Sonntag, Oktober 05, 2008

Schatten des Bronzenen Soldaten

Interview mit Dimitrij Linter

am 22 September haben Tausende von Leuten an Veranstaltungen teilgenommen, die dem 64. Jahrestag der Befreiung der Hauptstadt Estlands von den germano-faschistischen Armee gewidmet wurden. Und das, obwohl dieser Fest offiziell verboten war und als Tag des Trauers ausgerufen wurde. Dieser Beschluss wurde am 5. Februar 2007 vom estnischen Parlament verabschiedet, als Vorbereitung zur Wegräumung des örtlichen Hauptsymbols des Sieges über Nazismus - den Bronzenen Soldaten vom Platz Tõnismägi. Über die Lektionen aus diesen Ereignissen sprach "RV" (Rosvesty) mit Dimitrij Linter, einem der Führer der Volksbewegung "Notchnoj Dozor", die sich für den Schutz des Denkmals einsetzte.

- Seit den Aprilen Geschehnissen in Tallinn sind fast ein einhalb Jahre vergangen. Was sind die Handlungen der estnischen Regierung und welche Fragen hätten Sie an die externen Beobachter?

- Das Thema des Bronzenen Soldaten vergiftet bis jetzt nicht nur die estnisch-russländische Beziehungen, sondern wirft nicht wenige Fragen über den Sinn und Zweck der europäischen Politik auf. Die EU hat überhaupt nicht auf die Niederschlagung der zivilisierten Proteste reagiert, die, wenn ich das in Erinnerung rufen darf, einige Monate vor den bekannten Apriler Ereignissen anfingen, die Gewalt und endgültige Spaltung der Gesellschaft nach ethnischem Prinzip in Estland provoziert haben. Von europäischen Strukturen kam auch keine Reaktion auf den Aufbau eines improvisierten Konzentrationslagers im Terminal D im Tallinner Hafen, wo die Polizei auf grausame Weise die festgenommenen Protestler und zufällige Passanten, 2000 in Gesamtzahl, erniedrigte. Wohl aus dem Gefühl der falschverstandenen Solidarität mit den Regierungskreisen Estlands, eines NATO und EU-Mitglieds, weiter als unverbindliche Gespräche über die Unvereinbarung der Niederschlagung der Protestaktionen mit den europäischen Werten gehen die Eurobeamten nicht.

- Womit kann man diese wählerische Unachtsamkeit der Einhaltung der Menschenrechte seitens der kontinentalen "Mentoren der Demokratie" erklären?

- Die estnische politische Elite besitzt eine starke Lobby in Brüssel und Strassburg, die den Image Estlands als den "Tiger der jungen Demokratie" kultiviert und die Augen verschiesst vor ihren "Auswüchsen", die eigentlich Verbrechen sind, deren mittelbarer Unterstützer die EU ist. Aus meiner Sicht haben die russisch-stämmigen Einwohner bei uns dieses Verhalten der EU als Verrat an den Bürgern, die auf dessen Territorium leben, aufgenommen. Das heisst im Land selbst sind solche Bedingungen erschaffen worden, dass ein bedeutender Teil der Bevölkerung seine politischen und zivilgemeinschaftlichen Rechte nicht ausüben kann, wobei jede Bemerkung darüber als ein Angriff auf die Staatssicherheit gewertet wird und die Leute Repressionen ausgesetzt werden. Die Versuche die Situation den europäischen zivil-gemeinschaftlichen Organisationen zu erklären, werden als Unterminierung der Staatsmacht angesehen. Auf diese Weise wird ein Model durchgesetzt, in der die Verbindung zu ausländischen NGOs ungehindert nur über die offiziellen Institutionen und unter ihrer Kontrolle geführt werden kann. Und wo bleibt da die Zivilgesellschaft? Das wird mit einem Ziel gemacht: ja nicht "den Müll aus dem Häuschen kehren" damit niemand die Wahrheit erfährt.

- Warum haben in einer ähnlichen Situation im Herbst letzten Jahres in Tiflis, wo die georgische Staatsmacht Massenproteste der Opposition niedergeschlagen hat, die europäischen Politiker mehr kritische Aufmerksamkeit auf das Verhalten eines anderen "Tigers der jungen Demokratie" in Person des Präsidenten Michail Saakashwilli aufgebracht?

- Darum, weil zum ersten bei der Rezeption der Geschehnisse auf Tõnismägi eine ethnische Komponente eine Rolle gespielt hat, dort waren es hauptsächlich Russen, die für den Erhalt eines Denkmals eines sowjetischen Kriegers demonstrierten, zum zweiten gibt es eine stille Übereinkunft für Mitgliedsländer, die ein für alle Male eine Hauptprüfung auf die Demokratietauglichkeit des Regimes abgelegt haben. Ausserdem hat die antirussische Stimmung der georgischen Opposition die westliche Länder dazu bewegt einige kritische Bemerkungen an die Adresse der Regierung zu machen. Doch bremste sie die Tatsache, dass die Regime von Michail Saakashwilli ein exklusives außenpolitisches Projekt Washingtons darstellt, der aus geopolitischen Überlegungen heraus stark in ihn "investierte".
Die Tatsache, dass das Gedächtnis an die Heldentaten und Gefallenen im Kampf gegen Nazismus ein verbindender Faktor für viele Einwohner Estlands wurde, die bereit sind es zu verteidigen, die Tatsache, dass es auf natürliche Weise eines der wichtigsten Komponenten des Selbstverständnisses des aufwachenden und erstarkten Russlands ist, erschreckt viele in Ländern des "neuen Europas". Unter dem Druck der Regierungskreise, die auf vollwertige Mitgliedschaft dieser Länder in der EU spekulieren, werden stärkerwerdende Versuche unternommen schon auf europäischen Level die Geschichte des zweiten Weltkrieges umzuschreiben, doch tun die Politiker der "alten" Länder müde abwinken und ziehen es vor unaufhörende kleine Rückzüge den National-Radikalen gegenüber zum Thema des gemeinsamen Sieges mit der Sowjetunion über den Nazismus zu machen, im Tausch gegen die "Ruhe" in anderen Fragen. Wer wird hier für die Russen in Estland mit ihren Heiligtümern eintreten!
Was die militärische Aggression des georgischen Präsidenten gegen das südossetische Volk angeht, hier liegt ein Hauptteil der Schuld ausgerechnet auf der EU, die ausgezeichnet über die spezifischen Besonderheiten des Regimes Saakashwillis wusste und die Möglichkeit hatte ernsthaft auf ihn zu wirken. Doch gab es nicht den politischen Willen dazu. Letztendlich hat auch Russland eine ernste Lektion bekommen, wegen der Unfähigkeit die Zusammenschlagung der Angehörigen ihrer Nation im April 2007 in Tallinn zu verhindern, die ihr Recht auf ihre Erinnerung und elementare Achtung ihrer Vorfahren verteidigten. Ich glaube, dass wenn es in russischen Gesellschaft und Führung nicht ein starkes Gefühl gegeben hätte, eine Wiederholung dieser Hilflosigkeit wie während der Krise um den Bronzenen Soldaten keinesfalls zuzulassen, dann gäbe es heute kein freies Süddossetien!

- Nichtsdestotrotz die Taten der Regierung von Andrus Ansip, die die Entscheidung getroffen hat, den Memorial vom Tõnismägi wegzuräumen und dessen Verteidiger zu verfolgen, haben eine Auswirkung auf die wirtschaftliche Entwicklung des Landes gezeigt. Begreift jetzt die estnische politische Elite den Preis ihrer Ambitionen?

- Selbstverständlich hat die Kürzung des russländischen Warentransits und faktische Einfrierung von gemeinschaftlichen Grossprojekten zum Vorteil der Nachbarländer Nichtgefallen in bestimmten Kreisen ausgelöst. Heute wird die Kritik an die Adresse der Regierung für "außergewöhnlichen Unfrieden" mit Russland durch die wirtschaftliche Krise angeheizt, die ganz Estland erfasst hat. Doch sollte man wissen, dass die heutige Elite des Landes ihren wirtschaftlichen Wohlstand aus Projekten bezieht, die nicht direkt mit Russland verknüpft sind, doch im Sinne des Elektorats sich sehr sicher in der Rolle des "Verkäufers der Angst" fühlt. Die Zurschaustellung Moskaus als Bedrohung, Spekulationen wegen der "fünften Kolonne" und ihre Hoffnung auf Unterstützung seitens Amerikaner und Europäer erlaubt es ihr die Aufmerksamkeit von einfachen Esten von realen innerestnischen Problemen auf antirussische Mythen zu lenken und keine Aufmerksamkeit der schwachen Kritik seitens der estnischen Geschäftsleute zu schenken, die eine Aussicht auf russländische Investitionen, Transit und Binnenmarkt haben. Doch das Hauptproblem liegt woanders: der Schatten des Bronzenen Soldaten verschlingt Estland komplett und jede nachfolgende Regierung wird mit der Tatsache zu kämpfen haben, dass nicht rechtzeitig eine adäquate Bewertung der Handlungen der politischen und polizeilichen Kräfte bei der Geschichte mit dem Denkmal gegeben wurde, keiner der Sadist in Uniform, die auf den Strassen und im Gefängnis gefoltert haben, strafrechtlich belangt wurde, nicht die Mörder von dem russischen Staatsbürger Dimitrij Ganin gefunden wurden. Und die Russen in Estland werden es nicht vergessen. Deswegen wird eine grundlegende Basis für ein Konflikt übrigbleiben. Und der könnte bei bestimmten Umständen, die nicht immer bestimmt werden können, aus der Kontrolle der Herrschenden geraten.

3 Kommentare:

sonikrave hat gesagt…

Die ausdrucksweise von dem Herrn Lintner lässt mal wieder zu wünschen übrig, Stichwort Verräter.

Nun gut, dass mag die rurrische Artikulationsweise sein, nur woher dieser Sprachgebrauch etnstammt, kann sich jeder bei die Finger zusammen zählen.

Wie auch immer, ich denke dass die Bevölkerung in Estland (ob Russe oder nicht) in Moment ganz andere sorgen hat.

Jüngster Wahlumfrage zur Folge, würden die Esten die derzeitige Regierung abstrafen und nicht wieder wählen. Das überrascht mich schon sehr.

Weniger überraschend sind die Sorgen in der Bevölkerung um die Wirtschaftslage und um das finanzielle Überleben in den kommenden Monaten.

Der Bevölkerung schlackern die Beine und klappern die Zähne - so muss man sich die Zukunftsängste in diesem Land derzeit etwa vorstellen.

Der bronzene Soldat spielt hier derzeit keine Rolle. Ich Glaube auch, dass die neuen alten Bashings gegen Russland von Ansip und Co zwecks Europawahlen hier in Estland niemand mehr ernst oder erst gar nicht wahr nimmt, so in etwa die angeblichen Beuteuerungen, dass das Bankensystem in Estland sicher sei.

Die Bevölkerung will Lösungen aus der Wirtschaftskrise sehen und sihet offenbar nicht unbedingt die derzeitige Regierungen in der Lage, diese Krise meistern zu können.

Richtig ist sicherlich, dass das Polizei- und Justizsystem in Estland was zu wünschen übrig hat, und davon reichlich. Ich glaube jedoch nicht, dass sich hier spezielle gegen "Russen" gestellt wird.

Die heruntergekommene innere Sicherheit in Estland betrifft alle, einschließlich mich als "Deutscher", dem besten Freund der Freiheitskämpfer, den sich ein Este nur wünschen könnte.

Die Budget-Krise in diesem Bereich wird alles noch verschlimm bessern.

Ich kenne Einige aus dem Bereich der Justiz und Polizeiwesen, und die bekommen selbst das Kotzen über die derzeitige Lage und wissen nicht, wie das alles weitergehen soll und die unzähligen Fälle and Papierbergen jemals abgearbeitet werden sollen.

Folglich gibt es darunter sicherlich auch schwarze Schafe, von mir aus auch Sadisten, wleche die Sitaution bewusst ausnutzen.

Aber dem gemeinen Polizei- und Justizwesen vorsätzliche Verbrechen vorzuwerfen, gar im kollektiv, halte ich für weit her geholt.

Und was die EU betrifft, hat diese nun in vielen Fällen gerade gezeigt, dass die EU Kommission im Zweifel die Bevölkerung in Estland vor dem estnischen Staat schützt.

Hier spielen nur wieder zwei Faktoren eine Rolle, warum die Maßnahmen nicht (sofort) greifen:

a) Bürokratie hat einen langen Atem und

b) gibt es in Estland derzeit niemanden, der den Wert des Papieres aus Brüssel auch in die Tat umsetzen könnte.

kloty hat gesagt…

Hallo Sonikrave,

normalerweise schaue ich schon für welche Interviews ich meine Zeit investiere und sie übersetze und bei diesem Interview hatte ich das Gefühl, dass es recht relevant ist und ich denke nicht, dass Dmitrij Linter sich hier im Ton vergriffen hat. Linter meint den Verrat an Werten und Idealen, genauso kann ich momentan behaupten, dass sämtliche europäische und amerikanische Regierungen Verrat an ihren Idealen ausüben indem sie nachdenken die Banken zu verstaatlichen.

Was die Relevanz der Bronzenen Nächte zur jetzigen wirtschaftlichen Situation angeht, erstens wird die jetzige Regierung alles tun, um ihre Popularität wieder zu steigern (Stichwort jüngste Wahlumfragen) und Russenbashing ist das bewährte Mittel. Zweitens, durch die Verschärfung der Polizeigesetze als Reaktion auf die Unruhen, können evtl. soziale Unruhen mit Polizeigewalt unter Kontrolle gebracht werden.

Du schreibst, dass im Zweifel die Europäische Kommission den Bürger von dem estnischen Staat schützt. Hast Du da ein Beispiel?

Gruesse aus Deutschland,

kloty

sonikrave hat gesagt…

Hallo Kloty,

Russenbashing ist das bewährte Mittel und wird auch derzeit um die europawahl bereits munter angewandt. Ob allerdings damit noch auf absehbare Zeit Land zu gewinnen ist, bezweifle ich.

Zudem kommen jetzt auch noch Gastarbeiter aus Finnland zurück, weil auch dort der Real Estate Markt eigebrochen ist.

Daran hatte ich noch gar nicht gedacht.

Jedenfalls werden diese, falls sie nicht in Finnland illegaler Arbeit nachgehen, in Estland mit leeren Taschen aufkreuzen, ohne Arbeit und ohne Anspruch auf jegliche Sozialleistungen.

Das wird noch neben der derzeit eh unübersehbarer (auf den Strassen) steigenden Anzahl Arbeitslosende plus bankrotte Firmen (neben Real Estate werden wohl auch noch bis Mitte nächsten Jahres rund 1/3 des Gastronomiegewerbes wegfallen) ein Thema in Estland sein, welches sich über die Problematik mit Russland kaum mehr unter den Teppich gekehrt werden kann, weil die Menschen ganz einfach ihr eigenes Hab und Gut und Existenz auf den Spiel sehen.

Die Europäische Kommission hat nun vielfach und wiederholt Estland wegen diverser Dringlichkeiten angemahnt, nicht nur die Problematik mit den Staatenlosen zu lösen, sondern auch auch wenn es um die fehlende Implementierung diverser EU-Direktiven geht und nicht zuletzt, dass SMS-Kredite gegen das europäische Geldwäschegesetz verstößt.

Das Problem ist hier ganz einfach, dass die EU ein zu bürokratischer Apparat ist, welcher selten effektiv und zeitlich sinnvoll auch Tatsachen schafft, wie etwa mit dem Korruption-Skandal um die Zuckerpreiserhöhungen.

Dass die EU nichts macht, stimmt nicht, aber es ist einfach zu wenig.