Die Sicherheitspolizei Lettlands startete eine Untersuchung bezüglich des russischen Politikers, der als Kind die Deportation am 14. Juni erlebt hat, Alexander Gilman. Er hatte die Frechheit den Mut die gängigen Mythen über die Repressionen der 40-er Jahre in Frage zu stellen.
Laut dem Stellvertreter des Direktors der Sicherheitspolizei Christina Apse-Krumini, läuft die Untersuchung hinsichtlich Erfüllung des Strafbestands des Artikels 74.1 des Gesetzes "Über die öffentliche Verherrlichung oder Verneinung des Genozids und der Verbrechen gegen die Menschlichkeit". Das Gesetz sieht Strafen wie Freiheitsentzug bis zu fünf Jahren oder gemeinnützliche Arbeiten vor.
Die Untersuchung wurde nach der Erklärung des Parlamentskommission zur Erziehung der Staatskunde angefangen. Die Abgeordnete haben die Sicherheitspolizei gebeten aufzuklären, ob der Artikel von Gilman nicht die Merkmale zur Aufwiegelung von Rassenhass enthält.
Früher hat der Vorsitzende der nationalen Vereinigung Visu Latvijai Raivis Dzintars die Aussagen von Gilman als "Spuck ins Gesicht" von allen Repressierten bezeichnet. In dem Artikel "Mythen des 14. Juni" schreibt Alexander Gilman:
Jedes Mal wenn ich dem Zugbegleiter in der S-Bahn den Ausweis einen Politrepressierten zeige, denn wir haben das Recht zum kostenlosen Fahren, treffe ich auf erstaunte Blicke.
Laut den in der Gesellschaft gängigen Mythen, ist ein Repressierter ein alter Mensch, in seinen Augen ist das gesamte Leid des lettischen Volkes. Doch ich bin weder alt, noch Lette, noch beleidigt…
Die Vergünstigung ist natürlich unpassend, ich habe keine Erinnerung an die Repressionen, die schweren Ketten fielen, als ich drei Jahre alt war, doch wie man sagt: Wenn man gibt, dann nimm an. Doch bin ich, auch wenn es seltsam ist, auch ein Zeuge. Meine Kindheit und meine Jugend verbrauchte ich unter Leuten, die auf ihrer Haut die stalinistischen Repressionen erlebt haben, und wer wenn nicht ich kann am besten verstehen, wieviele Lügen um sie aufgebaut wurde.
Mythos Nr. 1: Die Blüte des lettischen Volkes
Wenn jemand meine Großmutter ärgern wollte, dann erinnert man sie an die idiotische Aussage, die erste, die sie im Güterwaggon auf der Station Tornjakalns sagte: "Wo sind wir hingeraten? Das sind doch alles конфекционеры (Modehändler) aus der Marienskaja!" Als Конфекционеры wurden Kleidungsläden genannt, auf der Strasse Marijas gab es besonders viele und ihre Besitzer hatten einen anhaltenden Ruf von Unternehmern, die heilig dem Prinzip "Betrügst Du nicht - verkaufst Du nichts" folgten. Die Großmutter arbeitete als Anwältin, verteidigte solche Unternehmer vor dem Gericht, wenn man sie wegen Steuerhinterziehung oder Betrug verklagte, sonst hatte sie nichts mit ihnen gemeinsam.
Wie jeder intelligente Mensch der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts war sie innerlich zur Verhaftung ihr ganzes Leben lang vorbereitet. Und während der Zarenzeit (der Großvater sass sogar zweimal ein) und unter den Bolschewiken (1920 ist man knapp aus Moskau geflüchtet) und unter Karl Ulmanis. Doch nach den Begriffen damaligen Zeit gerät der Gefangene in die Gesellschaft der Gleichstatuierten, so war das beim Nikolai II und unter Ulmanis I. Unter Stalin gab es überhaupt kein System.
Der Hauptprinzip der Verhaftungen war klar, es wurden die hochgestellten Beamten, Personen der öffentlichen Meinung und grosse Unternehmer mit Familien verhaftet. Doch die Ausführung war genauso stümperhaft wie der Großteil der Sowjetproduktion: es war absolut unmöglich vorherzusagen, warum ein Mensch verhaftet wurde und sein Gesellschafter nicht angerührt wurde.
Die meisten Verhafteten stellten keine Gefahr für die Sowjetmacht dar. Doch die zahlreiche nazistische Untergrund wurde nicht angefasst, in den ersten Tagen des Krieges wurden die Rotarmisten und alle, die flüchten wollen, von allen Hochdächern beschossen.
Der Krieg fing am achten Tag an, es war schon gut, wenn die Züge mit den Repressierten bis nach Yaroslavl gekommen sind. Man musste die Soldaten an die Front schicken, die Fabriken in Hinterland, doch alle Gleise sind mit den Zügen mit "Volksfeinden" zugestellt.
Die Repression am 14. Juni ist ein Akt von sinnloser Grausamkeit. Als ihr Opfer wurden die Leute größtenteils zufälligerweise.
Und wenn ich höre, dass an diesem Tag die Blüte der lettischen Nation vernichtet wurde, dann erinnere ich mich immer an die gaunerhaften Verkäufer von der Marienskaja - wird dieser Terminus auch für sie verwendet?
Mythos Nr. 2: Die Juden repressierten die Letten
Alle meine Nächsten wurden von Letten repressiert - die Jungs aus "Рабочая Гвардия" (Die Arbeitsarmee). Für Zusammensammeln wurden mehrere Stunden gegeben, keiner hat besonders geschimpft - es wurden sogar nützliche Ratschläge gegeben. Sie, der Leser, können Sie sich vorstellen, dass in Sibirien die Bettwäsche äußerst nützlich ist? Es stellte sich heraus, dass die Sibierer keine Kleidung und kein Stoff hatten, deswegen haben sie gerne Waren gegen Bettwäsche getauscht und nähten sich Hemde daraus. Wer konnte daran in prosperierenden Riga denken!
Da das Zusammensammeln ohne besondere Eile vor sich gingen, konnte eine Strafbrigade in einer kurzen Sommernacht nur 1-2 Familien verhaften. So war die Zahl der Verhaftenden ungefähr gleich der Zahl der Verhafteten, nicht weniger als 10 Tausend Personen. Die Komsomolzen wurden in Gebietskomitee gerufen, es wurde gesagt, dass eine verantwortungsvolle Aufgabe auf sie wartet. Sie haben erst in der letzten Minute verstanden, was vor sich geht. Die nationale Zusammensetzung sowohl der "Henker" als auch der "Opfer" entsprach der nationalen Zusammensetzung der Letten. Im Endeffekt waren beide Gruppen Opfer.
Nach ihrer Rückkehr aus Sibirien traf meine Tante einen Klassenkameraden und freute sich sehr, denn aus ihrer Schule blieben nur wenige am Leben. Sie konnte nicht verstehen, warum er sie mied, dachte er hätte eine eifersüchtige Frau. Doch vor seinem Tod gestand er, dass er am 14. Juni verhaftete und hatte das ganze Leben deswegen Gewissensbisse, konnte sich nicht verzeihen. Die Tante konnte ihn nicht beruhigen, obwohl sie sich viel Mühe gab.
Mythos Nr. 3 Das Schrecken der Strafarbeiten
Wenn Leute ihre Jugend bis zu fünfzehn Jahre fernab ihrer Heimat verbracht haben, dann können sie keine besseren Freunde haben. Fast alle Freunde meiner verstorbenen Eltern waren mit uns in Sibirien. Die kamen zu uns als Gäste und erinnerten sich an die Jahre, wie wir uns an стройотряды (studentische Abordnungen für Bauarbeiten), Wanderungen und Kolchosen erinnern: viele junge Leuten leben in einer Baracke, Liebesbeziehungen, gemeinsame Abende, lustige Geschehnisse - keine Repression, doch ein lustiger Spaziergang in der Natur.
Der Mensch hat die Eigenschaft das Schlechte zu vergessen und sich an das Gute zu erinnern - doch auch objektiv gesehen war das Leben in Sibirien nicht so tragisch, wie man gewohnt darüber spricht.
Sehr schwer war der erste Winter, wegen der Kälte, Fehlen von Notwendigem und Arbeitslosigkeit: Es gab kein Essen und kein Gehalt. Dann war schwere Arbeit, Bäumefällen, Eisangeln, doch nach ein-zwei Jahren haben fast alle Arbeit im Büro gefunden. Nicht, weil die Repressierten irgendwelche Privilegien hatten, doch alle hatten wenigstens mittlere Bildung, unter unter den dortigen Bewohnern konnte man niemanden für die Stelle als Buchhaltung oder sogar Lagerhalter finden.
Sibirien war schon seit langem ein Ort, wohin man Leute aussiedelte, die Sibirier hatten keine Angst vor den "Feinden des Volkes" und diese lebten ungefähr so wie die örtliche Bevölkerung - nur einmal in der Woche musste man hingehen und sich registrieren und man durfte nicht wegfahren. Langsam wurde das Regime erleichtert, zum Schluss durfte man sogar Urlaub in Riga verbringen. Die Kinder beendeten die Schulen und gingen in die Hochschulen, einer unserer Bekannten ist bis jetzt ein Professor an irgendeinem Institut in Krasnoyarsk.
Natürlich ist jede Gefangenschaft schrecklich, doch objektiv gesehen, hatten die Ausgesiedelten die größte Chance aufs Überleben, so pervers es auch klingt. Die ältere Schwester meiner Mutter war verheiratet, sie wurde nicht ausgesiedelt und starb in Ghetto mit Mann und Kind. Die Cousins wurden evakuiert, gingen an die Front, einer wurde getötet, der andere bekam eine Kriegsverletzung, der dritte bekam eine Herzkrankheit und starb recht jung.
Die vernünftigen Letten aus den Ausgesiedelten denken genauso. "Wenn man mich nicht ausgesiedelt hätte, dann wäre ich in der Legion. Und dort hätte man mich getötet und in Gefangenschaft genommen, also wiederum nach Sibirien.." Vom Regen in die Traufe. Die Generation, die im ersten Viertel des vorigen Jahrhunderts geboren wurde, hatte ein sehr tragisches Schicksal. Das Leben gab ihnen keine erfolgreiche Pfade, auf jedem konnte man das Leben verlieren.
Ein Gruppe aus der Masse an Opfern des grausamen Jahrhunderts auszuzeichnen ist zynisch und gemein.
Mythos Nr. 4: Die Repressierten sind sehr verbittert
Das ist schon unser Mythos und nicht der offiziellen Ideologen und es hat ein gewisses Recht auf Existenz. In dem gemeinsamen Chor der national Besorgten, die verlangen, die Okkupanten rauszuwerfen und eine Entschädigung von Russland zu verlangen, hört man immer die schimpfende Stimme von verschiedenen Gemeinschaften der Repressierten. Doch hat niemand von den noch lebenden Mitbegleiter meiner Eltern zu diesen Gemeinschaften irgendwelche Beziehung. Meine verstorbene Tante ging einmal zu so einer Versammlung und fluchte dann lange, so hat auf sie die herrschende Stimmung des sinnlosen Hasses gewirkt.
Es scheint, dass die Redeführer in solchen Organisationen recht junge Leute sind, solche die in Sibirien geboren wurde oder als Säugling dorthin kamen. Kulturschock bekamen sie, im Gegensatz zu ihren Eltern, nicht bei der Wegfahrt aus Lettland, sondern bei der Rückkehr, und kommen bis jetzt nicht davon weg.
Ein typischen Beispiel ist Dzintra Hirša. Sie kehrte nach Lettland zurück, als sie zehn war, ging in die Schule und wurde gleich ein Opfer von Anzüglichkeiten, weil sie falsch lettisch gesprochen hat und nicht schreiben konnte. Deswegen hat sie sich zum Lebensziel gesetzt zu zeigen, dass die nicht schlechter als die anderen Letten ist, deswegen kann sie talentierter als andere das Leben der Andersgeborenen zu zerstören.
Die Leute, die den ganzen Weg gegangen sind, haben keinen Zorn in sich. Sie sprechen übrigens sehr gut und gerne Russisch. Einer von Mutters Weggefährten aus dem hohen Norden erklärte warum es ihm so schwer fällt, sich mit den Schulkameraden zu unterhalten, die nach dem Krieg in den Westen gegangen sind, so: "In irgendeinem Augenblick waren wir und sie in einem fremden Land, ohne einen Groschen. Doch wir waren von armen Sibierern umgeben, und sie von reichen Amerikanern. Deswegen haben sie ihr ganzes Leben in Neid gelebt, wir hatten niemanden auf den neidisch und zornig sein konnten."
… Ich war am 14. Juni 1987 bei meiner Tante, als ihr dieser Mann anrief und die Neuigkeit berichtete: "Du sitzt zu Hause, weisst von nichts, um man legt Dir vor dem Freiheitsdenkmal die Blumen nieder - sollen wir hingehen und uns das anschauen?" Irgendjemand hat schon verstanden, dass man mit den Repressierten politisches Kapital verdienen konnte. "Was für Blumen - wir leben noch", antwortete die Tante, "Wir gehen nicht. Sollen sie sich zum Teufel scheren!"
Goldene Worte...
3 Kommentare:
Lieber Kloty,
mal wieder ein hochspannendes Thema, das Du hier präsentierst. Ich kenne Herrn Gilman nicht und weiß nicht, was für eine Rolle er spielt. Aus meiner Außenansicht kann ich aber bestätigen, daß es in dieser Zeit den Sowjetbürgern, egal ob Russen oder andere Nationalitäten, ob verfemte oder normale Menschen ungefähr gleich schlecht ging. Eine Ausnahme bildeten wohl die regulären Lagerinsassen einerseits und die Nomenklatura andererseits. Ich weiß von Menschen, die in der Rüstungsindustrie arbeiteten und mit ihren Familien und den Maschinen ins Hinterland deportiert wurden. Die wurden ähnlich schlecht behandelt wie z. B. Russlanddeutsche, die pauschal unter Kollaborationsverdacht standen. Das lag wohl an mieser Organisation, Gleichgültigkeit aber auch an mangelnden Ressourcen und der Tatsache, daß solche Zustände für viele Menschen so furchtbar unmenschlich gar nicht waren. Für viele war ein Transport im Viehwaggon und ein Leben – zunächst ohne Behausung – im Schnee nicht das, als was wir es heute sehen. Der Unterschied liegt wohl darin, inwieweit man sich als Teil eines Ganzen fühlt (als „Sowjetbürger“), und dem Leiden einen Sinn geben kann („für den Sieg“) oder ob man sich vergewaltigt und verfolgt fühlt. Wenn man eben nicht Teil der Sowjetunion sein will, dan nützt das Gefühl, daß es anderen ähnlich geht, wenig. Wenn diese „anderen“ nicht meinesgleichen sind. Oder um ein Bild zu benützen: wenn ein Kind zwangsweise in eine Familie eingewiesen würde, in der alle hungern und geschlagen werden, dann nützt der Trost der anderen Kinder „uns geht es doch genauso dreckig“ nicht viel. Man will nicht Teil dieser Familie sein, nicht deren Probleme teilen oder innerhalb ihres Wertesystems „bestraft“ werden.
Hallo Schirren,
danke für Deinen Kommentar. Ich muss gestehen, der Name Gilman sagte mir auch nichts, es ist ein Politiker, der in der russischen Partei "Für Menschenrechte in Lettland" Mitglied ist. Ein bekannter Mitglied der Partei ist Tatjana Zdanok, die im Europäischen Parlament ist und als einzige die russisch-sprachige Minderheit vertritt.
Mehr kann ich nicht sagen, nur dass zumindest aus dem Artikel heraus kann man nicht rauslesen, dass die Mutter von Gilman freiwillig nach Sibirien gegangen ist. Vielleicht wäre sie freiwillig dorthin immigriert, wenn sie als Jüdin gewußt hätte, welche Greuel in Lettland passieren werden, aber darüber kann man nur spekulieren. Meine eigene Verwandschaft ist auch als Russlanddeutsche nach Sibirien deportiert worden, sie lebten dort mehrere Jahre. Über die ersten harte Jahre wird viel erzählt, Kälte, harte Arbeit, nicht genug zu essen… Über nachfolgende Jahre kaum was, irgendwie kam man wohl zurecht. Über die Russen schimpft auch niemand. Insofern kann ich die Äußerungen von Gilman nachvollziehen.
Russlanddeutsche - Interessanter Punkt! Mir scheint, daß diese sich noch mehr als Teil der „Sowjetischen Familie“ fühlen als die Esten und Letten, auch und gerade RD, die in Deutschland leben. Denn sie haben erfahren, daß es auch im Westen Probleme gibt, und daß sie hierzulande nicht immer freudig als Verwandte begrüßt werden. Vielleicht fühlen sie sich gerade deshalb der UdSSR näher und sind bereit, die positiven Aspekte dieser Vergangenheit zu sehen, weil ihnen eben die Bundesrepublik (noch) keine richtige Heimat ist. Für viele Esten und Letten gilt offenbar, daß die Unabhängigkeit von Rußland der oberste Wert ist und man darum lieber die Probleme der Gegenwart in Kauf nimmt, als das man bereit wäre, die Härten der sowjetischen Zeit nachträglich zu akzeptieren oder zumindest neutral zu bewerten. Nicht estnische/lettische Bürger dieser Länder wiederum sehen sich in der Gegenwart unbehaust, so daß sie eher bereit sind, die positiven Dinge in der sowjetischen Zeit zu sehen und diese Epoche – je nach Standpunkt – zu „verharmlosen“, sie zu „romantisieren“ oder ihr „Gerechtigkeit widerfahren zu lassen“.
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