das Jahr 2012 geht zu Ende, die Tannenbäume sind geschmückt, die Geschenke sind verteilt, die Weihnachtsgans liegt schwer im Magen. Zeit sich umzudrehen und sich zu erinnern, was dieses Jahr wichtig war.
Wenn ich meine 82 Posts für dieses Jahr durchschaue, dann sind folgendes die Topthemen:
Januar: Das estnische Parlament verabschiedet eine Resolution, in der Dankbarkeit denjenigen ausgesprochen wird, die für die Freiheit Estlands gekämpft haben. Der Text ist sehr allgemeingehalten, aber wenn man den estnischen Hintergrundkontext kennt, dann weiss man ganz genau wer gemeint ist und wer nicht.
Februar: Alljährliche Aufmärsche der Neonazis und Waffen-SS Veteranen in Litauen und Lettland. Dank Internet und elektronischen Petitionen wird es immer einfacher seinen Unmut zu äußern, was zahlreiche Menschen auf der Welt getan haben.
März: Massive Streiks sind ein neues Phänomen in Estland, Ärzte, Lehrer, Mitarbeiter des öffentlichen Verkehrs gehen auf die Strasse. Die Regierung mauert, sagt, dass es kein Geld gibt, doch am Ende gibt es zumindest mit den Ärzten einen Kompromiss
April: Die KAPO veröffentlicht den Jahresbericht. Politiker Kõlvart, Stalnuhhin und Toom werden darin erwähnt, was sie zu Staatsfeinden macht. Alle drei gehen vors Gericht. Yana Tooms Klage wurde mit einer abenteuerlichen Begründung in der ersten Instanz abgewiesen, sie kämpft weiter, die anderen zwei Verfahren laufen noch
Mai: Es werden 30.000 Unterschriften für den Erhalt der russischen Schulen in Estland gesammelt. Weder der Bildungsminister Aaviksoo, noch der Ministerpräsident Ansip, noch der estnische Präsident Ilves empfangen die Vertreter des Vereines der Russischen Schule Estlands, so dass die Unterschriften ihnen nicht persönlich übergeben werden können. Ebenfalls werden die Gesuche der russisch-sprachigen Gymnasien abgelehnt, weiterhin in russischen Sprache unterrichten zu dürfen.
Juni: Der Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman erdreist sich in seinem Blog zu behaupten, dass der estnische Wirtschaftsaufschwung durch Sparen gar nicht so toll ist. Der estnische Präsident fühlt sich persönlich beleidigt und antwortet recht grob in Twitter. Es entspannt sich ein Duell, das aufmerksam von Massenmedien verfolgt wird. Eindeutigen Gewinner gibt es nicht, es wird sich wohl erst in den nächsten Jahren herausstellen, wer denn Recht hatte. Was auf jeden Fall klar sein sollte, dass die Erfahrung des kleinen Estlands nicht auf die Weltwirtschaftsmacht Nr. 1 USA 1:1 übertragen lassen sollte, wie es gewisse konservative Wirschaftswissenschaftler weissmachen wollen.
Juli: Estnische Bevölkerung wird immer weniger. Es sterben mehr Menschen, als geboren werden, auch ist die Auswanderung ein Topthema dieses Jahr. Es ist wie mit dem Wetter, alle reden darüber, aber niemand tut was. Der Euro hat Transparenz in Preise aber auch Löhne gebracht, so dass es klar ist, wieviel man in anderen Ländern verdienen kann. Ein anderer Trend ist die Landflucht. Die traditionellen estnischen Bauernhöfe, ein Teil der estnischen Kultur, geht verloren, man braucht nur wenige grosse Agrarbetriebe, um Estland ernähren zu können. Nur Tallinn und Tartu gewinnen Bevölkerung hinzu, alle anderen Landkreise verlieren, teilweise bis zu 40% in 10 Jahren.
August: Die europäischen Diskussionen um die Euro-Rettungsschirme werden auch in Estland heiss diskutiert. Viele Leute sehen nicht ein, warum Estland Griechenland und Co retten sollen, wo das Lebensstandard in diesen Ländern viel höher ist, als in Estland.
September: Es herrschen raue Sitten im estnischen Parlament. Yana Toom wird mit Erschiessung bedroht, ein anderer Abgeordnete macht sich über sexuelle Minderheiten lustig, alles ohne irgendwelche Konsequenzen. Die Opposition veranstaltet Marathonsitzungen, die bis spät in die Nacht dauern, um die Regierungskoalition zu zermürben und Gesetze durchzubringen, teilweise erfolgreich.
Oktober: Mehrere Korruptionsskandale erschüttern Estland dieses Jahr. In einem ist der Justizminister verwickelt, er soll einen Abgeordneten angewiesen haben, eine größere Summe Geld unbekannter Herkunft unter seinem Namen auf das Konto der Partei einzuzahlen. Die Staatsanwaltschaft hat sämtliche Korruptionsverfahren aus Mangel an Beweisen eingestellt. Doch jetzt geht die Bevölkerung auf die Strassen, vor dem Sitz der Reformpartei in Tallinn und Tartu wird demonstriert. Schliesslich tritt der Justizminister Michal zurück, wobei die öffentliche Umfragen besagen, dass es viel zu spät war.
November: Die Charta 12 wird veröffentlicht und von über 20.000 Leuten unterschrieben. Bekannte Politiker, Künstler und Aktivisten Estlands verlangen eine andere Politik, Volksbeteiligung und Dialog zwischen den Regierenden und dem Volk. Als Reaktion hat der Präsident mehrere Treffen anberaumt bei denen Diskussionsgrundlagen erarbeitet werden sollen, daraus sollen dann Gesetze entstehen, die ins Parlament eingebracht werden. Unter den Eingeladenen gibt es nicht einen einzigen russisch-sprechenden. Entsprechend reserviert steht die russisch-sprachige Minderheit dem ganzen Vorhaben gegenüber.
Dezember: Alissa Blintsova und Oleg Besedin, beide Aktivisten der Russischen Schule Estlands werden beschuldigt ihre eigene Unterschrift gefälscht zu haben. Die Unterschrift stand unter dem Gesuch der Elternvertretung eines russisch-sprachigen Gymnasiums zur Erhalt der russischen Sprache. Die Staatsanwaltschaft hat noch nicht entschieden, ob ein Verfahren eröffnet wird.
Riskieren wir einen Blick in die Zukunft. Gerade zerschlagen Russland und USA sehr viel politischen Geschirr und das wird nicht ohne Auswirkungen auf EU und Estland im speziellen bleiben. Estland hat Russlands Vorschlag für die Erkundung des Meeresbodens für den zweiten Strang der Gasleitung Nordstream abgelehnt, das wird zu einer Gegenreaktion führen. Russland ist meisterhaft darin doppelte Standards überall zu finden und jede Kritik zum Thema Demokratieprobleme in Russland, wird mit dem Hinweis abgebügelt, dass es in EU der russisch-sprachigen Minderheit gibt, die staatenlos ist. Ob die EU sich diesen Problems endlich ernsthaft annimmt, steht in den Sternen.
Ich gebe der jetzigen Regierung eine 50% Chancen das nächste Jahr ohne die Neuwahlen zu überstehen. Einerseits ist die Regierung verbraucht, mehrere Minister sind in Skandale verwickelt, es fehlt an Strategie und bei der Bevölkerung hat sie keine Unterstützung, andererseits ist es klar, dass bei den Neuwahlen zur Zeit die Opposition klare Mehrheit hat und falls nicht die Zauberwaffe E-Wahlen zum Einsatz kommt (ich traue das den jetzigen Politikern absolut zu), dann wird ein Machtwechsel stattfinden. Nun bedeutet ein Machtwechsel, dass recht viele Leute ihre warmen Posten und Pöstchen räumen müssen, was ihnen überhaupt nicht schmecken wird. Deswegen wird die Koalitionen alles tun, um keine Neuwahlen stattfinden zu lassen. Vielleicht werden wir noch mehrere Ministerrücktritte erleben, vielleicht muss sogar Ansip persönlich zurücktreten, aber die Regierungskoalition wird sich an die Macht krallen.
Einen Namen, den man sich merken sollte, ist Kaja Kallas, die Tochter des Eurokommissars Siim Kallas, eine gelernte Juristin, die gerade von den Massenmedien in Stellung gebracht wird. Wahrscheinlich ist sie für wichtige Positionen vorgesehen, sie ist unverbraucht, in kein Skandal verwickelt und wird nach dem Motto eingesetzt: Wenn nichts mehr hilft, nehmen wir eine Frau.
Für den Kampf um die russisch-sprachigen Schulen sehe ich schwarz. Nur bei einem baldigen Regierungswechsel hat die Reform eine Chance zurückgenommen zu werden, ansonsten wird das Bildungsministerium alles tun, damit alle Schulen früher oder später auf Estnisch als Unterrichtssprache umgestellt werden. Der juristische Kampf ist schön und gut, aber selbst wenn das Europäische Gericht für Menschenrechte sich der Klage annimmt, dauert es mehrere Jahre und dann ist die Macht des Faktischen da, es werden keine Lehrer, keine Lehrbücher und keine russischen Unterrichtspläne mehr geben.
Aber das ist ja das Spannende an der Zukunft, dass es ganz anders kommen kann, deswegen lassen wir uns überraschen.
Ich möchte mich bedanken und wünsche meinen Lesern, Kommentatoren, Verlinkern, Unterstützern Frohe Weihnachten und ein schönes, glückliches neues Jahr 2013.
Euer kloty
1 Kommentar:
Vielen Dank! In Estland haben ein-paar Minister Stellen und Amt gewechselt. Taavi Röivas ist nun Sozialminister und Hanno Pevkur statt Kristen Michal angestellt. H. Pevkur hätte ca seit März 2011 kein Urlaub gehabt und hat vom Staat das Geld für unbenutzten Urlaub von Wert 9600€ bekommen. Einige sagen - im August 2012 hat der 2 Wochen Urlaub gehabt. Und einige empfehlen das gleiche bei K. Pentus-Rosimannus machen - genau nur Stuhl wechseln..
Frohe Weihnachten!
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