Am 06. Juli hat das Verwaltungsgericht Tallinns beschlossen den Klagen der 14 russischen Gymnasien in Tallinn und Narva nicht stattzugeben. Die Gymnasien haben gegen die 60% Regelung geklagt, nach der mind. 60% des Unterrichts auf Estnisch durchgeführt werden muss. Die Begründung dafür ist, dass die Benutzung der Sprache auf dem Territorium des estnischen Staates unter anderem in Bildungseinrichtungen, eine Frage ist, die der Staat bestimmen muss und nicht die örtlichen Kommunen. Die Sprache muss bewahrt werden und bestimmt die nationale Identität der Esten.
Soweit entspricht das Urteil der Präambel der estnischen Verfassung, denn dort heisst es: In unerschütterlichem Glauben und standhaften Willen, den Staat zu sichern und zu entwickeln; der aufgrund des unauslöschlichen Selbstbestimmungsrechts des estnischen Volkes geschaffen und am 24. Februar 1918 verkündet wurde; der auf Freiheit, Gerechtigkeit und Recht beruht; der den inneren und äußeren Frieden schützt und dem gesellschaftlichen Erfolg und dem gemeinsamen Nutzen der heutigen und kommenden Generationen dient; welcher die Erhaltung des estnischen Volkes und der estnischen Kultur durch alle Zeiten garantieren muss.
Also interpretieren wir mal freizügig, dass durch die Einführung der 60% Regelung die estnische Kultur durch die estnische Sprache auch unter den russischen Mitbürgern verbreitet werden soll (ob sie zum estnischen Volk gehören oder nicht ist nicht ganz klar). Doch stellen wir die Frage andersrum: In den mehr als 20 Jahren Unabhängigkeit, ist Estland estnischer geworden, wurde also alles getan, um das estnische Volk und und die estnische Kultur zu erhalten?
Estnisch ist die einzige Staatssprache in Estland, also doch hat die Anzahl der estnisch sprechenden Menschen eher ab, als zugenommen. Nach den Ergebnissen der letzten Volkszählung leben in Estland rund 890.000 Esten, also weniger als 1959. 1989 gaben 963.000 Menschen in der damaligen Estnischen Sowjetrepublik an, Esten zu sein. Viele sind gestorben, viele sind ausgewandert, die Frage ist, ob sie im fremdsprachigen die estnische Sprache pflegen, ob sie zurückkehren und ob sie die estnische Sprache und die Kultur ihren Kindern weitergeben. Was die Vertreter der nationalen Minderheiten in Estland angeht, der Anteil der estnisch-sprechenden hat sich zweifellos erhöht, welchen Stellenwert die estnische Sprache in ihrem täglichen Leben einnimmt ist nicht ganz klar. Oftmals wird Estnisch zur offiziellen Kommunikation verwendet, die Kultur und Medienumgebung sind nach wie vor Russisch.
Lennart Meri behauptete in seinem Werk Tulemägede Maale dass "die Wissenschaft uns aus den Ketten der Großstädte lösen und zurück zur Natur führen wird". Das war eine recht estnische Sicht, denn eine sehr estnische Eigenschaft ist das Leben auf dem Land, besonders auf den estnischen Inseln, wo sich viele Eigentümlichkeiten der estnischen Kultur entwickelt haben, seien es die Nationalkleider, oder die Strickmuster. Nun in den letzten 10 Jahren hat sich alleine die Bevölkerung auf der zweitgrößten estnischen Insel Hijumaa um 19% verringert. Die einzigen Landkreise, die Bevölkerung gewonnen haben, waren Tallinn und Tartu, das bedeutet, dass die Landbevölkerung zur Stadtbevölkerung wird und viel von der estnischen Kultur verliert.
Vor dem zweiten Weltkrieg gab es in Estland 140000 Höfe, die Landwirtschaft betrieben haben. Das Leben auf einem Bauernhof ist eine estnische Selbstverständlichkeit, selbst der estnische Staatspräsident ist sehr stolz auf seinen Hof, der seinen Ahnen gehörte und nach seiner Rückkehr ihm übergeben wurde (dass der Staat für die Pflege des Hofes aufkommen muss, ist eine andere Geschichte). Nach der Erlangung der Unabhängigkeit und der Zerschlagung der Kolchose, haben viele Esten wieder Landwirtschaft in ihren kleinen Höfen betrieben und ihre Erzeugnisse an die Produzenten von Lebensmitteln verkauft.
Die Statistik zeigt ein recht eindeutiges Bild, Estland ist führend bei der Vernichtung von Bauernhöfen. Damit geht auch ein Teil der estnischen Kultur verloren.
Diese Prozesse der Bevölkerungsabnahme und der Landflucht sind zum Teil natürlich und dem technischen Fortschritt geschuldet, denn heutzutage können nur grossangelegten Landwirtschaftsbetriebe mit entsprechender Technik und Skalierungseffekten konkurrenzfähig produzieren, der kleine Bauer kann sich nicht die Technik leisten. Doch die Politik ist auch nicht unschuldig am Landsterben. Es wird wenig in die Infrastruktur investiert, das Netz der Schulen, der Bankautomaten, der Krankenhäuser wird ausgedünnt, so dass weder die Jungen, noch die Alten eine adäquate Ausbildung oder medizinische Versorgung auf dem Land bekommen können. Dass damit ein Teil der estnischen Kultur vernichtet wird, scheint bei den politischen Überlegungen nur einen geringen Anteil zu spielen. Der Plan des Bildungsministeriums sieht vor, dass bis zu 2/3 aller Gymnasien geschlossen und zusammengelegt werden sollen, das bedeutet, dass die Kinder auf dem Land von der höheren Bildung abgeschnitten werden, sie sollen bei den Verwandten in der Stadt unterkommen, denn Bau von angeschlossenen Internaten ist nicht in Planung.
Abschliessend kann man nur sagen, dass bevor die russisch-sprachigen Mitbürger zu richtigen Esten umerzogen werden sollen (und trotzdem wegen ihren russischen Namens bei der Arbeitssuche benachteiligt werden), man vielleicht auch schauen sollte, dass die Grundlagen der estnischen Sprache und Kultur nicht verlorengehen.
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