Die estnische Demokratie zerfällt vor unseren Augen. Aus gegebenen Umständen stirbt die demokratische Legitimation – die tagtägliche Verbindung zwischen der Regierung und dem Volk, die der Regierung zu verstehen gibt, dass sie rechtmäßig das Volk vertritt, und der Gesellschaft die Sicherheit gibt, dass an der Macht ihre Vertreter sind. Die sich an der Macht befindende Regierung sieht keine Notwendigkeit, dass die Gesellschaft beachtet wird. Es herrscht die Meinung, dass der Zweck die Mittel heiligt. Die Machthabende kehren die demokratische Spielregeln in die Lächerlichkeit um. Die Macht verkauft sich. Es wird gelogen, um an die Macht zu kommen.
Der Still des Dialogs der Regierung mit der Gesellschaft verwandelte sich in Monolog: „Wir haben ein Mandat“. „Wir haben keine Alternative“. Das ist nicht die Sprache der Demokratie. Wenn die einzige Möglichkeit des Bürgers auf die Politik einzuwirken Wahlen sind, die einmal in vier Jahren stattfinden, dann ist von der Demokratie nur eine leere Schale übriggeblieben.
Das ist nicht die Krise einer Partei. Die Parteien wurden zum Gegenteil der Gesellschaft. Der Verlust des Vertrauens zu den Parteien gefährdet das gesamte politische System Estlands. Solche für eine offene Gesellschaft selbstverständliche Merkmale wie Selbstkritik, die Pflicht Antworten zu geben und der Wunsch Verantwortung zu übernehmen sind in der heutigen politischen Kultur Estlands zur Seltenheit geworden.
Macht und Verantwortung gehen Hand in Hand. Die Machthabende müssen für ihr Tun verantwortlich sein. Die Gesellschaft muss von ihnen Verantwortung fordern. Verantwortung fordern die demokratischen Normen und Rechtsstaat.
Immer mehr Leute in Estland erkennen in der Regierung weder politischen Willen, noch ethischen Antlitz. Unsere politische Kultur ist geduldig, doch diese Eigenschaft kann man leicht missbrauchen. Hier gibt es Gefahr von zwei Seiten: auf diese Weise werden Lügen, Betrug und Mimikry zur Norm nicht nur für die Machthabende, aber auch für die Gesellschaft. Die jetzige Krise der Macht, der Führung und der politischen Kultur kann Wurzeln schlagen.
Man braucht einen neuen Gesellschaftsvertrag. Weder der Präsident der Republik, noch der Riigikogu, noch die Regierung haben den Wunsch geäußert die Situation zu ändern. Falls das System nicht wünscht, sich zu reformieren, dann muss die Zivilgesellschaft für die Erfüllung ihrer Wünsche und für die Ausübung des Drucks eine alternative Institution erschaffen in der die Vertreter der Zivilgesellschaft zu gleichen Maßen vertreten sind.
In erster Reihe wollen wir, dass in dem politischen System Estlands folgende Prinzipien Anklang finden würden, die wichtigsten dabei wären die Öffnung des Parteisystems und die Übergabe an die Zivilgesellschaft einer reellen Möglichkeit auf die Politik einzuwirken:
- Die Öffentlichkeit muss eine klare Übersicht über die Quellen der Finanzierung der politischen Vereinigungen haben – die Verwendung der öffentlichen Gelder und die Herkunft von anderen Mitteln
- Die Erschaffung, die Finanzierung und die Arbeit der Parteien muss transparent sein, die Parteien müssen gesellschaftliche Interessen vertreten und nicht die Interessen einer bestimmen Gruppe
- Das Wahlsystem muss klar den Willen des Wählers reflektieren, der Volkserwählte sollte fortwährend über seine Tätigkeiten vor den Wählers seines Wahlkreises Rede und Antwort stehen
- Die parlamentarischen Parteien sollten den Weg zur Macht nicht monopolisieren, die Schaffung neuer Parteien und der Weg der ausserparteilichen Kräfte in Riigikogu muss vereinfacht werden
- Bürger sollten breitere Möglichkeiten haben, ihren politischen Willen auszudrücken, als die nächsten Wahlen, man muß das Instrument der Volksinitiative schaffen
Diese Prinzipien wurden in den letzten Monaten von vielen Leuten mit sehr verschiedenen politischen Einstellungen verteidigt. Doch das ist nicht genug, deswegen denken wir, dass für die Gesundung der Demokratie in Estland muss man sich gemeinsam anstrengen. Wir rufen alle Einwohner Estlands auf, die mit unseren Vorstellungen einverstanden sind, sich dieser Charta anzuschliessen.
Jede/r, der/die eine Unterschrift unter die Charta machen möchte, kann es auf der Seite www.harta12.ee tun.
Ignar Fjuk
Tarmo Jüristo
Juhan Kivirähk
Marju Lauristin
Ahto Lobjakas
Silver Meikar
Evgenij Osinovskij
Rein Raud
Marek Tamm
Indrek Tarand
Siim Tuisk
Daniel Vaarik
David Vsevilov
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