Krumini, läuft die Untersuchung hinsichtlich Erfüllung des Strafbestands des Artikels 74.1 des Gesetzes "Über die öffentliche Verherrlichung oder Verneinung des Genozids und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit". Das Gesetz sieht Strafen wie Freiheitsentzug bis zu fünf Jahren oder gemeinnützliche Arbeiten vor.

Die Untersuchung wurde nach der Erklärung des Parlamentskommission zur Erziehung der Staatskunde angefangen. Die Abgeordnete haben die Sicherheitspolizei gebeten aufzuklären, ob der Artikel von Gilman nicht die Merkmale zur Aufwiegelung von Rassenhass enthält.

Früher hat der Vorsitzende der nationalen Vereinigung Visu Latvijai Raivis Dzintars die Aussagen von Gilman als "Spuck ins Gesicht" von allen Repressierten bezeichnet. In dem Artikel "Mythen des 14. Juni" schreibt Alexander Gilman:

Jedes Mal wenn ich dem Zugbegleiter in der S-Bahn den Ausweis einen Politrepressierten zeige, denn wir haben das Recht zum kostenlosen Fahren, treffe ich auf erstaunte Blicke.

Laut den in der Gesellschaft gängigen Mythen, ist ein Repressierter ein alter Mensch, in seinen Augen ist das gesamte Leid des lettischen Volkes. Doch ich bin weder alt, noch Lette, noch beleidigt…

Die Vergünstigung ist natürlich unpassend, ich habe keine Erinnerung an die Repressionen, die schweren Ketten fielen, als ich drei Jahre alt war, doch wie man sagt: Wenn man gibt, dann nimm an. Doch bin ich, auch wenn es seltsam ist, auch ein Zeuge. Meine Kindheit und meine Jugend verbrauchte ich unter Leuten, die auf ihrer Haut die stalinistischen Repressionen erlebt haben, und wer wenn nicht ich kann am besten verstehen, wieviele Lügen um sie aufgebaut wurde.

Mythos Nr. 1: Die Blüte des lettischen Volkes

Wenn jemand meine Großmutter ärgern wollte, dann erinnert man sie an die idiotische Aussage, die erste, die sie im Güterwaggon auf der Station Tornjakalns sagte: "Wo sind wir hingeraten? Das sind doch alles конфекционеры (Modehändler) aus der Marienskaja!" Als Конфекционеры wurden Kleidungsläden genannt, auf der Strasse Marijas gab es besonders viele und ihre Besitzer hatten einen anhaltenden Ruf von Unternehmern, die heilig dem Prinzip "Betrügst Du nicht - verkaufst Du nichts" folgten. Die Großmutter arbeitete als Anwältin, verteidigte solche Unternehmer vor dem Gericht, wenn man sie wegen Steuerhinterziehung oder Betrug verklagte, sonst hatte sie nichts mit ihnen gemeinsam.

Wie jeder intelligente Mensch der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts war sie innerlich zur Verhaftung ihr ganzes Leben lang vorbereitet. Und während der Zarenzeit (der Großvater sass sogar zweimal ein) und unter den Bolschewiken (1920 ist man knapp aus Moskau geflüchtet) und unter Karl Ulmanis. Doch nach den Begriffen damaligen Zeit gerät der Gefangene in die Gesellschaft der Gleichstatuierten, so war das beim Nikolai II und unter Ulmanis I. Unter Stalin gab es überhaupt kein System.

Der Hauptprinzip der Verhaftungen war klar, es wurden die hochgestellten Beamten, Personen der öffentlichen Meinung und grosse Unternehmer mit Familien verhaftet. Doch die Ausführung war genauso stümperhaft wie der Großteil der Sowjetproduktion: es war absolut unmöglich vorherzusagen, warum ein Mensch verhaftet wurde und sein Gesellschafter nicht angerührt wurde.

Die meisten Verhafteten stellten keine Gefahr für die Sowjetmacht dar. Doch die zahlreiche nazistische Untergrund wurde nicht angefasst, in den ersten Tagen des Krieges wurden die Rotarmisten und alle, die flüchten wollen, von allen Hochdächern beschossen.

Der Krieg fing am achten Tag an, es war schon gut, wenn die Züge mit den Repressierten bis nach Yaroslavl gekommen sind. Man musste die Soldaten an die Front schicken, die Fabriken in Hinterland, doch alle Gleise sind mit den Zügen mit "Volksfeinden" zugestellt.

Die Repression am 14. Juni ist ein Akt von sinnloser Grausamkeit. Als ihr Opfer wurden die Leute größtenteils zufälligerweise.

Und wenn ich höre, dass an diesem Tag die Blüte der lettischen Nation vernichtet wurde, dann erinnere ich mich immer an die gaunerhaften Verkäufer von der Marienskaja - wird dieser Terminus auch für sie verwendet?

Mythos Nr. 2: Die Juden repressierten die Letten

Alle meine Nächsten wurden von Letten repressiert - die Jungs aus "Рабочая Гвардия" (Die Arbeitsarmee). Für Zusammensammeln wurden mehrere Stunden gegeben, keiner hat besonders geschimpft - es wurden sogar nützliche Ratschläge gegeben. Sie, der Leser, können Sie sich vorstellen, dass in Sibirien die Bettwäsche äußerst nützlich ist? Es stellte sich heraus, dass die Sibierer keine Kleidung und kein Stoff hatten, deswegen haben sie gerne Waren gegen Bettwäsche getauscht und nähten sich Hemde daraus. Wer konnte daran in prosperierenden Riga denken!

Da das Zusammensammeln ohne besondere Eile vor sich gingen, konnte eine Strafbrigade in einer kurzen Sommernacht nur 1-2 Familien verhaften. So war die Zahl der Verhaftenden ungefähr gleich der Zahl der Verhafteten, nicht weniger als 10 Tausend Personen. Die Komsomolzen wurden in Gebietskomitee gerufen, es wurde gesagt, dass eine verantwortungsvolle Aufgabe auf sie wartet. Sie haben erst in der letzten Minute verstanden, was vor sich geht. Die nationale Zusammensetzung sowohl der "Henker" als auch der "Opfer" entsprach der nationalen Zusammensetzung der Letten. Im Endeffekt waren beide Gruppen Opfer.

Nach ihrer Rückkehr aus Sibirien traf meine Tante einen Klassenkameraden und freute sich sehr, denn aus ihrer Schule blieben nur wenige am Leben. Sie konnte nicht verstehen, warum er sie mied, dachte er hätte eine eifersüchtige Frau. Doch vor seinem Tod gestand er, dass er am 14. Juni verhaftete und hatte das ganze Leben deswegen Gewissensbisse, konnte sich nicht verzeihen. Die Tante konnte ihn nicht beruhigen, obwohl sie sich viel Mühe gab.

Mythos Nr. 3 Das Schrecken der Strafarbeiten

Wenn Leute ihre Jugend bis zu fünfzehn Jahre fernab ihrer Heimat verbracht haben, dann können sie keine besseren Freunde haben. Fast alle Freunde meiner verstorbenen Eltern waren mit uns in Sibirien. Die kamen zu uns als Gäste und erinnerten sich an die Jahre, wie wir uns an стройотряды (studentische Abordnungen für Bauarbeiten), Wanderungen und Kolchosen erinnern: viele junge Leuten leben in einer Baracke, Liebesbeziehungen, gemeinsame Abende, lustige Geschehnisse - keine Repression, doch ein lustiger Spaziergang in der Natur.

Der Mensch hat die Eigenschaft das Schlechte zu vergessen und sich an das Gute zu erinnern - doch auch objektiv gesehen war das Leben in Sibirien nicht so tragisch, wie man gewohnt darüber spricht.

Sehr schwer war der erste Winter, wegen der Kälte, Fehlen von Notwendigem und Arbeitslosigkeit: Es gab kein Essen und kein Gehalt. Dann war schwere Arbeit, Bäumefällen, Eisangeln, doch nach ein-zwei Jahren haben fast alle Arbeit im Büro gefunden. Nicht, weil die Repressierten irgendwelche Privilegien hatten, doch alle hatten wenigstens mittlere Bildung, unter unter den dortigen Bewohnern konnte man niemanden für die Stelle als Buchhaltung oder sogar Lagerhalter finden.

Sibirien war schon seit langem ein Ort, wohin man Leute aussiedelte, die Sibirier hatten keine Angst vor den "Feinden des Volkes" und diese lebten ungefähr so wie die örtliche Bevölkerung - nur einmal in der Woche musste man hingehen und sich registrieren und man durfte nicht wegfahren. Langsam wurde das Regime erleichtert, zum Schluss durfte man sogar Urlaub in Riga verbringen. Die Kinder beendeten die Schulen und gingen in die Hochschulen, einer unserer Bekannten ist bis jetzt ein Professor an irgendeinem Institut in Krasnoyarsk.

Natürlich ist jede Gefangenschaft schrecklich, doch objektiv gesehen, hatten die Ausgesiedelten die größte Chance aufs Überleben, so pervers es auch klingt. Die ältere Schwester meiner Mutter war verheiratet, sie wurde nicht ausgesiedelt und starb in Ghetto mit Mann und Kind. Die Cousins wurden evakuiert, gingen an die Front, einer wurde getötet, der andere bekam eine Kriegsverletzung, der dritte bekam eine Herzkrankheit und starb recht jung.

Die vernünftigen Letten aus den Ausgesiedelten denken genauso. "Wenn man mich nicht ausgesiedelt hätte, dann wäre ich in der Legion. Und dort hätte man mich getötet und in Gefangenschaft genommen, also wiederum nach Sibirien.." Vom Regen in die Traufe. Die Generation, die im ersten Viertel des vorigen Jahrhunderts geboren wurde, hatte ein sehr tragisches Schicksal. Das Leben gab ihnen keine erfolgreiche Pfade, auf jedem konnte man das Leben verlieren.

Ein Gruppe aus der Masse an Opfern des grausamen Jahrhunderts auszuzeichnen ist zynisch und gemein.

Mythos Nr. 4: Die Repressierten sind sehr verbittert

Das ist schon unser Mythos und nicht der offiziellen Ideologen und es hat ein gewisses Recht auf Existenz. In dem gemeinsamen Chor der national Besorgten, die verlangen, die Okkupanten rauszuwerfen und eine Entschädigung von Russland zu verlangen, hört man immer die schimpfende Stimme von verschiedenen Gemeinschaften der Repressierten. Doch hat niemand von den noch lebenden Mitbegleiter meiner Eltern zu diesen Gemeinschaften irgendwelche Beziehung. Meine verstorbene Tante ging einmal zu so einer Versammlung und fluchte dann lange, so hat auf sie die herrschende Stimmung des sinnlosen Hasses gewirkt.

Es scheint, dass die Redeführer in solchen Organisationen recht junge Leute sind, solche die in Sibirien geboren wurde oder als Säugling dorthin kamen. Kulturschock bekamen sie, im Gegensatz zu ihren Eltern, nicht bei der Wegfahrt aus Lettland, sondern bei der Rückkehr, und kommen bis jetzt nicht davon weg.

Ein typischen Beispiel ist Dzintra Hirša. Sie kehrte nach Lettland zurück, als sie zehn war, ging in die Schule und wurde gleich ein Opfer von Anzüglichkeiten, weil sie falsch lettisch gesprochen hat und nicht schreiben konnte. Deswegen hat sie sich zum Lebensziel gesetzt zu zeigen, dass die nicht schlechter als die anderen Letten ist, deswegen kann sie talentierter als andere das Leben der Andersgeborenen zu zerstören.

Die Leute, die den ganzen Weg gegangen sind, haben keinen Zorn in sich. Sie sprechen übrigens sehr gut und gerne Russisch. Einer von Mutters Weggefährten aus dem hohen Norden erklärte warum es ihm so schwer fällt, sich mit den Schulkameraden zu unterhalten, die nach dem Krieg in den Westen gegangen sind, so: "In irgendeinem Augenblick waren wir und sie in einem fremden Land, ohne einen Groschen. Doch wir waren von armen Sibierern umgeben, und sie von reichen Amerikanern. Deswegen haben sie ihr ganzes Leben in Neid gelebt, wir hatten niemanden auf den neidisch und zornig sein konnten."

… Ich war am 14. Juni 1987 bei meiner Tante, als ihr dieser Mann anrief und die Neuigkeit berichtete: "Du sitzt zu Hause, weisst von nichts, um man legt Dir vor dem Freiheitsdenkmal die Blumen nieder - sollen wir hingehen und uns das anschauen?" Irgendjemand hat schon verstanden, dass man mit den Repressierten politisches Kapital verdienen konnte. "Was für Blumen - wir leben noch", antwortete die Tante, "Wir gehen nicht. Sollen sie sich zum Teufel scheren!"

Goldene Worte...