Sonntag, April 14, 2019

FAQ zur jetzigen politischen Lage in Estland

Das was noch vor ein paar Wochen undenkbar erschien, ist in greifbare Nähe gerückt: In Estland könnte eine rechts-radikale Partei EKRE an die Macht kommen zusammen mit der Zentrumspartei und rechts-konservativen Vaterlandspartei. Ich werde versuchen die wichtigsten Fragen sehr voreingenommen zu beantworten.

1. Was zum Teufel ist da los?

Die Zentrumspartei hat die Parlamentswahlen verloren. Die Reformisten haben gewonnen und wollten anfangen eine Koalition mit Zentristen zu schmieden. Dabei ging die Vorsitzende der Reformpartei Kaja Kallas etwas forsch vor und war wohl etwas arrogant am Telefon (so die Version der Zentristen). Es kam zu keinen Koalitionsverhandlungen. Stattdessen haben Zentristen angekündigt mit rechtskonservativen Isamaa-Partei (die schon immer die Rolle der deutschen FDP als Mehrheitsbeschaffer in Estland inne hatten) und rechtsradikalen EKRE eine Koalition zu machen. Die Reformisten und Sozialdemokraten haben den Anstand gehabt schon vor den Wahlen jede Zusammenarbeit mit EKRE auszuschliessen und sind immer noch anständig genug, dieses Versprechen nicht zu brechen. Zentrumspartei hat dieses Versprechen nicht gegeben, aber da die Partei im Vergleich zu den anderen Parteien für die linkeste Politik in Estland steht (links sein ist in Estland sehr relativ, ähnlich wie in den USA), war eine Koalition mit rechts-aussen nicht vorstellbar. Aber der Machthunger von dem Ministerpräsidenten Jüri Rattas ist wohl zu groß, deswegen scheint das Unvorstellbare plötzlich zum Greifen nahe. Der Koalitionsvertrag ist unterschrieben und die Minister benannt.

2. Was fehlt denn noch, damit die Koalition an die Macht kommt?

Der estnische Präsident Kersti Kaljulaid darf sich zwar nicht allzudeutlich zu ihren Parteipreferenzen äußern und sie selbst steht politisch Isamaa recht nahe. Doch gibt sie in öffentlichen Reden zu verstehen, dass sie Populismus von der linken und rechten Seiten nicht mag und gerade diese Koalition trieft vor Populismus. Ihr Vorgänger Toomas Hendrik Ilves äußerte sich ähnlich, obwohl er einer derjenigen war, der der derzeitigen politischen Stimmung fruchtbaren Boden bereitet hat. Deswegen hat sie den Regierungsbildungsauftrag an Kaja Kallas gegeben, die auf eine Minderheitsregierung mit Reformisten, Sozialdemokraten und Abweichlern aus der Zentrumspartei hofft. Die Wahrscheinlichkeit, dass es so kommt, ist recht gering, sie braucht sieben Stimmen von Zentristen, ständig wird an die russisch-sprachigen Parlamentsmitglieder appeliert, doch nicht einer Koalition mit Russophoben zuzustimmen, aber inzwischen wurden die gewählten russisch-sprachigen Politiker, aus dem Parlament mit verschiedenen Pöstchen belohnt (Yana Toom kandidiert wieder fürs Europaparlament, Michael Kõlvart wurde operativ zum Bürgermeister von Tallinn ernannt), so dass sie schon nicht dazwischenfunken werden. Warum nicht an das Gewissen der estnisch-sprachigen Zentrumspolitikern appelliert wird, entzieht sich meinem Verständnis, vielleicht hat man jegliche Hoffnung auf das Vorhandensein eines Gewissens verloren. Die einzige Variante, die möglich ist, dass nach der gescheiterten Wahl von Kaja Kallas zur Ministerpräsidentin, der Präsident nach einer gewissen Zeit das Parlament auflöst und Neuwahlen ansetzt.

3. Was ist so schlimm an EKRE?

Kurzversion: Weil es Nazis sind

Langversion gibt es hier.

4. Wie reagieren die Wähler und die Medien?

Das russisch-sprachige Internet quillt über. "Verräter" ist noch die harmloseste Bezeichnung für die Zentrumspolitiker. Laut einer Umfrage unterstützen nur 38% der Wähler der Zentrumspartei die Koalition mit EKRE. Die Zentrumspolitiker verteidigen sich und argumentieren, dass die russische Schule gerettet wurde, im Koalitionsvertrag steht kein Zeitplan, wann sie abgeschafft wird. Was der Koalitionsvertrag wert ist, bewies Jüri Rattas ein paar Tage nach der Unterzeichnung, in einem Interview der Zeitung Maaleht sagte er, dass für die Erfüllung der großspurigen Versprechen aus dem Koalitionsvertrag dieses Jahr kein Geld vorhanden ist.

Es bildete sich eine Facebookgruppe Kõigi Eesti (das gemeinsame Estland), die von einem amerikanischen Komiker Stewart Johnson initiiert wurde. Angeblich waren 20 Leute damit beschäftigt den Facebook-Auftritt und die Webseite zu bauen, momentan sind über 28.000 Leute Mitglieder, die Seite hat 1000 Admins. Die Mitglieder der Gruppe haben ein weisses Herzchen auf dem Facebook-Profil, das propagierte Ziel der Bewegung ist überparteilich zu sein und ein „demokratisches, sicheres und in die Zukunft schauendes europäisches Staat zu bauen, die sich um jeden sorgt und wo die Rechte und Interesse jeden berücksichtigt werden. Diese Werte sind höher als die Politik und einigen uns alle“. Am 14.04. findet am Sängerfeld in Tallinn ein kostenloser Konzert mit estnischen Stars statt, wo politische Losungen unerwünscht sind. Also etwas politisch harmloseres habe ich in meinem Leben noch nicht gesehen. Doch für Frau Präsident ist selbst diese Gruppe zu politisch, auf dem Konzert war sie nicht anwesend. EKRE reagierte mit einer Facebook-Gruppe „Eestlasteesti“, also Estland der Esten. Wer hier Parallelen mit Deutschland 1933 findet, kann sie behalten.

Am 31.03 fand in Tallinn eine Demonstration „Für die Freiheit, gegen das Lügen“ gegen die Koalition statt. Obwohl der Aufruf an alle Gegner der Koalition ging, blieben die meisten russischen Einwohner Tallinns zu Hause, hauptsächliche Teilnehmer der Demo waren Vertreter der LGBT Community, die ebenfalls um Verlust ihrer hart erkämpften Rechte unter einer EKRE-Regierung fürchten. Es scheint, dass die russisch-sprachigen Einwohner eine Extra-Einladung brauchen und sich nicht überwinden können mit Schwulen und Lesben um ihre Rechte zu kämpfen.

Der große Zahltag für den Verrat am Wähler steht Zentrumspartei bei den Europawahlen und Kommunalwahlen bevor, wo ich der Partei große Stimmenverluste prophezeie und wünsche.

5. Wer sind die Minister der Koalition?

Viele der Minister der Koalition sind alte Bekannte für den Leser diesen Blogs. Darunter sind viele, mit denen die russisch-sprachigen Einwohner Estlands ihre Kinder erschrecken, damit sie brav bleiben. Die (unvollständige) Liste des Schreckens:

Minister für Verteidigung: Jüri Luik (Isamaa): Wir müssen aggressiv proamerikanisch sein

Minister für Kultur: Tõnis Lukas (Isamaa): Erklärter Feind der russischen Schulen, möchte antiestnische Propaganda auf estnischen Territorium begrenzen

Aussenminister: Urmas Reinsalu (Isamaa): Ich finde, dass es eine sehr gefährliche Tendenz für die nationalen Interessen Estland darstellt. Ich würde sie nicht unterschätzen (Reinsalu über die Zentristen).

Innenminister: Martin Helme: Während der Bronzenen Nächte bedauerte er, dass er nur einen Tibla mit dem Schlagstock treffen konnte (Tibla ist eine beleidigender Ausdruck für einen Russen)

Minister für Finanzen: Mart Helme: einfach Bilder anschauen, Kommentare sind überflüssig

Überflüssig zu sagen, dass es nicht einen einzigen russisch-stämmigen Minister gibt, wenn man die russische Uroma von Mart Helme nicht mitrechnet.

6. Gibt es auch Helden?

Ja, den gibt es. Raimund Kaljulaid ist zuerst aus dem Vorstand der Zentrumspartei und dann aus der Partei ausgetreten, weil er es nicht mit seinem Gewissen vereinbaren konnte, dass seine politische Heimat mit Nazis paktiert. Kaljulaid hat viel Zuspruch von den Wählern erhalten, hoffentlich kann er das in naher Zukunft politisch ummünzen.


Raimund Kaljulaid

Keine Kommentare: