Es ist schon (oder erst?) fünf Jahre her, seit die Bronzenen Nächte Estland erschütterten. Es gibt viele Nachwehen, unter anderem Gerichtsverfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen Misshandlungen durch Polizei von Demonstranten oder komplett Unbeteiligten. Mstislav Rusakov vom Informationszentrum für Menschenrechte hat das in einem Artikel zusammengefasst.
Die Ereignisse, die am 26-29 April 2007 im Zentrum von Tallinn passierten, erzeugten einen Schock sowohl bei dem estnischen als auch bei dem russischen Teil der Gesellschaft.
Die Mehrheit der Esten war recht überrascht, dass die Russen, die man ungestraft 17 Jahre lang aus allen Sphären der Gesellschaft rauskomplimentieren und "integrieren" konnte, zum Protest fähig sind. Die Russen waren überrascht, dass die absolut unzweideutig ausgedrückte Meinung der Minderheit zynisch durch die Mehrheit ignoriert werden kann.
Die Message, die von Premier Ansip verbreitet wurde, war recht klar: "Wir wollen nicht, dass euer Denkmal hier steht; wir spucken auf euere Meinung, und deswegen werden wir es wegschaffen, ob ihr es wollt oder nicht". Und diese Message, wie die Umfragen zeigen, wurde von 90% der Esten unterstützt.
Ein Schock erzeugten bei den Russen auch die massiven Festnahmen durch die Polizei von zufälligen Passanten und Gaffern, unabhängig vom Geschlecht und Alter. So was gab es früher in Estland nicht. Dabei gibt es praktisch kein Zweifel, dass das entscheidende Kriterium für die Festnahme, die Nationalität war. Es wurden Russen festgenommen, die zufällig in der Griffweite waren. Dabei war das ganze Stadtzentrum umstellt, durch das die wichtigsten Transportwege durchgehen. Deswegen konnte man ins D-Terminal geraten, weil man einfach von der Arbeit oder aus der Schule kam. Oft wurden die Festnahmen mit Misshandlungen verbunden, bei der Festnahme selbst, oder auch später an den Orten wo sie festgehalten wurden.
Sofort nach den "Bronzenen Nächten" hat das Informationszentrum für Menschenrechte angefangen, Aussagen von den Opfern aufzunehmen. Wir haben versucht die Leute anzunehmen, die nicht an den Unruhen beteiligt waren und gegen die die Polizei nichts hatte. Hauptsächlich waren es solche, die "am falschen Ort zur falschen Zeit waren". Was wurde beklagt? Jemandem hat ein Polizist den Schädel mit dem Knüppel durchbrochen, in diesem Zustand wurde er in D-Terminal gebracht, als er das Bewusstsein verloren hat, wurde er von den Polizisten an den Füßen wie ein Sack in den Rettungswagen geschleppt. Einem anderen hat man die Hand bei der Festnahme gebrochen. Den dritten hat man derart in D-Terminal zusammengeschlagen, dass seine Operationsnarben aufgegangen sind. Dem vierten hat man medizinische Hilfe verweigert, als er Schmerzen wegen Magengeschwür hatte. Den fünften haben die Polizisten auf den Boden gelegt, zwangen ihn die Beine auseinanderzuspreizen und schlugen ihn mit den Füßen auf seine Geschlechtsteile.
Solche Aussagen gab es an die 50 Stück. Wir gaben sie an den Kanzler der Justiz und danach an die Staatsanwaltschaft weiter. Die Aussagen beinhalteten Eingaben wegen dem grausamen Umgang seitens der Polizei, ungesetzliche Festnahme und Festsetzung mit Bewachung. Die Art der Eingaben war folgende. Die Beschwerden gegen die Polizei gingen an die Bezirksanwaltschaft. Die Bezirksanwältin weigerte sich für alle unsere Eingaben ein Strafverfahren zu eröffnen. Die Antworten waren immer gleich: wegen der Massenunruhen waren die Handlungen der Polizei begründet. Manchmal war diese Formulierung unbegründet. Zum Beispiel griff die Polizei Larissa Neschadimova, die im Auto neben dem Denkmal war, vor den Massenunruhen an. Übrigens wurde diese "erfinderische" Bezirksanwältin in Folge von der estnischen Regierung prämiert.
Auf die Weigerung hin ein Strafverfahren zu eröffnen, haben wir in der Staatsanwaltschaft eine Beschwerde eingelegt. Dort waren die Antworten schon etwas ausführlicher. Es wurde eine Ansicht vertreten, dass die Verletzungen von anderen Teilnehmern der Unruhen stammen und nicht von der Polizei. Danach wurde die Beschwerde an das Tallinner Bezirksgericht weitergeleitet. Dort hat und der vereidigte Advokat Boris Jaroslavskij sehr geholfen. Nach dem Gesetz kann die Beschwerde gegen die Weigerung der Staatsanwaltschaft über die Eröffnung eines Strafverfahrens nur von einem vereidigten Advokat eingereicht werden.
Im Endergebnis konnte kein Strafverfahren gegen die Polizei eröffnet werden. Wobei der bekannte deutsche Geschäftsmann Klaus Dornemann, der in D-Terminal misshandelt wurde, konnte mit der Hilfe der deutschen Botschaft die estnische Staatsanwaltschaft zwingen ein Strafverfahren zu eröffnen. Doch es wurde geschlossen, weil es nicht möglich war die Schuldigen festzustellen. Ausführlicher kann man über die apriler Ereignisse in dem Sammelband "Der Bronzene Soldat. Die April-Krise", der von dem Informationszentrum für Menschenrechte herausgegeben wurde, nachgelesen werden.
Wegen vielen Schwierigkeiten und Verzögerungen sind von den 50 ersten Beschwerdeführer bis zum Tallinner Bezirksgericht (in diesem Fall der letzten Instanz) nur 7 übriggeblieben. Diese sieben Leute haben mit unserer Hilfe und der Hilfe einen bekannten englischen Menschenrechtsanwalts Bill Bouring, Klagen vor das Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGM) eingereicht. Estland wurde wegen Verletzung von vier Punkten der Europäischen Menschenrechtskonvention angeklagt:
- Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. (Artikel 3)
- Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Die Freiheit darf nur in den folgenden Fällen und nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden (§1, Artikel 5)
- Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird. (§1, Artikel 6)
- Jede Person, die in ihren in dieser Konvention anerkannten Rechten oder Freiheiten verletzt worden ist, hat das Recht, bei einer innerstaatlichen Instanz eine wirksame Beschwerde zu erheben, auch wenn die Verletzung von Personen begangen worden ist, die in amtlicher Eigenschaft gehandelt haben. (Artikel 13)
Wenn ein Polizeibeamter bei der Ausübung seiner Pflicht grundlos einem Menschen Schmerzen zufügt, ist das eine Folter. Wenn man Leute mit zusammengebundenen Armen auf dreckigen, kalten Boden sitzen zwingt, ihnen kein Wasser gibt, sie nicht auf die Toilette ausführt, das ist wenn auch keine Folter, so zumindest eine erniedrigende Behandlung. Deswegen aus unserer Sicht ist das eine Verletzung des Artikels 3 der Konvention.
Die Festsetzung in D-Terminal, das nicht vom Gesetz bestimmtes polizeiliches Gebäude ist, ist auch eine Verletzung des Teil 1 des Artikels 5 der Konvention. Die Nationalität als Grund für die Festnahme ist auch nicht in den estnischen Gesetzen festgehalten. Dies ist auch eine Verletzung des Teil 1 des Artikels 5 der Konvention.
Eine methodische (auf vorgerichtlichen und gerichtlichen Ebenen) Nichteröffnung der Strafverfahren gegen die Mitarbeiter der Polizei zeigt klar das Fehlen von gerechten Gerichtsbarkeit (Teil 1, Artikel 6). Genau dasselbe zeigt auch das Fehlen der Mittel der effektiven Rechtsverteidigung (Artikel 13).
Das Verfahren nennt sich "Korobov und andere gegen Estland". Nach der Regeln des EGMs muss zuerst eine Entscheidung stattfinden, ob die Klage angenommen wird und erst danach wird die eigentliche Entscheidung gefällt. Laut Statistik werden 95% der Klagen nicht angenommen. Am 14. September 2010 hat das EGM über die teilweise Annahme der Klagen im Verfahren "Korobov und andere gegen Estland". Und, wie es uns scheint, haben diese Klagen sehr gute Chancen, stattgegeben zu werden.
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