Sonntag, September 02, 2007

Eine Woche Estland

Endlich habe ich es geschafft für eine Woche nach Estland zu gehen und mit eigenen Augen zu sehen, worüber ich die ganze Zeit so schreibe. Vieles ist beim Alten geblieben (das letzte Mal war ich dort vor 2 Jahren), einiges hat sich in Tallinn äußerlich geändert (ein paar neue Wolkenkratzer und Shoppingzentren, gähn), aber wie es so schön heisst, es sind die inneren Werte die zählen, viele Gespräche mit verschiedenen Leuten, ich versuche mal zusammenzufassen:

1. Die zwei am heissesten diskutierten Themen ist absoluter Rauchverbot in öffentlichen Einrichtungen, wie Restaurants, Discos und Cafés und Verbot von Alkoholverkauf in den Läden ab 20.00. Bis jetzt wird das Rauchverbot streng durchgezogen (selbst Zigarren- und Wasserpfeifenbars haben komplett leergefegte Nichtraucherräume und proppenvolle Raucherzimmerchen), alle gehen zum Rauchen raus, auch wenn es regnet. Einige Cafés blicken es noch nicht ganz, dass vor den Eingang grosse Aschenbecher gehören und dass man nicht unbedingt das Café schon verlassen und seine Sachen vergessen hat, vielleicht ist man nur zum Rauchen rausgegangen. Natürlich passieren die interessanten Geschichten draussen, von denen die armen Nichtraucher nichts mitkriegen. Ausserdem ist bald Winter, man darf gespannt sein, wie viele Raucher sich lieber eins draussen abfrieren, als aufzugeben. Interessanterweise darf in Kasinos gequalmt werden (wie dick war der Geldkoffer?), so dass man durchaus in Kasino geht, um dort eins zu trinken und gemütlich zu rauchen. Das man ganz schnell beim Spielen ist, ist eine andere Geschichte.

Was Alkoholverkauf angeht, natürlich kursieren schon Geheimtipps, in welchem kleinen Lädchen in Lasnamäe das Verbot umgangen wird, Autobesitzer können immer noch sich ausserhalb von Tallinn eindecken und wenn es gar nichts mehr geht, verkaufen die Bars und die Restaurants durchaus ein Fläschchen oder zwei, wenn auch zum 2-3-fachen Preisen. Also scheint dieser Verbot nur Touristen zu betreffen, die sich nicht mehr auf Hotelzimmern und auf der Strasse, sondern nur in Bars abschiessen dürfen.

2. Das progressivste Café in ganz Tallinn ist wohl Café Moskwa. Wer "in" sein möchte öffnet sein schickes neues Apple IBook und zeigt stolz, was er in den letzten 24 Stunden an Websites designed hat. Die Bedienung versteht grundsätzlich nur Estnisch oder Englisch (ein Trend, der in der nächsten Zukunft sich wohl noch verstärken wird, die junge Generation kann schlicht und einfach kein Russisch mehr), AMEX und Maestro werden nicht akzeptiert, wo die Toiletten sind wissen nur Insider (kein Schild), ausserdem sind sie nicht durch Türen nach Männlein und Weiblein getrennt.

3. Eine sehr interessante Neueröffnung ist der KUMU, das estnische Kunstmuseum. Ich war positiv überrascht über die frische Art Kunst dem Publikum näherzubringen. Das Gebäude hat verdient mehrere Architekturpreise gewonnen. Zwei Ausstellungsstücke sind mir besonders in Erinnerung geblieben: eine Halle voll mit unterschiedlichen Büsten von bekannten und unbekannten Persönlichkeiten und jede von ihnen scheint ihre Geschichte erzählen zu wollen, so dass ein Stimmengewirr entsteht, der dem Raum eine sehr spannende eigene Atmosphäre verleiht. Und eine Videoinstallation über die Beschwerdechöre dieser Welt.

4. Ausstellung einer etwas anderen Art war das Okkupationsmuseum. Sehr akkurat wurden dort Fakten gesammelt und dargestellt, die über die Geschichte Estlands im 20. Jahrhundert erzählen. Mit zwei Fakten war ich nicht einverstanden, nämlich die Behauptung, dass die Rote Armee bei der ersten Besetzung Estlands 1939 eine freiheitliche und demokratische Regierung beseitigt hat. Seit wann ist eine Diktatur unter "Präsident" Pärts demokratisch? Die zweite Behauptung war, dass unter der deutschen Besatzung die estnische Bevölkerung weit weniger zu leiden hatte, als unter sowjetischen. Für die estnische Bevölkerung mag das gegolten haben, aber definitiv nicht für die jüdische oder die russische Bevölkerung dieser Zeit. Meiner Meinung nach ist die Bezeichnung "Okkupationsmuseum" viel zu populistisch und reisserisch für diese Ausstellung. Oder was haben der erste sowjetische Fernseher, viele alte Radios, ein verrosteter Autowrack von einer Invalidka mit "Okkupation" zu tun? Ein Kommentar meines Freundes, der mir genau erklären konnte, wie KGB Telefongespräche abgehört und aufgezeichnet hat: "KAPO (die estnische Geheimpolizei) macht es heutzutage genauso". Mit einem Wort für westlichen Touristen und Nostalgiker ganz nett.

5. Ein Wunsch an die estnische Regierung, anstatt Steuern zu senken, repariert erstmal die öffentliche Infrastruktur, vor allem die Strassen. Es bringt nichts Immobilienpreise wie in München zu haben, ohne die Häuser bequem erreichen zu können. Momentan kann man die Strassen in drei Klassen unterteilen:
- neugebauten Strassen, verlegt durch ehemalige Fabrik- oder Kasernengelände, gut ausgebaut, gut asphaltiert, gute Abkürzungen, ständig vollgestopft (Moskauer Verhältnisse)
- normale alte Strassen (verlegt zu Sowjetzeit) Flickenteppich, bei ein bisschen Regen eine einzige Wasserfläche, als nichts ahnender Fussgänger wird man von Kopf bis Fuss vollgespritzt, wenn man an so einer Strasse entlanggeht
- Zufahrtsstrassen zu einzelnen Wohnblocks, es wird nichts geflickt, eigentlich bräuchte man ein Geländewagen, um über die Löcher zu fahren, vor den schlimmsten Löchern (also denen, die über der Kanalisation verlaufen und das Auto reinfallen könnte), steht immerhin ein Warnschild.

6. Noch ein Wunsch an die estnische Regierung, denkt weniger wie Engländer, sondern mehr wie Skandinavier. Im Unterschied zu Estland wissen die Engländer, wie man die Immobilienpreise hochhält und dadurch die Wirtschaft weiter rundläuft, immer wenn die Preise zu fallen drohen, werden viele Ausländer ins Land gelassen (Inder, Pakistaner, Hongkong-Chinesen, Polen), die als billige Arbeitskräfte auch Wohnraum brauchen. Die Immobilienpreise in Estland scheinen ihren Peak erreicht zu haben und fangen an abzurutschen. Es herrscht Überangebot an Wohnraum und es werden wohl keine Ausländer angeworben, die ihn bewohnen könnten. So werden die Esten doppelt bestraft, nicht nur, dass sie viel zu viel für ihre eigene Wohnung bezahlt haben, noch kommt die Wirtschaft in stocken, weil billige Arbeitskräfte fehlen. Alle schimpfen, dass sie zu wenig verdienen, die Lebenshaltungskosten steigen (das habe ich auch bemerkt), aber die Produktion immer gleich bleibt, weil Impulse fehlen, wie man sie steigern könnte. Um an billige Arbeitskräfte bei gleichbleibenden Angebot zu kommen, werden die Arbeitgeber erfinderisch, so wird die neue Nähfabrik gleich in Lasnamäe gebaut mit dem Kalkül, dass die ärmere russische Bevölkerung dort zu niedrigeren Löhnen arbeiten könnte. Bewerbungsposter für McDonalds werden auf Estnisch gar nicht mehr aufgehängt, nur noch auf Russisch. Überhaupt scheint der kostensensitive Dienstleistungssektor für Absatz von Standartdienstleistungen oder Discountverkauf fest in russischen Hand zu sein.

7. Parallelgesellschaft. Nirgends ist dieser Terminus wahrer als in Estland. Alle meine Freunde mit denen ich gesprochen habe, sprechen zwar gutes Estnisch, aber nur dort wo sie es unbedingt müssen (auf der Arbeit, im Laden). Privat wird ausschliesslich Russisch gesprochen, man ist unter sich. Alle sind der Meinung, dass die Bronzenen Nächte ein einschneidendes Erlebnis für sie waren (O-Ton: Jetzt haben wir gesehen, wie sehr sie uns hassen). Alle hassen Ansip, allerdings sind auch alle der Meinung, dass Russland ihnen ein wahres Bärendienst erwiesen hat und was "Naschi" (aka Putinjugend) vor der estnischen Botschaft angerichtet haben, absolut peinlich und unnötig war. Alle möchten nur ihre Ruhe haben und keinesfalls eine Wiederholung der Ereignisse. Alle sind auch recht skeptisch was rein russische Parteien oder politische Strömungen betrifft. Wie unter solchen Umständen eine Friede-Freude-Eierkuchen-Integrationspolitik durchgeführt werden kann, ist mir schleierhaft.

Subjektiv hört man mehr Russisch auf den Strassen, es kursieren Statistiken, dass Tallinn inzwischen bis zu 60% russisch-sprachig geworden ist, also Verhältnisse wie in Lettland, wo in grossen Städten die russisch-sprachige Minderheit überwiegt. Vielleicht sind sie auch nur sichtbarer geworden, sei es der Busfahrer, der russisches Radiokanal laut laufen lässt oder die Horde russisch-sprachiger Jugendlicher, die auf Russisch laut losproletet.

8. Was den Bronzenen Soldaten selbst angeht, der neue Platz an sich ist meiner Meinung nach gar nicht schlecht. Es ist recht abgelegen, allerdings ist der Militärfriedhof wo hunderte Angehörige der sowjetischen (und anderen) Armeen ihre letzte Ruhe gefunden haben ein sehr passender Platz für diese Art von Monumenten. Alle, die ich gefragt habe, bestätigten mir auch, dass die Verlegung an sich für sie noch kein Affront war, nur die Art der Verlegung und die Verunglimpfungen davor absolut untragbar gewesen sind. Interessant ist es, ob am nächsten 8/9 Mai die estnische Regierung wieder einen Kranz zu Füßen des Soldaten legen wird, oder ob es ein einmaliger Akt gewesen war.

Zusammenfassend kann ich sagen, dass es sehr schön war alte Freunde wiederzusehen (hoffe sehr, dass wir uns noch oft wiedersehen werden), für Tallinn selbst hatte ich weniger Nostalgie übrig, als ich mir vorgestellt habe. Nur das Meer war so schön wie immer. Ich werde weiterhin über Estland schreiben, allerdings sieht es momentan nicht so aus, als ob in der nächsten Zeit, sich was sehr Weltbewegendes ereignen würde.

17 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Das Wetter war heute garnicht so schlecht, oder?

kloty hat gesagt…

hm, ich habe das schon geahnt, ich habe das schlechte Wetter mitgebracht, ich nehme es auch wieder mit. In München regnet es wie blöd :-(

Anonym hat gesagt…

Es hat auch Heute geregnet:(

Anonym hat gesagt…

Vielen Dank für Deinen Bericht. Du hast so richtige Worte gefunden. Ich schaue immer wieder bei Dir rein. Du kannst wirklich genau beobachten und präzise formulieren.

Gruß
Irina

kloty hat gesagt…

Vielen Dank Irina, hat mich sehr gefreut

Anonym hat gesagt…

Welche Juden oder Russen? Meinst die weniger als 1% von der Bevölkerung damals?
1941 und 1949 wurde mehr Esten deoprtiert (Siberine, Gulag usw), als es Juden und Russen in Estland vor dem II WK gab.


Persöhnlich kennen ich keinen Russen, der perfekt Estnisch spricht. Sowas wie Mammasprache ...

kloty hat gesagt…

An anonymous: Kannst Du mir eine Quelle angeben, wo steht, dass die Bevölkerung Estlands 1939 zu 99% aus Esten (und evtl. Deutschen und Schweden) bestand und nur zu 1% aus Russen und Juden? Ich wage das schwer zu bezweifeln.

Unter perfekt verstehe ich nicht akzentfrei, aber doch besser als der estnische Präsident (kleiner Scherz für Insider).

Anonym hat gesagt…

Kannst ja selber suchen, aber es gab nie mehr als 5500 Juden in Estland.
Das ist weniger, als 1%

Es gibt noch Ukrainer, Weißrussen, Schweden, Finnen, Tataren, Litauer, Letten, Polen, auch Deutsche und andere Finnougrische Nationen usw. 99% kann es nie sein. Vor ~1950 war so 90% Esten, heute so 70%.

Mit den Russen ist es so, dass es vor dem ersten Okkupation von Sowjetunion (1940) man mehr Gebiete hatte (meine ich hier Land), was man nicht mehr zurück bekam, "für immer verlorenes Land" und deswegen ist die Zahl der Russen zwischen 1940-~1946 so niedrig. 1943 war die Zahtl so ~10000. Zwischen 1920-1940 war die Zahl aber fast ~100000, aber hier wurden damals auch die Ukra/Weissru gezählt. Und wie weiter ging, weisst du schon selber. Man hat ganze estnische Städte von Esten ausgerottet und mit Russen voll gesiedelt. Heute nennt man das Genozied


Und den Scherz, hab ich nicht verstanden, was hasst du da gemeint?

Anonym hat gesagt…

Über Juden:
http://en.wikipedia.org/wiki/History_of_the_Jews_in_Estonia

Ist natürlich keine gute Quelle, da es Wikipedia ist

Heute ist schwer zu zählen, wie viele Juden da in Estland leben, da es viele sich mehr als Russen sehen

kloty hat gesagt…

an anonymous: Zuerst zählst Du Russen und Juden zusammen, dann wieder auseinander. Was ist das überhaupt für eine Einstellung ein Leid gegen ein anderes aufwiegen zu wollen? Beide Regime waren schlimm, unabhändig davon wieviel tausend Menschen das eine oder das andere umgebracht und deportiert hat.

Was den Witz über den estnischen Präsidenten angeht, ist es Dir noch nicht aufgefallen, dass Herr Ilves einen schweren englischen Akzent hat und sich vor der Prüfung der estnischen Sprache auf dem höchsten Level gedrückt hat? Ich bezweifle nicht, dass sein Estnisch gut ist, aber viele Russen sprechen auch ein gutes Estnisch nur mit russischen Akzent. Mehr kann man nicht verlangen.

Anonym hat gesagt…

Glaubst du, dass die Esten die 20000 Russen/Juden so am Herzen sind, wie die 400000 Esten sind, die gefallen/verschleppt/getötet/usw zwischen 1940-50.

Da verstehst du etwas falsch, das ist kein Akzent, sondern mehr Dialekt, was bei ihm vorkommt. Und diese Akzent Theorie hab ich noch nie gehört. Woher hast du es gehört?

Anonym hat gesagt…

"es kursieren Statistiken, dass Tallinn inzwischen bis zu 60% russisch-sprachig geworden ist"
Die Russes nennen die Gerüchte "Statistiken". Offizielle Statistik ist solch: Am 1. Januar 2007 war Einwohnerzahl Tallinns 396852, davon Esten 217938 (54,92 %).

Anonym hat gesagt…

"dass die Rote Armee bei der ersten Besetzung Estlands 1939"
Estland was okkupiert von Sowjetunion am 17. Juni 1940

Anonym hat gesagt…

"Seit wann ist eine Diktatur unter "Präsident" Pärts demokratisch?"
Pärts? Estlands Präsident war Päts. Und ich kann nicht verstehen, warum du Anführungsstriche nutzt. Und Estland war damals überhaupt nicht Diktatur, sondern autoritär Regime

kloty hat gesagt…

Hallo Franz,

vielen Dank für die Korrekturen.. Über den Wahrheitsgehalt meiner Statistik will ich mich nicht verbürgern, die Zahl wurde mir auf einem Treffen mit russisch-sprachigen Journalisten zugesteckt, so dass ich keine Quelle angeben kann. Die Frage bei der offiziellen Statistik ist, wie gezählt wurde. Sind Esten diejenigen mit der estnischen Muttersprache, oder die mit der estnischen Staatsbürgerschaft? Wenn es Leute mit estnischen Staatsbürgerschaft sind, dann ist die Statistik mit 60% russisch-sprachigen Bewohnern Tallinns durchaus möglich. Man kann russisch-sprachig sein UND estnische Staatsangehörigkeit haben.

Erläutere mit bitte den Unterschied zwischen autoritärem Regime und Diktatur.

Anonym hat gesagt…

Die Esten sind etnische Esten, das hat nicht etwas mit Staatsbürgerschaft zu tun. Es gibt auch Statistik über Staatsbürgerschaft der Bevölkerung Tallinns. Nach dem Resultaten der Volkszählung (31.03.2000) lebte in Tallinn 400378 Einwohner. Davon 284684 (71,7 %) hatten estnische Staatsbürgerschaft, 72155 (18,02 %)waren ehemalige Sowjetbürger mit unbestimmte Staatsbürgerschaft, 34971 (8,73 %) hatten russische Staatsbürgerschaft, 1696 (0,42 %)hatten ukrainische Staatsbürgerschaft. 3081 Personene hatten Staatsbürgerschaft der anderen Staaten. Staatsbürgerschaft der 3791 Personen (0,95 %) war unbekannt.
Heute haben wahrscheinlich 75 % Tallinner estnische Staatsbürgerschaft.

kloty hat gesagt…

Hallo Franz,

danke fuer die Richtigstellung. Werde mal bei meinen Quellen nachfragen, wie sie auf die Zahl kommen.