Samstag, Juli 11, 2009

Anno 1989

Es ist sauere Gurkenzeit in Estland, die Wirtschaftskrise ist durchgekaut und schmeckt immer noch nicht, deswegen heute ein kleiner Blick in nicht so ferne Vergangenheit, genauergesagt 20 Jahre zurück. Auf www.baltija.ee wurden einige Zahlen aus dem Almanach "Vokswirtschaft in UdSSR in 1989" veröffentlicht, die ich hier wiedergeben möchte. Natürlich bin ich mir bewusst, dass trotz Perestroika und Glasnost die Zahlen mit Vorsicht zu geniessen sind und ich möchte auch nicht den Eindruck erwecken, dass ich dieser Zeit nachtrauere, aber zumindest werden einige Legenden über diese Zeit widerlegt, die von Leuten erzählt werden, die während dieser Periode in Estland gar nicht gelebt haben alá "man konnte sich mit dem Arzt nicht auf Estnisch unterhalten" © by Ilves, "die estnische Sprache war am Sterben", "die Esten haben im eigenen Land nichts zu sagen gehabt". Zum Vergleich zu der heutigen Situation füge ich in Klammern die Zahlen aus World Factbook an. Da ich nicht alle Daten für 2009 gefunden habe, bitte ich die Leser mir Ergänzungen oder Korrekturen zu schicken. Nun fangen wir an:

Bevölkerungsanzahl1: 1 573 000 Personen (1 299 371 Personen)
Anzahl der Männer 735 000 Personen (593 050 Personen)
Anzahl der Frauen 838 000 Personen (706 321 Personen)
Bevölkerung von Tallinn 505 000 Personen (403 505 Personen)
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Laut Volkszählung 1989 haben 1,27 Mio Leute mit der estnischen Nationalität in UdSSR gelebt.
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Anzahl der Familien in ESSR 427 000
Mittlere Mitgliederanzahl in einer Familie 3,1 Personen
Anzahl der Geborenen pro 1000 Einwohner 15,4 Geborene (10,37 Geborenen)
Anzahl der Verstorbenen pro 1000 Einwohner 11,7 Verstorbene (13,35 Verstorbene)
Natürlicher Zuwachs pro 1000 Einwohner 3,7 Personen (-2,98 Personen, Bevölkerungsrückgand in Estland ist 2009 -0.63%, was Platz 230 von 234 Ländern bedeutet)
Anzahl der Neugeborenen, die bei der Geburt oder im ersten Lebensjahr verstorben sind gerechnet auf 1000 Neugeborenen:
14,7 Verstorbene (7.32 Verstorbene)
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Durchschnittliche Lebenserwartung bei der Geburt:

Gesamtbevölkerung 70,6 Jahre (72,82 Jahre)
Männer 65,8 Jahre (67,45 Jahre)
Frauen 75,0 Jahre (78,53 Jahre)
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Mittlere Wohnfläche pro Kopf in m²

UdSSR 16,8
Estnische SSR 25,9 (die höchste in UdSSR)
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Anzahl der Arbeiter und Angestellten 675 000 Personen (686 000 Personen)

Davon Frauen 55%
Davon mit Hochschulausbildung 127 100 Personen
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Anteil der estnischen Führungskräfte, die in der Produktionszweigen der Volkswirtschaft tätig waren: 82,2%
Anteil der Esten an der Gesamtbevölkerung 61,5% (67,9%)
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Durchschnittlicher Gehalt Arbeiter und Angestellten (kein Vergleich mit 2009 möglich, da keine Aussage über Kaufkraft)

UdSSR 240,4 Rubel
ESSR 270,1 Rubel (der höchste in ganz UdSSR)
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Durchschnittlicher Monatsgehalt der Arbeiter in Sovchosen (kein Vergleich mit 2009 möglich, da keine Aussage über Kaufkraft)

UdSSR 235,8 Rubel
ESSR 300,9 Rubel
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Durchschnittler Monatsgehalt der Bauern in Kolchosen (kein Vergleich mit 2009 möglich, da keine Aussage über Kaufkraft)

UdSSR 200,8 Rubel
ESSR 317,6 Rubel
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Anzahl der Rentner in ESSR, gesamt 378 000 Personen
Davon aufgrund des Alters 287 000 Personen
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Gerechnet auf die Gesamtbevölkerung haben folgender Prozentsatz an Bevölkerung ein Einkommen über 200 Rubel

UdSSR 21,8%
ESSR 41,4%
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Durchschnittliche Anlage auf dem Sparbuch
UdSSR 1624 Rubel
ESSR 2039 Rubel
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Umsatz des staatlichen und privaten Handels pro Person
UdSSR 1406 Rubel
ESSR 2164 Rubel
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Verkauf von alkoholischen Getraenken pro Person im reinen Alkohol
UdSSR 4,4 Liter
ESSR 6,8 Liter
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In der Periode vom 1975-1989 wurden in der ESSR 104 Gesamtschulen gebaut

1989 wurden in ESSR 2070 Bücher und Broschüren verlegt mit der Gesamtauflage von 18,3 Mio Stück, davon in estnischen Sprache 1316 Bücher mit der Gesamtauflage von 13,3 Mio.

1989 wurden in Estland 161 Zeitschriften und andere Periodikas herausgegeben
Davon in estnischen Sprache 116, in Gesamtauflage von 32,5 Mio

1989 wurden in Estland 111 Zeitungen herausgeben, davon 75 in estnischen Sprache mit der Gesamtauflage 284 Mio.
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Es wurden in Estland produziert:
Elektrische Energie 1989 17,6 Mlrd. Kilowatt/Stunden (12.16 Mlrd Kilowatt/Stunden)
Stahl 11,1 Tausend Tonnen
Sägeholz (1986) 708 000 m³
Papier 92 000 Tonnen
Zement 1 129 000 Tonnen

Konsumwaren

Stoffe 235 Mio m²
Bekleidung 23,6 Mio Teile
Socken und Strümpfe 17,0 Mio Paar
Schuhe 7,1 Mio Paar
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Folgende Fläche wurde 1989 für Getreideanbau in Estland benutzt: 926 Tausend ha
Insgesamt wurden 1989 in ESSR 1 000 000 Tonnen an Getreide geerntet
Pro ha war der Ertrag 24,4 Zentner
Es wurden 864 Tausend Tonnen Kartofel geerntet
Es wuden 144 Tausend Tonnen Gemüse geerntet

1989 gab es in Estland 800 000 Einheiten Vieh, davon 300 000 Kühe
Zum 1. Januar 1989 gab es 1 100 000 Schweine
Schafe und Ziegen: 100 000
Vögel: 6 900 000
Pferde: 9 000
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1989 wurden in Estland erzeugt:

Fleisch 229 000 Tonnen
Milch 1 277 000 Tonnen
Eier 600 Mio Stück
Wolle 200 000 Tonnen
Tierisches Öl 187 000 Tonnen
Konserven 355 Millionen Stück
Eine Kuh hat 4198 kg Milch erzeugt
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1989 wurden 7,2 Tausend ha Wald neu bepflanzt.
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Im Blog von Stalnuhhin wurden folgende Entwicklung der estnischen Landwirtschaft aufgezeigt:


Anzahl der Farmen

Anzahl der Farmen mit Nutztieren

2001

55 748

32 362

2003

36 859

22 776

2005

27 747

18 417

2007

23 336

13 793




Vieh (in Klammern Melkkühe)

Schweine

Schafe

1987

800 000 (300 000)

1 100 000

100 000

2001

280 237 (127 969)

328 920

43 775

2003

274 211 (119 805)

356 899

46 892

2005

261 226 (115 230)

355 242

65 592

2007

253 230 (107 844)

369 735

83 179




Anzahl der Tätigen in der Landwirtschaft

2001

140 643

2003

107 953

2005

90 849

2007

73 343



Als ich diese Zahlen mir durchgeschaut habe, fielen mir zwei Gedanken ein:

- Der Traum eins der 5 reichsten Länder in der EU zu sein, stammt noch aus der Sowjetzeit, als Estland durchaus eins der 5 reichsten Republiken der Sowjetunion war
- R.I.P estnische Landwirtschaft

Mittwoch, Juni 10, 2009

Wer ist Indrek Tarand?

Die Wahlen ins Europäische Parlament endeten mit einen dicken Überraschung. Den zweiten Platz nach Zentristen erreichte ein unabhängiger Kandidat Indrek Tarand. Sein Vorsprung war so hoch, dass er ausreichend Stimmen für zwei Sitze im Europaparlament hatte. Zugegeben, bisher war mir der Kandidat komplett unbekannt, das einzige was ich über ihn während des Wahlkampfes gelesen habe, war ein Streit während der TV-Übertragung der Debatten zwischen den unabhängigen Kandidaten, als er sich strikt weigerte neben Juri Zhuravljev Platz zu nehmen, weil er ein Teilnehmer der Bronzenen Nacht Krawalle war. Also stellte er die Tisch-Schilder um.

Nachdem auch die anderen Blogs herzlich wenig (1,2,3) zu berichten hatten und Wikipedia auch nur einige biografische Details enthält, habe ich mich in Archiven von rus.delfi.ee umgeschaut, was ich über Tarand finden kann. Dabei sind einige Details rausgekommen, die andere Quellen verschweigen. Nichts liegt mir ferner als schmutzige Wäsche zu waschen, aber vielleicht zeigen gerade diese Details, warum er gewählt wurde.

Die Suche gestaltete sich nicht einfach, weil es mindestens drei Tarands gibt, die im Licht der Öffentlichkeit stehen, Andres Tarand (Vater von Indrek) ist ehemaliger Ministerpräsident (1994-1995) und derzeit noch Mitglied des Europäischen Parlaments. Ausserdem gibt es noch Kaarel Tarand (Bruder von Indrek), der vielzitierte Hauptredaktor der Zeitung Sirp. Indrek begann seine politische Karriere 1994 als Staatskanzler im Aussenministerium. Eines seinen Ziele war der Ausschuss Russlands aus dem G8 Verband. 2002 beschuldigte ihn seine Chefin Kristiina Ojuland, dass er im angetrunkenen Zustand sie als vene (russische) [zensiertes Wort] beschimpft hatte und sie tätlich angegriffen hat. Ausserdem war vom Autofahren im betrunkenen Zustand die Rede. Das führte zu fristlosen Kündigung. Pikanterweise sind Ojuland und Tarand jetzt Kollegen im Europ'ischen Parlament und werden vermutlich viel Zeit im selben Flugzeug verbringen. Die Kündigung hat gewitzten Tarand nicht erschüttert, er wurde in der Personalabteilung der estnischen Zentralbank angestellt und machte als Showmaster beim Fernsehen solche Karriere, dass er irgendwann vor die Wahl gestellt wurde, Bank oder TV. Er hat sich für TV entschieden, allerdings wurde er 2005 Direktor des Laidoner Museums, das dem Verteidigungsministerium unterstellt ist. Da passierte schon der nächste Skandal. Wieder angetrunken erschien Tarand zu einem Fussball-Spiel mit einem T-Shirt bekleidet, wo auf der Vorderseite die Aufschrift "Kommunisten in den Ofen" und auf der Rückseite ein Grossteil der politischen Elite Estlands (Saavisaar, Ansip, Rüütel, Rejljan) aufgezählt wurde. Dies war der offizielle Grund für den Rücktritt des damaligen Verteidigungsministers Jõeruuts. Ab 2007 war Tarand Berater des georgischen Präsidents Saakashwilli.

Bei einem Interview zu seiner Aufstellung als unabhängiger Kandidat (est, russ) sagte er über seine politische Ausrichtung, dass er in einigen Fragen ohne Zweifel konservativ wäre, in anderen recht liberal, die Ideen der Sozialdemokratie sind ihm nicht fremd und er habe Achtung vor den Grünen. Der Wunsch in die Politik zu gehen erklärt er damit, dass es ihm nicht gefalle, wie die jetzigen Parteien sich mit der Politik beschäftigen würden.

Mehr ist über sein Programm nicht zu erfahren, ausser, dass er 40000 Kronen für den Wahlkampf verbraucht habe.

Aus allem obengeschriebenen kann man sagen, dass Tarand, ob bewusst oder nicht, Regeln befolgt ist, die nahezu von jedem Populisten angewendet werden, um Erfolg zu haben:

- Sei beliebig, lasse Dich nicht festnageln und sei wählbar für die Leute, die auf die Frage, was für Musik sie hören: "Alles was im Radio kommt" antworten, also common sense

- Besetze ein Thema, für das man maximale Zustimmung an den Stammtischen bekommt, in dem Fall strikte Ablehnung von Kommunismus, Russland und estländischen Russen

- Sei präsent in den Medien, gutes Aussehen, flotte Sprüche und persönliche Ausstrahlung schaden auch nicht

- Schimpfe auf die etablierten, verfetteten, korrupten und geldgeilen Parteien, die keine Ahnung haben und den kleinen Mann nicht verstehen

- Sorge für Skandale

- Sage immer Deine Meinung, auch Deinem Chef gegenüber ohne Rücksicht, entweder gehst Du oder Dein Chef, aber die Aufmerksamkeit ist Dir gewiss und damit verkörperst Du den Traum jeren, die schon immer mal dem Chef die Meinung sagen wollten

- Sei ein Lebemann, in dem Land mit dem höchsten Alkoholkonsum, vielen schnellen Autos und Verkehrstoten ist ein bisschen Trunkenheit am Steuer doch nichts Schlimmes

- Einflussreiche Verwandtschaft ist auch nicht zu verachten

Mit diesem Rezept ist Tarand zwar nicht in die Liga von Möllemann, Haider oder Wilders angekommen, aber wenn ich ihn mit jemandem aus Deutschland vergleichen würde, fällt mir die "schöne Landrätin" Gabriele Pauli ein. Auf ähnliche Art und Weise ist sie bekannt geworden und wäre Franken unabhängig, wäre sie auch im Europaparlament. Ich schätze von Indrek Tarand werden wir von einiges zu hören bekommen, wenn auch nicht unbedingt was positives.

Wer hat Tarand denn gewählt? Ich habe noch keine Wahlanalyse mit handfesten Zahlen gesehen, wer die Gruppe war, die Tarand ihre Stimme gegeben hat, deswegen bin ich hier auf Spekulationen angewiesen. Es handelte sich um eine Protestwahl und die Tarand-Wähler würden unter anderen Umständen ihre Stimmen Reformpartei oder der Partei von Mart Laar geben, doch momentan sind sie nur frustriert. Die Regierungskrise hat keinerlei Änderung in die Politik gebracht, die Parteiführungen sind verbraucht, Savisaar genauso wenig wählbar, wie Kohl nach 16 Jahren Regierungszeit. Tarand spielte auf dem Gefühlsklavier der Wähler genau die richtigen Noten, er ist nicht dogmatisch, sympatisch, nicht auf den Kopf gefallen, erreichte mit wenig Geld sehr viele Köpfe und Herzen, ist nicht parteien-verbunden und hat den Aussenseiterbonus. Das hat viele überzeugt. Mit dem Drive den der Mann jetzt hat, ist er ein Kandidat auf den Posten des Präsidenten der Estnischen Republik.

Dienstag, Juni 02, 2009

Droht Estland Staatsbankrott?

noch vor 2 Wochen hätte ich nicht für möglich gehalten, dass Estland Staatsbankrott drohen könnte, doch nachdem der estnische Ministerpräsident Andrus Ansip in einer Fernsehansprache den Staatsbankrott kategorisch ausgeschlossen hat, bin ich mir nicht mehr so sicher. Denn haben sich bisher so ziemlich alle wirtschaft-betreffende Prognosen von Ansip ins Gegenteil verkehrt (Euro-Einführung 2007, Zugehörigkeit zu 5 reichsten Ländern Europas, Unwichtigkeit des Transits, Leugnen der Krise). Deswegen beschäftigt sich dieser Artikel mit dem Wesen eines Staatsbankrotts und dessen Folgen. Ich bin kein Wirtschaftswissenschaftler, deswegen können einige Schlussfolgerungen und Erklärungen falsch sein, deswegen bitte ich die Leser ihre Kritik in den Kommentaren zu schreiben.

Was genau ist ein Staatsbankrott? Grob gesagt gibt es drei Aufgabenfelder, wo der Staat unbedingt seinen Verpflichtungen nachgehen muss, tut er das nicht, kann man von einem Staatsbankrott sprechen. Die ersten zwei Verpflichtungen ist die Auszahlung von Staatsbediensteten, die die staatlichen Aufgaben übernehmen und ausüben und die Versorgung von Rentnern und sozial Schwachen. Natürlich lassen sich viele von den Aufgaben privatisieren, doch im Ernstfall muss der Staat die privaten Firmen bezahlen, damit sie die Leistung erbringen und falls die private Renten- oder Arbeitslosenversicherung zahlungsunfähig sind, muss der Staat einspringen, um soziale Unruhen oder womöglich Hungerkatastrophen abzuwenden. Das dritte Aufgabenfeld ist die Bezahlung der Auslandsschulden, die oft in ausländischen Währung gewährt werden, so dass in diesem Fall der Staat kein Einfluss auf die Inflation dieser Währung hat. Am Beispiel von Argentinien oder Island hat man gesehen, was passiert, wenn ein Staat kein Geld zur Begleichung der Auslandsschulden hat, die Gläubiger verlangen die Auszahlung und werden oft von den Regierungen ihres Landes unterstützt, was zu diplomatischen Verwerfungen führt.

Wie ist das momentane Szenario in Estland? Nach dem Bruch der Regierungskoalition mit den Sozialdemokraten verriet der designierte Finanzminister von der Volksunionpartei Aivar Sõerd den aktuellen Stand der Staatsfinanzen in Estland. Momentan verbrennt Estland eine-zwei Milliarde Kronen pro Monat mehr, als es einnimmt. Die fehlende Summe wird aus dem Stabilitätsfond entnommen, der in fetten Jahren vorausschauend angelegt wurde. Zu Beginn der Krise hatte der Fond 23 Mlrd. Kronen, inzwischen ist der Stand bei 10 Mlrd. Kronen. Wenn das Geld in diesem Tempo verbraucht wird, hätte Estland zum Jahresende ein Budgetdefizit von 15 Mldr. Kronen. Es wurden bereits 1,55 Mlrd Kronen aus der Pensionskasse entnommen (was ungefähr einem Drittel der Gesamtsumme entspricht), um die Löcher zu stopfen, was Schlimmes für die Zukunft der Rentenkasse erahnen lässt. Die Arbeitslosenkasse ist schon überschuldet, dabei wird befürchtet, dass das Schlimmste noch bevorsteht, wenn zum 1. Juni ein neuer Arbeitsschutzgesetz verabschiedet wird, der die Entlassungen erleichtert. Momentan ist die Auslandsverschuldung recht gering, doch hat Estland gerade ein Kredit in Höhe von 11 Mlrd. Kronen von der Europäischen Bank für Investitionen bekommen. Wie der Name der Bank besagt, sollte das Geld eigentlich für Investitionen in die Zukunft verwendet werden, doch lässt die verzweifelte Lage im Haushalt ahnen, für was dieses Geld ausgegeben wird.

Was wird denn passieren, falls die Budgetkürzungen und die Kredite nicht ausreichen und der Staat tatsächlich seinen Verpflichtungen nicht nachkommen wird was im ungünstigsten Fall Ende des Jahres der Fall sein dürfte? Um die Staatsbedienstete und sozial Schwachen auszahlen zu können, kann der Staat die Notenpresse anwerfen, was zu einer Inflation und letztlich zum Abschied vom festen Wechselkurs zwischen Euro und Krone führen dürfte (so geschehen in Argentinien, als der feste Wechselkurs zwischen US-Dollar und Peso aufgehoben wurde). Als Reaktion wird die Bevölkerung versuchen die Ersparnisse zu retten und in andere Währungen tauschen, was aber nicht möglich ist, da der Staat keine Reserven in Fremdwährungen mehr hat. Das dürfte den Wertverfall der Krone rasant beschleunigen. Die Entwertung passiert nicht kontrolliert wie in den Nachbarländern Schweden und Russland, sondern rasant und weitaus schmerzvoller. Die Kreditlast der in fremden Währung aufgenommenen Privatkredite steigt an, so dass sie nicht mehr bedient werden können. Um die Staatsverschuldung abzahlen zu können, werden verbliebene Staatsbetriebe privatisiert und Staatsbeteiligungen verkauft, damit verliert der Staat die Kontrolle über die Leistungen und Preise der oft monopolistischen Betriebe.

Natürlich kommt wieder die unvermeidliche Frage: "Was tun?" Es hat schon nicht an vielen Ratschlägen gemangelt, die aus allen politischen und ideologischen Lagern kamen, deswegen präsentiere ich auch meine Vorschläge. Als erstes sollte man unbeschönigt die derzeitige Lage anschauen, um festzustellen zu was estnische Wirtschaft überhaupt noch in der Lage ist. Zuallererst betrachten wir die Lage auf dem Arbeitsmarkt. Welche Industrie passt zu estnischen Arbeitskräften? Ganz sicher keine Schwerindustrie, die nach vielen Arbeitskräften verlangt und kapitalintensiv ist, estnischer Arbeitsmarkt braucht sofort eine Belebung, es gibt wenig Kapital und sehr gross ist der Markt nicht. Eine wissens-basierte Industrie, wie sie von estnischen Politikern erträumt wird, wird Estland auch nur am Rande haben, es fehlen gut ausgebildete Fachkräfte aus dem Inland, viele gehen ins Ausland. Es gibt auch kaum Anreize für ausländische Facharbeitskräfte nach Estland einzuwandern, weder ökonomischer Natur, noch werden sie von der Bevölkerung erwartet und akzeptiert. Es bleiben drei Bereiche übrig, wo Estland noch mithalten kann, das wären Tourismus, Transit und Landwirtschaft. Mit Wodka und Zigarettentourismus ist Estland in den 90ern Jahren berühmt-berüchtigt geworden, mit demselben Wodka und Zigaretten wird sich Estland auch dieses Mal retten müssen. Natürlich träumt jedes Land von nachhaltigem Tourismus und verantwortungsbewussten Bildungsreisenden, doch der schnelle Euro ist damit nicht verdient. Deswegen muss Estland wieder für die skandinavische Entsprechung des deutschen Ballermann-Besuchers attraktiv werden. Also runter mit Alkohol- und Zigarettenakzisen, Abschaffung des Verbots des nächtlichen Alkoholverkaufs, günstige Übernachtungs- und Einkaufsmöglichkeiten (die nur mit der Entwertung der Währung möglich sind). Oder wie wäre es mit Legalisierung von leichten Drogen alá Holland? Tallinn als Amsterdam des Nordens? Sicher waren viele Esten froh, als der Proll-Tourismus abgenommen hat und die Briten ihre Junggesellenfeiern nicht mehr auf dem Rathausplatz gefeiert haben, doch haben diese Leute viel Fremdwährung nach Estland gebracht und gelassen. Was Transit angeht, Estland hat immer noch eine gute Verkehrsinfrastruktur, wie deutet sich an, dass die russischen Häfen nicht rechtzeitig fertig werden, so dass obwohl wegen der Wirtschaftskrise weniger Waren transportiert werden müssen, immer noch Bedarf besteht und mit dem Anziehen der Erdölpreise Russland bald wieder viel zu transportieren haben wird. Was dringend modernisiert werden müssen, sind die Eisenbahngleise und die Verkehrsanbindung an Russland. Deswegen sollte die Eisenbahn an einen verantwortungsvollen! Investor verkauft werden (hat eigentlich schon die DB AG angefragt?), der die Infrastruktur modernisiert. Und natürlich müssen die politischen Beziehungen mit Russland wieder aufgetaut werden, damit die faktische Blockade aufhört. Was die Landwirtschaft angeht, sollten wieder wenige, aber schlagkräftige Gemeinschaften entstehen, die zu konkurrenzfähigen Preisen zumindest den Binnenmarkt mit Nahrung versorgen können, was bei der Entwertung der Krone wichtig wird, damit wenigstens die Nahrungsmittel nicht teurer werden. Zusätzlich könnte mit der Landwirtschaft auch die Nutzung der alternative Energien entwickelt werden, was oft zusammenhängt (Biodiesel, bzw. Nutzung der Abfälle aus der Landwirtschaft für Strom- und/oder Wärmeerzeugung).

Ob diese Massnahmen ausreichen werden? Diese Frage kann ich ebensowenig beantworten wie alle anderen, die alternative Konzepte entwickeln. Eines ist jedoch sicher, falls es nicht schleunigst zu Entwicklung und Umsetzung von Alternativplänen kommt und der Übergang zu Euro als Währung als die einzige Rettungsmassnahme angepriesen wird (wobei immer noch nicht klar ist, vor was rettet der Euro eigentlich?), ist ein Staatsbankrott ein durchaus realistisches Szenario

Montag, Juni 01, 2009

Gesucht

es wird eine deutsch-sprachige/r Fremdenführer/in für Estland gesucht. Es soll ein mehrtägiges Programm für den Besuch einer deutsch-sprachigen Gruppe ausgearbeitet werden. Bei Interesse bitte eine Mail an anton.klotz@believe.de schreiben.

Vielen Dank,

Anton

Sonntag, Mai 24, 2009

Russisch-sprachige Massenmedien in Estland

Nachdem ich vor kurzem ein Artikel über die Situation der russisch-sprachigen Presse übersetzt habe, komme ich nicht umhin einen neuen Artikel darüber zu schreiben, weil die Situation sich wieder verschlimmert hat.

Kaum hat sich die Aufregung über die Schliessung von "Vesti Dnja" gelegt, wurde bekannt, dass die älteste tägliche russisch-sprachige Zeitung "Molodjezh Estnonii" zumindest bis zum 1. Juni nicht mehr erscheinen wird. Und es gibt einige Vermutungen, dass falls keine Investoren gefunden werden, auch dieser Termin verstreichen wird. Damit ist die einzige russisch-sprachige, überregionale tägliche Zeitung in Estland die russische Version von Postimees, die größtenteils aus den Übersetzungen der estnisch-sprachigen Nachrichten besteht. Postimees zeigt grosse Affinität zu der Reformpartei, so dass viele Artikel wenn auch nicht explizit Russland-feindlich sind, so ist die Tendenz zu ständigen kleinen Ausfällen gegenüber Russland offensichtlich, was einen Grossteil der russisch-sprachigen Leser über Zeit vergraulen dürfte.

Es stellen sich zwei Fragen: Wie wichtig ist eine unabhängige Tageszeitung und welche Alternativen gibt es? Die erste Frage ist nicht nur für die russisch-sprachige Gemeinde in Estland aktuell, auch weltweit befindet sich der Zeitungsmarkt in der Krise und viele Zeitungen stellen ihr Erscheinen ein, weil ihnen durch die Wirtschaftskrise, aber auch durch Internet die finanzielle Grundlage entzogen wird. Viele Abonnenten kündigen das Abo mit der Begründung, dass Internet und Nachrichtensender viel aktuellere Informationen haben und die Nachbereitung der Informationen, der Hintergrund der Geschehnisse, auch in einem Wochenblatt erscheinen können, während den Arbeitstagen ist die Lesezeit eher begrenzt, dafür kann man am Wochenende die Geschehnisse der Woche gut aufbereitet und recherchiert nachlesen. Dieses Argument gilt natürlich, wenn man die Zeitung als Einwegkanal betrachtet, von der Redaktion zum Leser. Allerdings hat die Zeitung auch oft einen Rückkanal, nämlich der Leser kann einen Leserbrief an die Zeitung schreiben und auf ein Misstand hinweisen, den die Redaktion dann aufgreifen kann, wenn sie es für berichtenswert hält. Eine Zeitung hat zumindest noch in Europa einen höheren Stellenwert als ein Blogger, oder ein unabhängiges Nachrichtenportal, das über denselben Misstand schreibt, so dass die öffentliche Kritik und eine Reaktion darauf mit einem Zeitungsartikel eher zu erzeugen ist, als mit einem in Internet veröffentlichten Artikel. In USA ändert sich dieser Zustand, Blogger werden immer mächtiger, doch Europa hinkt hinterher. Durch diesen Rückkanal, als auch allgemeine Stimmungen der Zielgruppe, die eine Zeitung aufgreifen muss, damit sie gelesen wird, kann auch ein Aussenstehender die Meinungen der Zielgruppe nachvollziehen. Im Fall von übersetztem Postimees fehlt dieser Rückkanal, so dass den estnischen Politikern, Demoskopen, Politikwissenschaftlern eine wichtige Grundlage für die Beobachtung der Stimmung in der russisch-sprachigen Bevölkerung fehlen wird.

Was sind die Alternativen? Es gibt den PBK (Pervij Baltijskij Kanal), der hauptsächlich die Inhalte des "Pervij Kanal" des russländischen Fernsehens übernimmt. Es gibt "Aktualnaja Kamera" auf ETV2, wo in 15 Minuten in russischen Sprache die aktuellen Nachrichten aus Estland gezeigt werden. Und es gibt "Sud Prisjazhnyh" ("Geschworenengericht") eine politische Talkshow, wo viele aktuelle Themen, die die russisch-sprachige Bevölkerung unmittelbar betreffen, von estnischen, als auch nichtestnischen Gästen besprochen werden. Die Zuschauer können abstimmen, so dass ein gewisser Rückkanal besteht, um die Stimmung der Bevölkerung grob zu testen. Es gibt Radio 4, einen staatlichen Radiokanal in russischen Sprache, der grösstenteils aus Nachrichten besteht.

Ein Wochenblatt in russischen Sprache, der überregional vertrieben wird, ist Den za Dnjem. Die Zeitung gehört Postimees, so dass die politische Richtung ähnlich ist, doch ist der Anteil der Artikel, die von russisch-sprachigen Redakteuren geschrieben wurden höher, als in Postimees. Überregional vertrieben wird die wöchentlich erscheinende "MK-Estonija". MK steht für Moskovskij Komsomoletz, eine Zeitung in Russland, so dass die Hauptredaktion in Russland ansässig ist und die estnische Redaktion Inhalte beisteuert. Alle anderen Wochenblätter sind regional. "Stoliza" ist eine kostenlose Zeitung, die in Tallinn vertrieben wird und teils aus kommunalen Nachrichten, teils aus Werbung für Zentristen-Partei besteht. Narvskaja Gazeta erscheint 2x wöchentlich und ist eher dem Regierungslager zuzurechnen. Fünf Mal die Woche erscheint die Zeitung "Severnoje Poberezhje" in der Region Ida-Virumaa. Walk ist ein wöchentlich erscheinendes gemeinsames estnisch-lettisches Projekt für Süd-Estland und Nord-Lettland. Peipsirannik ist monatlich erscheinende Zeitung für die Bewohner der Küste des Peipus-Sees.

Eine Zeitschrift, die einen besonderen Status einnimmt, ist "Baltijskij Mir". Diese einmal in zwei Monaten erscheinende Zeitschrift wird zu 100% von der russländischen Regierungskomission für Compatrioten im Ausland finanziert und kostenlos von russländischen Botschaften und Organisationen der Compatrioten vertrieben. Die Zeitschrift ist sehr professionell gemacht und beleuchtet sehr ausführlich die Geschehnisse in baltischen Staaten natürlich aus streng russland-freundlichen Sicht. Ich kann nicht sagen, wie populär die Zeitschrift wirklich ist, aber sie könnte durchaus meinungsbildend bei der russisch-sprachigen Intelligenz werden, die Russland nicht ablehnend gegenüber steht.

Wenn man die russisch-sprachigen Internet-Portale aufzählen möchte, die sich mit Estland beschäftigen, kommt man natürlich an Delfi nicht vorbei. Berühmt-berüchtigt ist Delfi nicht wegen den Nachrichten, sondern hauptsächlich wegen den Kommentatoren, wegen denen es schon öfters Versuche gab einen Anonymisierungsverbot bei Kommentaren im Internet zu beschliessen, um die schlimmsten Auswüchse an Hass und Beschimpfungen zu unterbinden, bislang vergeblich. Bei vielen anderen Internet-Portalen ist es öfters nicht klar, wer dahintersteht und wie ernst das Portal zu nehmen ist, ob es Ein-Mann-Unternehmen ist, das jederzeit die Arbeit einstellen kann, oder ob eine gut finanzierte Gruppe ein neues Konzept verfolgt. Recht neu ist www.baltija.eu, wo viele Estland-kritische Nachrichten erscheinen, weswegen die Seite schon öfters (nach eigenen Angaben zumindest) ein Ziel von Hacker-Angriffen wurde. Unpopulär, aber wegen professionellen Aufmachung erwähnenswert ist Vene Portal, den Artikeln zufolge eher ein Projekt der Regierung. www.slavia.ee wird vom Nord-Ost Zentrum der Russischen Kultur betrieben, www.dozor.ee, wie der Name schon sagt von Aktivisten von Notchnoj Dozor.

Meine wichtigste Informationsquelle ist allerdings das social network Livejournal, der in Russland sehr populär ist. Es gibt viele Communities, wo die Mitglieder alle Nachrichten zum Thema sammeln und als ein Artikel posten, so dass man nicht alle Nachrichtenseiten einzeln durchschauen muss.

Als Fazit kann man sagen, dass für eine umfassende Information über das Leben der russisch-sprachigen Gemeinde das Internet herhalten muss, da die sonstigen Massenmedien entweder nur regional erscheinen, oder sehr parteibezogen sind, so dass keine unabhängige Meinung gebildet werden kann. Trotz des Spitznamens E-stonia, ist der Anteil der Leute in der russisch-sprachigen Bevölkerung, die mit den neuen Medien umgehen können, noch recht gering, besonders in der älteren Schicht, so dass mit dem Verschwinden der täglich erscheinenden Zeitungen, sie von unabhängigen Informationen abgeschnitten sind. Der Rückkanal im Internet funktioniert nur bedingt, wegen der grossen Zersplitterung der Portale und ihrer geringeren Macht im Vergleich zu einer Zeitungsredaktion. Wie ein Delfi-Kommentator es ausgedrückt hat, wird die Regierung die Meinung der russisch-sprachigen Bevölkerung entweder aus Berichten des Innenministeriums (sprich KAPO), aus partei-finanzierten Zeitungen oder aus privaten Blogs erfahren.

Sonntag, Mai 17, 2009

Der goldene Soldat

nachfolgendes ist eine Übersetzung des Artikels aus Eesti Päevaleht.

Hiermit bezeuge ich, dass ich, Kristina Norman, eine Künstlerin bin und nur in poetischen Zielen handle. Ich vertrete nicht Interessen von keiner politischen Organisation und habe mit meiner künstlerischen Tätigkeit kein Gesetz der Estnischen Republik verbrochen.

Das Ziel meiner Tätigkeit ist die Annäherung zwei der größten Gemeinden Estlands, ein Aufruf zum Dialog. Das, was ich als Künstlerin mache, ist vom Glauben inspiriert, dass alle Einwohner Estlands im Einklang mit der Verfassung ihre nationale und kulturelle Identität ausdrücken dürfen. Als Künstlerin benutze ich das Recht zur Selbstentfaltung, die in der demokratischen Ordnung des Staates garantiert ist (Artikel 45 der Verfassung der Estnischen Republik: jeder hat das Recht seine Ideen, Meinungen, Überzeugungen und andere Information in Wörtern, publizistisch, visualisiert oder auf andere Art und Weise frei verbreiten).

Mein Projekt des estnischen Pavillons auf der 53-sten Biennale in Venedig "After-War" ist auf die Kultur der russisch-sprachigen Bevölkerung Estland und verschiedene kulturelle Bräuche orientiert. Auf der Ausstellung ist es geplant eine ganze Umgebung bestehend aus Video, Foto und Objekten herzustellen, die sich auf fünf räumliche Situationen bezieht. Zum Beispiel kann man eine Dokumentation sehen, wie das Verhaltensmodel in der Nähe des Monuments des Bronzenen Soldaten sich durch die Zeit ändert - von der Eröffnung des Monuments im Jahr 1947, bis zum heutigen Tag, wenn das Denkmal eine andere geografische Lage hat. Der Hauptakzent liegt darauf, dass beim Machtwechsel, die Rituale, die früher offiziell bestimmt wurden, durch ein spontanes körperliches Gedächtnis ausgeübt werden, sie wurden zu Ritualen durch Trägheitsmoment. Auch weise ich auf die Mehrdeutigkeit der Figur des Bronzenen Soldaten hin - darauf, dass dieses Monument verschiedene Bedeutung für Gemeinden mit verschiedenem Gedächtnis hat.

Position des Künstlers

Meiner nationalen Herkunft folgend, positioniere ich mich zwischen die beide Gemeinden. Aus diesem Standpunkt heraus handle ich wie eine Künstlerin und untersuche die jüngste Vergangenheit der estnischen Gesellschaft von der Position einen unabhängigen Anthropologen aus. Eine besondere Aufmerksamkeit schenke ich der Problematik des Heiligen und des Profanen, was in der herrschenden gesellschaftlichen und politischen Situation mehr als gerechtfertigt ist. Denn man muss über zwei verschiedene kulturelle Modelle sprechen, denen unterschiedliche Werte eigen sind und ihre Interpretation. Dies beinhaltet auch das Verständnis dessen, was heilig ist. Auf der Grundlage der durchgeführten Untersuchung kann ich behaupten, dass von der Position vieler unseren Compatrioten ausgehend, war die Relokation des Bronzenen Soldaten von Tõnismägi vor zwei Jahren eine Schändung des Heiligtums, d.h. Profanierung. Dabei muss ich unterstreichen, dass es nicht der Fakt der Relokation selbst war, sondern die Art, wie sie gemacht wurde.

Jetzt kann man auf Tõnismägi sehen, dass die Leute, den Ort zu resakralisieren versuchen, der durch die Regierung profaniert wurde. Sie versammeln sich auf diesem wichtigen Platz und tun die gewohnten Dinge: bringen Blumen, Kerzen, machen zusammen Fotos. Festigen ihre Einigkeit. Zu meiner Position zurückkehrend, erkläre ich den Namen der Exposition "After-War".

Sie zeigt auf die Situation, wenn der Krieg vorbei ist, doch der Konflikt weitergeht. In dem Zustand der Polarisierung der Gesellschaft wird eine eindeutige Wahl der Seite des Konfliktes verlangt. Ich verweigere mich dieser Wahl. Erstens kann ich das dank meiner Herkunft nicht tun: ich wurde in einer zweisprachigen Familie geboren. Zweitens denke ich nicht, dass ich oder jemand anders diese Wahl treffen sollte. Es ist jetzt kein Krieg, so das jeder Gefolgschaft wählen muss. Ich glaube, dass man in der Estnischen Republik leben kann, ohne eine Seite wählen zu müssen.

Poetischer Auftritt

Das was am 9.Mai geschah, war mein poetischer Auftritt: Ich habe das Unsichtbare sichtbar gemacht, habe zur allgemeinen Ansicht das herausgetragen, was im Schatten gewesen war. Habe visualisiert (wiederum, aufgrund meiner langjährigen Beobachtungen) die Bedeutung dieser Leere, die sich auf Tõnismägi nach der Relokation des Monuments gebildet hat, das jahrelang an diesen Platz gehörte.

Zum Objekt der Visualisierung wurde eine goldene Skulptur, die dem Bronzenen Soldaten ähnelt. Die Zeit und den Ort der Aktion habe ich in Übereinstimmung mit meiner Position als Künstlerin gewählt. Die ganze Aktion ist ein Teil meiner künstlerischen Exposition in Venedig, die man nur nach der Eröffnung der Ausstellung bewerten kann. Die goldene Figur, die ich nach Tõnismägi mitgebracht habe, ist eine im Inneren leere Skulptur aus leichtem Material, die mit Goldstaub bedeckt ist. Mein Ziel war, sich neben der Skulptur zu stellen und Gedanken mit Leuten auszutauschen, über die Deutung, die von dieser goldenen Figur vermittelt wird. Und das dazu, um den Leuten die Möglichkeit zu geben, in ihren Worten die Unterschiede der Deutungen auszudrücken: was ist der Unterschied zwischen der goldenen Skulptur und dem sich hier früher befindenden "Monumenten des Befreiers". Meine ganze Tätigkeit habe ich als eine Videodokumentation aus den Meinungen unterschiedlichen Leute über das von mir erschaffenes Kunstwerk geplant. Ausserdem wollte ich wissen, welche Verhaltensmodelle nach der Ankunft der goldenen Figur am 9.Mai angewandt werden- am Tag der Durchführung den von Russen gewohnten Rituale.

Bronzene Nacht in Miniatur

Leider konnte sich die Aktion nicht ruhig entwickeln, denn bald kam die Polizei an. Zur gegebenen Situation haben sie sich feindlich verhalten, die Skulptur wurde angerempelt und umgestossen, technokratisch wurde sie von Tõnismägi entfernt. In einer Miniatur wurde die Situation wiederholt, die im April vor 2 Jahren stattgefunden hat, als der Soldat weggeschafft wurde. Polizei hat mir nicht erklärt, auf welchen rechtlichen Grundlage sie mein Kunstwerk wegschaffen. Ich habe der Polizei vorgeschlagen, dass ich selbst die Skulptur wegfahren könnte, doch wurde mein Vorschlag nicht angenommen. Die Figur wurde weggefahren und ich wurde zur Polizei geführt, um Erklärungen zu geben.

Über die Bedeutung des Bronzenen Soldaten wurden mehrere Meinungen in verschiedenen Sprachen veröffentlicht. Dies hat die Situation nicht verbessert. Als Künstlerin habe ich beschlossen, dass über die Dinge, über die man auf normalen Sprachen nicht unterhalten kann, kann und muss man in der Sprache der Künste sprechen. Diese Sprache ist definitionsgemäß mehrdeutig und gibt mehr Möglichkeiten. Leider wurde mir nicht die Möglichkeit gegeben frei in dieser Sprache zu sprechen, mit Leuten zu reden... Es wurden vorsätzlich Hindernisse erschaffen, aber auch das ist ein Teil der Realität, die ich lerne in die Sprache der Kunst zu übersetzen.

Alle, die interessiert sind mein Projekt kennenzulernen, erwarte ich von Juni bis Oktober in Venedig. Zusätzliche Information über das Projekt und die Aktion am 9.Mai ist auf der Internet-Seite der Autorin
www.kristinanorman.com zu finden.

Dienstag, Mai 05, 2009

Rezension des Filmes Aljoscha

am 24.04 fand in Wiesbaden im Rahmen des 9. goEast-Filmfestivals (Festival des osteuropäischen Films) die erste Deutschland-Vorführung des Filmes Aljoscha vom estnischen Regisseur Meelis Muhu. Der Film lief im Wettbewerb, wurde aber nicht prämiert.

Wie der Name schon vermuten lässt, erzählt der Dokumentarfilm die Geschichte des sowjetischen Denkmals des Kriegers-Befreiers im Stadtzentrum von Tallinn, der in der russisch-sprachigen Bevölkerung liebevoll Aljoscha genannt wird. Die Handlung beginnt im Jahr 1944, als die Rote Armee nach Estland einmarschiert. Was offiziell als Befreiung von den faschistischen Unterdrückern propagiert wird, verstehen viele Esten als erneute Okkupation. Jedes Jahr steht der Denkmal des Bronzenen Soldaten im Zentrum der Feier, was durch viele Archivaufnahmen dokumentiert wird. Nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1990 werden die Feierlichkeiten zuerst eingestellt, doch im Jahr 2005 organisiert die russisch-sprachige Gemeinde wieder Siegesfeier am Denkmal. Im Jahr 2006 kommt es während der Feier zu Handgreiflichkeiten zwischen den Russen und einigen estnischen Nationalisten, als sie versuchen mit der estnischen Fahne und Protesttransparenten zum Denkmal vorzudringen. Das war der Augenblick, als sich die estnisch-nationale Bewegung formierte, die lautstark die Wegräumung des Denkmals forderte, die dann auch in der Nacht vom 26-27. April durchgeführt wurde. Die Verlegung wurde von Massenunruhen und Krawallen begleitet. Das wiederaufgerichtete Denkmal steht am Soldatenfriedhof und zieht jedes Jahr am 9.Mai Tausende von Menschen an, die den Gefallenen und Veteranen Ehre erweisen wollen.

Der Film Muhus begleitet alle diese Ereignisse im Still einer Dokumentation. Die Kamera gleitet durch die Massen, ist mittendrin im Geschehen, ganz nah an den Hauptakteuren. Es werden kaum Fragen gestellt, die Interviewte erzählen selbst ihre Sichtweise, es gibt keine Kommentare aus dem Off. Der Zuschauer soll möglichst unbeeinflusst seine Meinung bilden können. Unabhängig welche Seite am Ende des Films eingenommen wird, wird eines deutlich: der Konflikt ist lange nicht gelöst, die Fronten bleiben verhärtet und Agressionspotential auf beiden Seiten ist nach wie vor hoch.

Abgesehen von den Archivaufnahmen, wird kaum über die politische Seite des Konflikts berichtet. Mit keinem Wort wird über die Reaktion Russlands berichtet, die Rolle der politischen Elite Estlands beim Schürren des Konflikts bleibt unerwähnt, die Gefangene des D-Terminals kommen nicht zu Wort, keine Statistik über Tote, Verletzte und Festgenomme wird eingeblendet. Nur kurz kann man die Armbinde mit der Aufschrift "Notchnoj Dozor" sehen. Von einer erschöpfenden Dokumentation über das Thema Bronzene Nächte kann man deswegen nicht sprechen, die Konzentration auf das wesentliche und die Methode die Bilder für sich sprechen zu lassen ist zweifellos interessant für jemandem, der sich mit dem Konflikt bislang nicht beschäftigt hat. Jemand, der die jüngste Geschichte Estlands aufmerksam verfolgt, kennt die meisten Aufnahmen schon, wenn auch nicht unbedingt in dieser Zusammenstellung und Intensität. Wenn man bedenkt, dass die singende Revolution weitgehend in Estland weitgehend unblutig verlaufen ist, versteht man, warum die Erinnerung an die Bronzenen Nächte noch lange in Gedächtnis aller Beteiligten bleiben wird, und selbst zwei Jahre nach den Unruhen kaum ein Artikel über die russisch-sprachige Minderheit ohne Erwähnung dieser Geschehnisse auskommt.

Freitag, Mai 01, 2009

Email von Inno und Irja an K. Dornemann

It was awfully nice to meet you too! I don't know if you've following the
news lately but the day before yesterday our house in Rakvere was raided and
searched by Estonian police and The Inspection of Data Protection. They
broke in at 8 o'clock in the morning, told us to get up from bed, did not
allow us to get dressed and ordered us to go to the living room and sit
down. When i asked if i could contact my lawyer, they allowed me to call
him. He said that he could come at 2 o'clock. They refused to wait for him
and started searching.

They looked everywhere: our closet, bed, drawers. When i asked what is this
all about, they said that some people had complained that we had written
about them in our blog. When i asked who these people were, they refused to
tell us. And then they took our computers, cameras, Inno's telephone, all
the disks the could find etc, packed them up and confiscated them. All that
was left to us was my telephone and only because they could not find it - i
managed to hide it.

So this is our news :). We wanted to post all the interviews we did with you
and the other protesters but they took all of them. I think these interviews
were the reason why they raided our house and they wanted to take them
before we managed to post them.

Dienstag, April 28, 2009

Unsere tägliche Repression gib uns heute...

In den letzten paar Tagen haben repressive Organe in Estland gleich mehrere rote Linien überschritten, um Andersdenkenden verstummen zu lassen:

- Zum 2. Jahrestag der Bronzenen Nächte hat Notchnoj Dozor eine Konferenz angekündigt. Eingeladen wurden unter anderem der finnische Schriftsteller, Präsident des antifaschistischen Komitees Dr. Johan Bäckman, der vor einiger Zeit ein Estland-kritisches Buch veröffentlicht hat. Im Tallinner Hafen wurde er von den Zollbeamten fünf Stunden festgehalten und informiert, dass er in eine Blacklist eingetragen wurde und somit in Estland unerwünscht ist. Man kann zu Bäckmans Ansichten sehr geteilter Meinung sein, doch ist er weder verurteilt worden, noch wird gegen ihn ermittelt. Die Eintragung in die Blacklist erfolgt wohl auf Anweisung des Innenministers, wer darauf steht, weiss ausser dem Innenministerium niemand. Wer auf der lettischen Blacklist steht, weiss man inzwischen.

- Derselbe Schicksal ereilte fast den Mitglied des Europaparlaments Dr. Tatjana Zhdanok, als sie mit zwei Mitgliedern des lettischen Antifaschistischen Komitees die estnische Grenze passierte. Das Auto wurde von der estnischen Polizei angehalten, nur nach dem Vorzeigen des diplomatischen Passes und Aufklärung über diplomatische Immunität der Mitglieder der Europaparlaments wurde Frau Zhdanok freigelassen, ihre zwei Begleiter Eduard Gontscharov und Alexander Gamaleev wurden mit einer Eskorte nach Lettland zurückgefahren. Alle drei waren auf der Blacklist.

- Am 28. April wurde die Wohnung der zwei bekannten estnischen Blogger Inno und Irja Tähismaa (Youtube)von den Mitarbeitern des Amtes für Datenschutz durchsucht. Gegen 8 Uhr morgens kamen Vertreter des Amtes in Begleitung der Polizei. Es wurde ein Durchsuchungsbefehl gezeigt. Die Bitte auf die Ankunft eines Rechtsanwalts zu warten wurde abgelehnt. Im Laufe der Durchsuchung wurden Computer, Fotoapparate, Videokameras und Mobiltelefone der Blogger beschlagnahmt. In einem Interview sagte Irje: "Die Familie schon lange unter Beobachtung durch die Geheimdienste steht. Ihnen wurde mehrfach angeboten den Blog zu schliessen und mit der Kritik der Regierung aufzuhören. Wie es aussieht, war der psychische Druck nicht stark genug, also wurde mit Repressionen begonnen."

Vor einem Monat wurde die Seite innojairja.blogspot.com gehackt, alle Inhalte wurden gelöscht. Es stellt sich die Frage, ob nicht das Innenministerium hinter der Attacke steckt. Immerhin beschäftigten sich einige Artikel mit dem Privatleben des Innenministers Jüri Pihl und dem früheren Chef der Kriminalpolizei Andres Anvelt. Auch schrieb das Ehepaar an einem Buch in dem die Geschichte vom Angestellten der Stadt Tallinn Vladimir Panov erzählt wird, der unter grossen Aufmerksamkeit seitens der Presse von der KAPO festgenommen wurde und nach fünf Jahren Untersuchung vom Gericht völlig rehabilitiert wurde. Das alles wirft kein gutes Licht auf den Innenminister und den Vorsitzenden der estnischen Sozialdemokratischen Partei Pihl.

Montag, April 27, 2009

RIP Vesti Dnja

letzte Woche wurde eine der wenigen russisch-sprachigen Zeitungen in Estland Vesti Dnja eingestellt. Die Zeitung war die einzige oppositionelle Stimme in den estnischen Massenmedien, die offen die Regierung kritisierte und die Sorgen der russisch-sprachigen Minderheit ernstgenommen hat. Viele Nachrichten, die bruchstückhaft im Internet veröffentlicht wurden, bekamen erst durch die Hintergrundrecherche und Nachfragen von Experten seitens der Zeitung eine Bedeutung, so dass klar wurde, wie die neuen Gesetze und Massnahmen der Regierung sich auf die Situation der einfachen Leute auswirken. Öfters wurden auch Leute auf der Strasse nach ihrer Meinung zu einem Thema befragt. Die Zeitung hat sich eingemischt und geholfen. Dass die Meinungen über die Vesti Dnja gespalten waren, zeigt sich, dass einige Politiker kategorisch abgelehnt haben, Interviews der Zeitung zu geben. Im Februar wurden die Redaktionsräume im Zusammenhang mit einer Korruptionsaffäre in der Zentrumspartei von der KAPO durchsucht. Wohl als Reaktion darauf wurde die finanzielle Situation für die Zeitung noch angespannter, da viele Anzeigen zurückgezogen wurden. Schliesslich wurde vergangene Woche ohne vorherige Ankündigung die Auslieferung eingestellt, die Redaktion wurde aufgelöst.

Für mich persönlich waren Vesti Dnja bzw. ihre Internet-Ausgabe eine wichtige Informationsquelle, die mir sehr fehlen wird. An dieser Stelle möchte ich dem Hauptredakteur Alexander Tchaplygin und seinem Team für die getane Arbeit danken.

Passend zum Thema fand ich ein Artikel über die russische-sprachigen Massenmedien im baltischen Raum, den ich übersetzen möchte.

Igor Pavlovskij: Russisch-Baltisches Medienfeld

"... und wir werden aktiv den russischen Zeitungen in Riga und in anderen Städten Litauens helfen"

Ein Auszug aus dem Auftritt eines Hauptstadtbeamten (gemeint ist Moskau Anm. des Übersetzers) auf einem Treffen mit Kompatrioten in Moskau

Eigentlich ist das ein recht typischer geografischer Fehler nicht nur für den einfachen Bürger, sondern auch für die Staatsdiener und Politiker. Baltikum für Russland, besonders für Moskau, das ist zuallererst Riga. Nur wenige verstehen die Unterschiede und Spezifika jeden der baltischen Staaten. Doch ist es nicht nur in Russland der Fall. Nicht so lange her hat der estnische Präsident Toomas Hendrik Ilves behauptet, dass in den USA die drei baltischen Staaten sehr oft als eine gemeinsame Republik Baltikum begriffen werden. Ich weiss nicht, warum Ilves so viel Bedeutung die Gemeinsamkeiten der drei Republiken betont hat. Das was wir die baltische Solidarität nennen, ist in den Anfängen der 90er Jahre zurückgeblieben. Alle drei baltische Länder sind sehr verschieden. Von der ökonomischen Sichtweise, von der politischen, gesellschaftlichen, ethno-nationalen usw. Sogar die Art der Einmischung des Verfassungsschutzes in das politische Leben unterscheidet sich in diesen Staaten. Auch aus der historischen Sichtweise ist ihr Weg verschieden, obwohl alle drei Republiken Teil der Sowjetunion waren, denn auch dort hat sich ihr Status voneinander unterschieden. Logisch, dass die russisch-sprachige Diaspora (soweit dieser Terminus auf die Russen in Baltikum zutrifft, einen anderen gibt es nicht, deswegen benutzen wir diesen) in diesen drei Ländern verschieden ist. Die Situation mit russischen Massenmedien, die die Stimmungen und Probleme dieser Diasporas wiederspiegeln, unterscheidet sich auch voneinander.

Von allen drei Republiken ist die russisch-sprachige Presse in Lettland am weitesten entwickelt. Sowohl landesweit, als auch regional. Warum ausgerechnet Lettland zum Leader in der Entwicklung der russischen Massenmedien wurde, ist eine schwierige Frage. Wahrscheinlich gibt es eine Reihe von Gründen. Das Vorhandensein einer grossen russisch-sprachigen Diaspora muss kein Hauptgrund sein. In Estland mit vergleichbarer Anzahl russisch-sprachiger, ist die Situation mit russischen Massenmedien viel schlechter. Ich denke, dass die Wurzeln des Phänomens "russische Presse in Lettland" man sowohl in der Geschichte (Riga hat sich als imperiale Metropole in Baltikum aktiv entwickelt und war die drittwichtigste Stadt des Russischen Imperiums) als auch in den Eigenschaften der Diaspora suchen muss. Denn nur in Lettland gibt es zwei zentrum-links Parteien, die formell zu den "russischen" gezählt werden, die im Sejm vertreten sind ("Harmoniezentrum" und "Partei für Menschenrechte in Lettland"). In Estland gibt es im Parlament keine Partei, die die Meinung der russisch-sprachigen Minderheit vertreten würde (die "Zentrumspartei", die formell die "russische Stimmen" für sich beansprucht, zählt nicht). Kann sein, dass diese politische Aktivität der Diaspora mit der Geschichte der Umsiedlung der russischen Spezialisten ins Baltikum verbunden ist. Es ist so, dass nach Estland hauptsächlich entweder die Vertreter der Intelligenzija und Dissidenten aus Leningrad oder die Arbeiter für die Verteidigungsindustrie kamen. Nach Lettland hat man hauptsächlich das Proletariat hingebracht (obwohl die Intelligenzija auch dort war), weil zu Sowjetzeiten mit Nachdruck die technologische Fertigung in Lettland gefördert wurde.

Was Litauen angeht, so spielt sie in der Geschichte der Migrationströme ins Baltikum überhaupt eine Sonderrolle. Die Anzahl der Russen sprang dort nie über die 20% Marke, im Gegensatz zu fast 50% in Lettland und 40% in Estland (momentan sind es in Lettland 28% Russen, in Estland ca. 25%). Der erster Sekretär des Zentralkomitees der Litauischen Sowjetrepublik Antanas Snetchkus, der Litauen 34 Jahre lang regiert hat, hat eine harte Politik im Bereich der Nationalitäten geführt und versuchte keine starke Einwanderung auf das litauische Territorium zuzulassen. Als Folge wurde in Litauen als im einzigen baltischen Staat die sogenannte "Null Variante des Staatsbürgerschaft" (Gewährung der Staatsbürgerschaft an alle, ohne vorherige Verpflichtung die Loyalität dem Staat gegenüber zu beweisen) realisiert, was weder in Lettland noch in Estland geschehen ist.

Nichtsdestotrotz, auch bei vergleichbaren Anzahl der russisch-sprachigen in Lettland und Estland unterscheidet sich ihre Situation in Hinsicht auf die gesellschaftlich-politischen Aktivität recht stark. Ausser unterschiedlicher Zusammenstellung der Diaspora und dem historischen Hintergrund, vor dem die Umsiedlung der russisch-sprachigen nach Lettland und Estland geschah, übt die Каitsepolitsei (estnischer Verfassungsschutz - KaPo) eine grosse Wirkung auf das Leben der Gemeinde in Estland aus. Im Gegensatz zum Büro zum Schutz der Verfassung in Lettland, die sich wirklich hauptsächlich mit den Fragen der politischen und ökonomischen Sicherheit beschäftigt, mischt sich die KaPo aktiv in die estnische Politik ein und führt eine erfolgreiche Arbeit sowohl innerhalb der russischen Gemeinde, als auch zur ihrer Diskreditierung durch. Das beste Beispiel dieser Arbeit waren die sogenannten "Bronzenen Nächte", als durch zielgerichtete Formung des Informationsstromes in den Auges der Esten sich das Bild der "vene pätt" (est. russische Ausgeburt) ausgebildet hat. Genau diese Worte wurden in der Kolumne der größten estnischen Zeitung Postimees gleich nach der Versetzung des Denkmals des sowjetischen Soldaten-Befreiers und den nachfolgenden Unruhen benutzt (der volle Titel des Artikels "Gesicht der Woche: Die unbekannte russische Ausgeburt"). Speziell sollte man das Jahrbuch erwähnen, das von der KaPo herausgegeben wird. Nicht in einem der jährlichen Ausgaben dieses "Bestsellers" wurden die Gefahren für Estland nicht erwähnt, die die Organisationen der russischen Kompatrioten, die Verbindungen mit der russischen Botschaft unterhalten, in sich tragen. Selbst wenn man die harte Konfrontation in Lettland in einer Reihe von Fragen über die Nationalität nicht übersehen kann, solche Bosheiten wurden dort bis zum heutigen Tag nicht beobachtet.

Die russischen Massenmedien, die das Leben der Gemeinde wiederspiegeln, wiederholen die Tendenzen der Entwicklung der Gemeinden in baltischen Ländern. Und wenn es in Litauen nicht eine einzige allgemein-politische tägliche Zeitung in russischen Sprache gibt, da dort heute ca 7% der Einwohner Russen sind, so dass sie kein Einfluss auf das politische Leben in Litauen spielen, so sind es in Lettland drei allgemein-politische landesweite Zeitungen ("Vesti Segodnja", "Tchas" "Telegraf"). Und das wenn man die spezialisierte, wirtschaft-orientierte, regionale und aus der lettischen Sprache übersetzte Ausgaben nicht berücksichtigt. Zur Erinnerung, Lettland hat insgesamt 2,3 Mio. Einwohner. Estland kann sich einer kleineren Anzahl der allgemein-politischen täglichen Zeitungen rühmen. Auf den heutigen Tag ist die einzige tägliche Zeitung in der russischen Sprache "Molodjezh Estonii". Die Zeitung "Vesti Dnja", die vor kurzem rausgegeben wurde und als Nachfolger der Zeitung "Estonia" galt, hat vor Tagen ihre Existenz beendet.

Insgesamt fürs Baltikum und für jedes Land im speziellen ist die Existenz von zwei Informationsfeldern typisch, die sich selten überschneiden. Eines ist in der Nationalsprache, eines in russischen Sprache. Diese Situation hat sich am Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts zu formieren angefangen, als die drei Staaten begannen ihre Nationalstaaten mit starken Vorzeichen einer Ethnokratie zu bauen. Deswegen wurde die Sprache der Nation, die den ethnokratischen Staat gebildet hat, zur Dominanten, gleichzeitig wurde die Rolle der russischen Sprache als innerdiasporalen zugewiesen. Eine starke Kürzung der Fernseh- und Radioübertragungen in russischen Sprache hat dazu geführt, dass das russische Publikum, das die Sprache nicht kannte und keine Informationen in fremden Sprache bekommen wollte, anfing, auf russländische Massenmedien und örtliche Zeitungen, die auf Russisch herausgegeben wurden, umzuschalten.

Hier können wir noch ein Paradox des russischen Informationsfeldes in Baltikum beobachten. Wenn in den ersten Jahres der Perestroika und Unabhängigkeit die allunionistischen Massenmedien von der Hauptmasse der Russen in Baltikum nicht als glaubhafte Informationsquelle betrachtet wurden, so verlieren die nationalen Massenmedien nach der Erklärung des Kurses dieser Länder in Richtung der Nationalstaaten und Herausdrängung des russisch-sprachigen Mitbürger aus dem politischen und wirtschaftlichen Leben, an Glaubwürdigkeit gegenüber dem russisch-sprachigen Publikum. Umgekehrt wächst das Rating der Glaubwürdigkeit zu den Nachrichten aus den russländischen Quellen.

Diese Tendenz blieb weder in Estland noch in Lettland nicht unbemerkt. Soziologen, Politologen und nach ihnen die Staatsdiener dieser Länder fingen an darüber zu reden, dass nicht nur die Geschichte, sondern auch die Gegenwart von den "ursprünglichen Bevölkerung" und russisch-sprachigen unterschiedlich aufgenommen wird. Dies wird berechtigterweise als Gefahr für die Staatssicherheit wahrgenommen. Gerade aus diesen Ängsten heraus gab es Versuche "richtige russische Massenmedien" zu erschaffen. Hauptsächlich wurden diese Versuche realisiert, indem "Übersetzungsversionen" der wichtigsten nationalen Zeitungen erschaffen wurden. Noch hat es keinen Sinn über den ideologischen Erfolg dieser Projekte zu sprechen. Glaubwürdigkeitsstatus dieser Ausgaben, unbeachtet der hohen Auflage, ist viel niedriger als zu den "traditionellen" russisch-sprachigen Massenmedien, die in diesen Ländern herausgegeben werden. Nichtsdestotrotz, spielen diese Ausgaben neben der propagandistischen, noch eine wirtschaftliche Rolle. Wenn man ihre hohe Auflage und die Loyalität dem Staat gegenüber berücksichtigt, werden sie zu begehrtem Werbeplatz. Ausser diesen zwei Faktoren nutzen die "übersetzte Massenmedien" grosses Dumping für ihre Werbe- und Abonnementdienste. So sind die Kosten eines Abonnements auf die älteste russisch-sprachige Zeitung "Molodjezh Estonii" viel höher als das Abo für die russisch-sprachige Variante des "Postimees". Ein ähnliches Bild ist auch mit den Anzeigenpreisen. Diese "nichtpolitische" Hebel nutzend, zwingt der estnische Staat faktisch die unabhängigen russischen Massenmedien das Feld zu räumen. Interessanterweise unterscheidet sich noch das Bild in Lettland. Das russisch-sprachige Produkt, das von der Zeitung Diena herausgegeben wird, ist ein kommerzielles Blättchen mit Kaufe-Verkaufe Anzeigen, der nicht auf allgemein-politische Meinungsbildung prätendiert.

Die Interaktion zwischen den beiden Informationsfeldern (nationalem und russisch-sprachigem) ist minimal. Und wenn man die Informationen aus den nationalen Massenmedien in russische-sprachigen Ausgaben noch antreffen kann, so ist der Rückfluss an Information faktisch nichtexistent. Nichtsdestotrotz werden russisch-sprachige Ausgaben recht aktiv von der nationalen ethnischen Elite gelesen. Doch ist es nicht möglich über eine Einwirkung der russisch-sprachigen Ausgaben auf diese Politelite zu sprechen.

Noch ein interessanter Aspekt der Existenz der russisch-sprachigen Massenmedien in Baltikum ist ihre Beziehung zu Russland. Die Massenmedien und die russische Diaspora in Baltikum sind recht spezifisch. Man kann nicht sagen, dass sowohl die Massenmedien als auch die Diaspora eindeutig pro-russländisch eingestellt sind, Genausowenig kann man sagen, dass russische Diaspora eine fünfte Kolonne in diesen Republiken sei und die Massenmedien entsprechend eine zerstörerische Arbeit gegen diese Nationalstaaten führe. Am ehesten ist es sinnvoll über einen besonderen Status der russischen Diaspora und den Massenmedien zu sprechen. Dieser Status ist weder russländisch noch national-baltisch. Es ist ein eigener Status. Mit recht kritischem Blick sowohl auf Russland, als auch auf das Land, wo man lebt. Einige Experten reden sogar über die Formierung einer neuen russisch-baltischen Gesellschaft. (interessant ist auch, dass die Sprache der russischen Massenmedien in Baltikum sich von der russischen Sprache, die in russländischen Zeitungen benutzt wird, sich zu unterscheiden anfängt).

Die weitere Entwicklung oder Stagnation der russischen Massenmedien in Baltikum wird auch nach unterschiedlichen Szenarien verlaufen. In Litauen wird auch weiterhin die Anzahl der Massenmedien in russischen Sprache stagnieren, da die russische Diaspora sich verkleinert (übrigens sind die Polen in Litauen die zweitstärkste Bevölkerungsgruppe nach Litauern und die Hauptstreitigkeiten auf nationalen Ebene wird am ehesten zwischen ihnen geführt). In Lettland, kraft wirtschaftlichen und politischen Gründe ist es durchaus möglich, dass links-zentristische Parteien an die Macht kommen werden (in erster Linie das "Harmoniezentrum"), die sich teilweise an das russische Elektorat orientieren. Folglich wird das russische Informationsfeld endgültig aus dem Underground rauskommen und seinen Platz in der allgemein-politischen System des Landes einnehmen. Diese Thesis wird dadurch untermauert, dass in der letzten Zeit lettische Politiker den russischen Zeitungen immer mehr Aufmerksamkeit widmen und ihnen gerne exklusive Interviews und Kommentare geben. In Lettland besteht eine Chance, dass die russländischen Massenmedien die Rolle einer Art Brücke zwischen dem russländischen und baltischen politischen Establishments übernehmen könnten, um einander verstehen zu helfen.

Mit Estland ist eine besondere Geschichte. Es ist durchaus möglich, dass unabhängige russische Printmedien in nächster Zeit komplett aufhören zu existieren. Die Versuche russisch-sprachiges Fernsehen zu etablieren, werden fehlschlagen, da die Ressourcen und die kreativen Möglichkeiten kein Vergleich gegenüber den Möglichkeiten des russländischen TVs bestehen können. Internet-Publizistik in der russischen Sprache bleibt bestehen, wird jedoch streng von der estnischen Regierung kontrolliert. Kraft der Umstände wird sich das ansässige russisch-sprachige Publikum wohl komplett aus dem regionalen Informationsfeld verabschieden und auf das Programm der russländischen TV-Kanäle und Internet-Publizistik umschalten. Was das für Estland bedeutet, kann man nur vermuten.

Sonntag, April 19, 2009

Grauenhafte Hände Moskaus

Wie jedes Jahr veröffentlicht der Verfassungsschutz Estlands KAPO ein Jahresbericht, wo sie über ihre Tätigkeit Rechenschaft ablegt und die Gefahren benennt, die dem Staat Estland drohen. Schon in den früheren Jahren hat dieser Bericht für Aufregung gesorgt, weil die dort enthaltenen Fakten nicht gestimmt haben. Doch dieses Jahr entschied sich die KAPO für einen Rundumschlag:

1. Laut KAPO ist eines der Ziele des russländischen Geheimdienstes einen zur Russland loyalen Kandidaten aus Estland im Europaparlament zu installieren. Er soll dafür sorgen, dass die russische Sprache zur offiziellen EU-Sprache ernannt wird. Als Kandidat wird der Direktor des Informationszentrums zum Schutz der Menschenrechte Aleksej Semjonov genannt, der jedoch seine Teilnahme an der Wahlen längst abgesagt hat. In einer Stellungnahme bezeichnet Semjonov den Bericht als Frechheit vor allem weil diese Unterstellungen durch nichts belegt sind.

2. Russland möchte eine fünfte Kolonne in Estland etablieren. Dies wird durch die Politik des Kompatriotismus (russ. Соотечественики) verwirklicht, um die sich Russland verstärkt bemühen würde. Selbst innerhalb von Russland werden Diskussionen geführt, wie man einen Kompatrioten definiert, doch für KAPO scheint es schon festzustehen: Es sind alle Leute, die für die grossherrschaftliche Ideologie Russlands empfänglich seien und deswegen ausgenutzt und manipuliert werden können. Alle Vereinigungen, wie der Koordinationsrat der Kompatrioten in Estland, oder die teilweise aus der russländischen Staatskasse finanzierte Stiftung "Russische Welt" (russ. Русский Мир) werden per se als illoyal zum estnischen Staat hingestellt.

3. Die fünfte Kolonne finanziert sich über das estnische Business, sie soll sich an die Wirtschaftsvertreter gewendet haben, die finanzielle Interessen in Russland haben.

4. Russischer Geheimdienst soll Interesse an der estnischen Energiewirtschaft haben. So wird als konkretes Beispiel die Firma Greta Energy genannt, die Windenergieparks auf Hijumaa und Saaremaa baut. Die Firma ist zwar kanadisch, doch stammen die Gründer aus Russland und haben ein Office in Moskau. Das macht sie verdächtig.

5. Informationskrieg wird in Form von Gründung eines Presseclubs "Impressum" geführt, der regelmäßig Journalisten, Historiker und Wissenschaftler aus Russland zur Diskussion nach Tallinn einlädt. Auf diese Art und Weise wird der estnischen Presse mit russländischen Propaganda infiltriert. Die Hauptschuldige ist die Journalistin der Zeitung Komsomolskaja Pravda Galina Sapozhnikova, die diesen Club leitet. Frau Sapozhnikova kündigte an, wegen Verleumdung und Rufschädigung seitens der KAPO vors Gericht zu ziehen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die Eingeladenen wie der Historiker Aleksandr Djukov, oder russische Kriegsreporter, die über Georgien-Krieg berichtet haben, andere Meinungen über heisse Themen haben, als die offizielle Politik in Estland, doch den Presseclub als staatsfeindlich hinzustellen, ist doch weit hergeholt.

6. Die KAPO warnt, dass die Lobbisten von Gazprom in Holland, Deutschland und Finnland aktiv sind, damit diese Partner-Länder, das kategorische estnische "Nein" zur Gaspipeline auf dem Grund der Ostsee umstimmen. Nur die tapfere KAPO hat den miesen Plan von Gazprom durchschaut und warnt die alte EU-Staaten vor zu viel Blauäugigkeit gegenüber Russland.

6. Immerhin wurde die Gefahr von Volksunruhen wie in Lettland oder in Litauen als gering eingeschätzt. Die Mentalität der Esten wäre anders als der Letten oder der Litauer und die Leute würden besser verstehen, dass die Situation ernst ist und durch Krawallen sich nichts ändern würde. Nichtsdestotrotz wurde vor kurzem ein Wasserwerfer angeschafft, da man vor zwei Jahren auf die Hilfe der lettischen Kollegen zurückgreifen musste.

Nach Meinung des Journalisten Aarne Rannamäe erlaubt die Jahresausgabe eine Einsicht in die wirklichen Ansichten der politischen Eliten Estlands. Es ist ein propagandistisches Werk, das eher für das Publikum ausserhalb Estlands bestimmt wäre. Während das Jahresbericht des Aussenministeriums maximal diplomatisch geschrieben ist, spricht das Jahresbericht des KAPO Klartext. Alle Behauptungen sind ohne Belege, die als Staatsgeheimnis qualifiziert werden.

Wenn solche Berichte tatsächlich die Meinung der politischen Elite Estlands widerspiegeln, dann muss man feststellen, dass auch zwei Jahre nach den Bronzenen Nächten Paranoia das Hauptgefühl ist, das sich einstellt, sobald man das Wort Russland ausspricht. Alles was Kontakte zu Russland oder zu dem nicht komplett-integriertem Teil russisch-sprachigen Bevölkerung herstellt, wird als Hand Moskaus verdammt und nach Möglichkeit zerschlagen.

Samstag, März 21, 2009

Notchnoj Dozor vs Jüri Pihl

Am 7.März hat Notchnoj Dozor eine Protestaktion vor den Türen der Nationalbibliothek durchgeführt in dem der Parteitag der Sozialdemokraten stattfand. Protest richtete sich gegen den prominenten Mitglied der Partei, den jetzigen Innenminister Jüri Pihl, der auf dem Parteitag zum Vorsitzenden der Partei gewählt wurde. Transparente mit folgenden Aufschriften waren zu sehen:

Nein zum Polizeistaat!!!
Pihl, Demokratie ist kein Polizeischlagstock!
Verbrecher -ins Gefängnis und nicht zum Vorsitz
Nein zur Diktatur!
Mit Pihl Sozialdemokratie oder National-Sozialismus!?



Warum hat sich Notchnoj Dozor ausgerechnet Jüri Pihl vorgenommen? Als Innenminister war Pihl der Hauptverantwortliche für die Polizeiaktion während der Bronzenen Nächte. Anschliessend behauptete er, dass Dank ihm ein Staatsstreich verhindert wurde und die Beschuldigten eine gerechte Strafe bekommen werden. Er war auch der Initiator der sogenannten Lex Bronzenen Nächte, die als Reaktion auf die Unruhen erlassen wurden und der Polizei mehr Rechte (sprich mehr Auswahl bei der Gewaltanwendung) bei der Unterdrückung der ungewünschten Versammlungen gegeben wurden. Als früherer Generaldirektor der KAPO (estnischer Verfassungsschutz) hat er die besten Verbindungen zu dieser Behörde und sorgt dafür, dass alle unliebsamen Politiker, Journalisten, bekannte Personen, aber auch einfache Bürger observiert werden. Interessanterweise ist seine Frau Lavli Lepp eine Generalstaatsanwältin, die bei Bedarf sich an KAPO wendet, um Material für eine Anklage zu bekommen. Sie hat die Anklage gegen den wegen Spionage verurteilten Hermann Simm vorbereitet und beschäftigt sich mit der Anklage gegen die Bronzenen Vier, die ja in Revision geht. Sogesehen konzentriert sich bei der Familie Pihl die Legislative (Vorsitzender einer im Parlament vertretenen Partei), die Exekutive (Innenministerium) und die Judikative (seine Frau als Staatsanwältin). Nicht zu vergessen die frühere Tätigkeit Pihls als Kanzler des Rechts.

Momentan wird im Parlament ein Gesetzespaket, das von Pihl und dem Justizminister Rein Lang initiiert wurde diskutiert, der das Verhalten des Staates in Zeiten des Notstands regelt. Unter Notstand ist keine Naturkatastrophe, sondern ein Aufstand gemeint, eine Wiederholung der Bronzenen Nächte sozusagen. Sollte das Paket durchkommen, bekommt die Regierung weitreichende Befugnisse:

- Einsatz der Armee im Landesinneren zur Stabilisierung der Lage
- Recht auf Zensur
- Recht auf Durchsetzung von Demonstrations- und Streikverbot
- Ausgangsverbot für Bürger

Bereits beim jetzt gültigen Gesetz sind folgenden Einschränkungen für die Bürger im Fall eines Notstandes vorgesehen:

- Verbot der freien Meinungsäusserung
- Freiheitsentzug
- Einschränkungen beim Recht der freien Berufsausübung
- Einschränkungen für Mitgliedschaft in Vereinen und NGOs
- Verletzung der Unantastbarkeit des Privatvermögens
- Verletzung der Unantastbarkeit der Privaträume
- Einschränkung bei Wohnungswahl und Bewegungsfreiheit innerhalb des Landes
- Einschränkungen bei der Ein- und Ausreise nach Estland
- Einschränkungen des Postgeheimnisses
- Einschränkungen beim Recht sich mit Hilfe der Massenmedien zu informieren
- Einschränkungen beim Auskunftsrecht bei den Behörden und Staatsarchiven
- Verbot, Informationen schriftlich, mündlich oder auf andere Art weiterzuverbreiten
- Einschränkungen bei Versammlungsfreiheit

Ausserdem wird das Recht der Festgenommenen auf einen Anwalt eingeschränkt. Wenn jetzt ein Festgenommener innerhalb von 48 Stunden das Recht hat, einen Anwalt zu kontaktieren, wird diese Zeit auf 15 Tage ausgedehnt.

Dazu wird das Recht einen Notstand auszurufen vom Präsidenten auf die Regierung übertragen, wobei überhaupt nicht klar ist, welche Art von Ausschreitungen zum Ausrufen eines Notstandes berechtigen. Notstandslage kann für maximal 3 Monate ausgerufen werden.

Wie man sieht, bekommt die Regierung sehr weitreichende Befugnisse während eines Notstandes, den sie selbst ausrufen kann. In Zeiten der schweren Wirtschaftskrise und die Unruhen in April 2007, in Lettland, Litauen, Ungarn vor Augen könnten diese Gesetze viel schneller ausgerufen werden, als man denkt. Deswegen ist es meines Erachtens sehr wichtig eine Diskussion in der Gesellschaft zu starten, ob sie bereit ist, solche weitreichende Befugnisse in die Hände der Regierung zu geben.

Dienstag, März 17, 2009

Einreiseverbot nach Lettland für Notchnoj Dozor

Am 15. März wurde in Lettland eine internationale Konferenz "Die Zukunft ohne Faschismus" durchgeführt. Mehreren Teilnehmern aus Estland und Russland wurde die Einreise nach Lettland durch ein Erlasss des lettischen Innenministers verboten. Fünf Kilometer nach der estnisch-lettischen Grenze wurde das Auto mit 5 Aktivisten von Notchnoj Dozor (Larissa Neschadimova, Dimitrij Klenskij, Petr Puschkarnij, Sarkis Tatevosjan und Aleksander Kornilov) von lettischen Polizisten gestoppt, sie wurden mit Polizeiexkorte zurück nach Estland begleitet. Ebenso wurde Dimitrij Linter, der mit dem Zug aus Russland kam, festgenommen und nach Estland ausgewiesen. Der Grund des Einreiseverbots ist eher der Marsch der Waffen-SS-Veteranen in Riga, der offiziell zwar verboten wurde, jedoch trotzdem stattgefunden hat. Die 13 protestierende Aufmarsch-Gegner wurden festgenommen.

Aktivist des Notchnoj Dozors Maksim Reva, dem es gelungen war nach Lettland einzureisen, berichtete, dass der Eingang des Büro vom Lettischen Antifaschistischen Kommitee (LAK) von der Polizei bewacht wurde. Später wurden die Räume durchsucht, um die Mitglieder von Notchnoj Dozor zu finden, die sich dort befinden sollten, was jedoch nicht der Fall war. Ein Mitglied des Notchnoj Dozor Andrej Andronov hat sich in seinem Auto eingeschlossen. Die MEP Tatjana Zhdanok wurde bei dem Versuch die Verhaftung von Andronov zu verhindern, leicht verletzt.

Sollte es weitere Informationen geben, werde ich sie veröffentlichen.

Streit um russische Schulen

gestern wurde in estnischen Massenmedien ein Ereignis diskutiert bei denen sich manch einer in die Zeiten des Komsomols versetzt fühlen dürfte. Schüler einer Tallinner Realschule, der Vorsitzender der Schülermitverwaltung dort ist und auch der Vereinigung der Schülervertretungen in Estland angehört, wurde nach einem offenen Brief an den russischen Botschafter in Estland von seinen Posten entbunden. Was ist passiert?

Vor einigen Tagen hat der russische Botschafter Nikolai Uspenskij einer russischen Zeitung ein Interview gegeben, in dem er die estnische Bildungspolitik in den russisch-sprachigen Schulen scharf kritisiert hat. Die Lehrerzahlen würden ständig sinken, weil die Sprachinspektion als repressiver staatlicher Organ eingesetzt würde, um die Lehrer unter massiven Druck zu setzen und zu entlassen. Der Schüler Sergej Metlev hat diesen Vorwurf in einem offenen Brief zurückgewiesen und das Interview als Einmischung in innenestnische Angelegenheiten bezeichnet. Dieser Brief wurde nicht als seine Privatmeinung veröffentlicht, sondern in seiner Funktion als Vorsitzender des SMV der Realschule. Daraufhin hat sich die Schule offiziell beim Botschafter entschuldigt und Sergej musste von seinem Posten als Vorsitzender der SMV zurücktreten. Soweit so komsomol-ähnlich.

Allerdings gibt es noch einige Hintergründe, die man wissen sollte, bevor man über den Fall vorschnell urteilt. Die Vereinigung der SMVs wird in Estland von der Organisation Offene Republik finanziert, die eine Jugendorganisation der national-konservativen Partei Isamaa Res Publica darstellt. Der Vorsitzende der Offenen Republik Evgenij Krishtafovic ist einer der umstrittensten russisch-sprachigen Politiker in Estland, der absolut vorbehaltlos für das Aufgeben der nationalen Identität der russisch-sprachigen Bevölkerung eintritt und ein größerer Nationalist ist, als viele der Esten. Dementsprechend unbeliebt ist er unter denjenigen, die sich nicht komplett in die estnische Gesellschaft integrieren wollen und können. Wie Sergej zugegeben hat, entstand die Idee zu dem Brief bei einer Diskussion zwischen ihm und Krishtafovic, so dass er wohl nicht ahnen konnte in welchen Wespennest er da sticht und welche Konsequenzen für ihn das haben kann. Seine Mitschüler sehen das ähnlich, dass Sergej zwischen zwei Feuer kam, die er komplett unterschätzt hat. Sie berichten von kompetenten Lehrern, die in der letzten Zeit entweder freiwillig gegangen sind, oder die Schule verlassen mussten und durch unerfahrene Lehrkräfte ersetzt wurden, deren einziger Verdienst ist, dass sie gut die estnische Sprache beherrschen.

Es ist zu befürchten, dass Sergej nicht das einzige Opfer des Krieges zwischen den bestehenden russischen Schulen und den estnischen Bildungspolitikern bleiben wird. In einem Gespräch sagte mir der Vorsitzender des Zentrums für Menschenrechte Alexej Semjonov, dass er befürchtet, dass die nächsten Provokationen gegen die russisch-sprachige Bevölkerung durch massive Schliessungen russisch-sprachigen Schulen erfolgen werden. In Lettland kam es in der Vergangenheit zu massiven Schülerdemonstrationen, als angekündigt wurde, dass ein Grossteil des Unterrichts auf Lettisch abgehalten werden muss. Hoffentlich blüht Estland keine Wiederholung.



Nachtrag: Inzwischen hat der estnische Bildungsminister Tõnis Lukas vorgeschlagen die Direktorin der Schule auf der Sergej lernt Olga Kalju, zu entlassen.

Sonntag, März 01, 2009

Besuch in Estland

Es ist schon (erst?) eineinhalb Jahre her, dass ich das letzte Mal den estnischen Boden betreten habe. Ich war die letzte Woche in Tallinn und hier sind meine Eindrücke:

1. Welche Farbe hat die Krise? Kann man die Krise sehen, tasten, riechen, hören? Wenn man als Tourist durch Tallinner Zentrum geht, sieht man nichts. Es sind noch mehr Glaspaläste gebaut worden, es sind viele Leute auf der Strasse und in Kaufhäusern, sehr wenig Bettler auf der Strasse oder Besoffene, keine geschlossene Bars oder Geschäfte, trotz kalten Wetters werden Reisegruppen durch die Altstadt geführt, darunter sind viele Gruppen aus Russland, die russländischen Hetzkampagnen, nicht nach Estland zu fahren, haben ihre Wirkung verloren. Die Fähren aus Finnland sind voll mit vergnügungssüchtigen Finnen, die ihr Geld wie eh und je in Glücksspielautomaten reinwerfen (gibt es in Finnland eigentlich ein Mindestalter fürs Glücksspiel, ich habe eindeutig minderjährige gesehen, die auf der Fähre am Automaten zockten?). Die Wirtschaftskrise ist für normalen Touristen nicht fühlbar.

2. Doch ändert sich dieses Gefühl schlagartig, sobald man mit den Leuten spricht. Die Standardformel für Begrüßung ist: "Was macht die Krise?". Die Standardantwort ist ein gequältes Lächeln und rausgepresstes "Geht so". Wenn man mit dem Auto in die Tallinner Umgebung mitgenommen wird, sieht es schon anders aus. Aus dem Boden gestampfte Neubausiedlungen mit megamoderner Architektur stehen leer. Die explodierenden Wohnnebenkosten machen 50% der Gesamtmiete aus, wenn einer der Familienmitglieder auch noch das Pech hat, arbeitslos zu werden, sieht es sehr düster aus. Und die Angst die Arbeit oder sein Geschäft zu verlieren, schwebt über jedem Kopf. Viele befürchten, dass die gesetzlosen 90er Jahre wieder zurückkommen könnten, mit Bandenkriegen, Mafia, Drogen, Verbrechen. Insofern ist der jetzige Zustand noch schlimmer, als die Krisen in den 90ern, denn damals gab es nicht viel zu verlieren, jetzt, nach einigen Jahren relativen Wohlstands (wenn auch auf Pump finanziert) ist der Verlust des bereits Erreichten umso schmerzhafter. Da die Banken keine Kredite mehr geben, sind Geschäftsleute, die ihre Waren vorfinanzieren müssen, gezwungen in dunklen Kanälen nach Kredit zu fragen, doch sind da die Rückgabebedingungen ungleich schmerzhafter, als bei einer Bank. Die Schattenwirtschaft wird wieder aufblühen.

3. Keiner hat Patentlösungen, wie die Krise zu lösen ist, die meisten haben nur sehr ungefähre Vorstellung über die wirtschaftliche Zusammenhänge und wie z.B. Einführung des Euros sich auf die Exporte auswirken wird. Die meisten ahnen, dass sie über ihre Möglichkeiten gelebt haben, doch liegen radikale ökonomische Lösungen, wie Entwertung der Krone, Aufkauf von Schulden von den Banken durch den Staat, Zwangsumtausch der Kredite in Krone, massive Staatsverschuldung zur Stimulierung der Wirtschaft ausserhalb der Vorstellungskraft. Es wird geahnt, dass der jetzige Weg der falsche ist, doch es traut sich niemand über andere nachzudenken und sie auszusprechen. Immerhin fangen auch Leute, die mit der Wirtschaft bisher nichts zu tun hatten, die Fragen zu stellen.

4. Der Staat hat es geschafft, über rigorose Politik der Strafen, sich Respekt zu verschaffen, der auch auf Klima der Angst rührt. Wurde vor eineinhalb Jahren der Alkoholverkaufsverbot nach 22.00 Uhr von einigen Lädchen noch umgangen, ist es selbst für die Einheimischen nahezu unmöglich, spätabends Alkohol zu kaufen. Überspitzt formuliert ist es in manchen Gegenden einfacher Heroin für den nächsten Schuss zu kaufen, als eine Flasche Bier. Vor kurzem wurde bekannt, dass im Staatsbudget die Einnahmen aus den Verkehrsstrafen schon festeingeplant wurden, so dass jedes Parkverbot, jede Geschwindigkeitsüberschreitung bestraft wird. Es wird versucht diese Politik als Erziehungsmassnahme zu verkaufen, allerdings bin ich mir nicht sicher, ob der Staat seinen Bürgern gegenüber nur als drakonischer Bestrafer entgegentreten sollte.

5. Estland wird immer schwieriger zu erreichen. Gerüchten zufolge wird die Estonian Air ihr Flugangebot radikal zusammenstreichen, Konzentration auf Kerngeschäft bedeutet Flüge nach Tartu und Kuresaare. Nachdem Ryan Air und KLM sich zurückziehen, verkommt Tallinn immer mehr zu Zubringerflughafen für Riga. Das muss an sich nichts schlechtes sein, allerdings wäre eine schnelle Zugverbindung nach Riga evtl. sinnvoller, als der 45min Flug und viel Warterei auf beiden Flughäfen. Dasselbe gilt für Vilnius, die als die am schlechtesten erreichbare Hauptstadt Europas gilt. Wenn man bedenkt, dass Tallinn 2011 Kulturhauptstadt Europas werden soll, müssen ganz schnell Lösungen erarbeitet werden.

6. Ein paar Worte zur Politik. Es toben zwei Wahlkämpfe: eins um die Plätze im Europaparlament (insgesamt 6) und eins um die kommunale Verwaltungen. Der Kampf ums Europaparlament wird momentan hauptsächlich in der russisch-sprachigen Gemeinde ausgefochten, die trotz minimalen Chancen überhaupt einen Kandidaten durchzubringen, was rein rechnerisch zwar möglich, doch recht unwahrscheinlich ist, sich nicht auf einen Kandidaten einigen kann. Der zweite Kampf mit weitaus schmutzigeren Tricks fechtet die Reformpartei mit den Zentristen aus, es geht um die Macht in Tallinn. Momentan werden die Kandidaten für den Stadtrat in Stadtteilen gewählt, wobei jeder Stadtteil die gleiche Anzahl an Stadträten stellt. Da die Bevölkerungsanzahl und die Nationalitätenverteilung in den Stadtteilen extrem ungleichmäßig ist und die mehrheitlich zentristenfreundliche russisch-sprachige Minderheit in wenigen dichtbesiedelten Stadtvierteln wohnt, ist es ein Ziel der Zentristen eine Verwaltungsreform durchzuführen, wo die einzelnen Stadtviertel aufgehoben werden, so dass alle Kandidaten direkt gewählt werden. Um ganz sicher zu gehen, will man auch die mehrheitlich russisch-sprachige Stadt Maardu einverleiben. Die Reformisten versuchen ein Gesetz ins Parlament einzubringen, der solche Verwaltungsreformen verbietet, höchstwahrscheinlich treffen sich die Parteien vorm Gericht wieder. Passenderweise werden gerade Korruptionsaffären in Reihen der Zentristen aufgedeckt, die sich in der Durchsuchung von Redaktionsräumen der oppositionellen zentristen-nahen Zeitung "Vesti Dnja" von einer Einheit der KAPO gipfelte.

7. Während meines Aufenthalts habe ich mich auch mit Mitgliedern von Notchnoj Dozor Klaus Dornemann (an dieser Stelle danke ich nochmal für das gute Abendessen), Sergej Tydejakov und Maks Reva getroffen. Mein Eindruck ist höchst gespalten. Momentan ist die Organisation mit sich selbst beschäftigt und hat wenig Konzepte was ihre Ziele sind und wie ihre Tätigkeit in der Zukunft aussehen soll. Es sind mindestens zwei verschiedene Gruppierungen innerhalb der Organisation entstanden, die nebeneinander verschiedene Aktionen durchführen. Das einzige wovon Notchnoj Dozor noch zehrt, ist ihre Bekanntheit und unterschiedliche Reaktionen von verschiedenen Teilen der Bevölkerung sobald der Name fällt. Doch wirklich funktionsfähig ist die Organisation in ihrem jetzigen Stadium nicht, so dass momentan nur abgewartet werden kann, was sich demnächst daraus entwickeln wird. Ich werde an der Sache dranbleiben.

8. Nach den eigentlich betrügerischen SMS-Krediten mit aberwitzigen Rückzahlungskonditionen, gibt es zwei neue Maschen, die schwer nach Betrug riechen. Die erste Masche heisst SMS-Auktion und funktioniert folgendermassen: Ein teueres Gegenstand (z.B. ein Flachbildfernseher) ein wird zu 0.0 Kronen auf einer Internet-Seite zum Verkauf gestellt. Wenn man mitsteigern möchte, sendet man eine SMS, die 15 Kronen kostet, der Preis steigt um 7 cent. Mehrere Leute steigern um den Gegenstand, derjenige, der die letzte SMS schickt und nach einer bestimmten Zeit keiner weiterbietet, kann also theoretisch mit einer einzigen SMS einen teueren Fernseher für sehr wenig Geld ersteigern. Doch wenn man überlegt, dass bei einem Gerätepreis von 100 Kronen 1420 SMS verschickt wurden zu je 15 Kronen, kann man sich vorstellen um welche Gewinnspannen es hier geht. Die böse Überraschung erscheint dann auf der Telefonrechnung. Die andere Masche nutzt die Verzweiflung der Arbeitslosen aus. Die Firma Jobseeker bietet an für 100 Kronen / Anruf einen Job dem Anrufenden zu finden. Bei einem Testanruf weigerte sich der Mitarbeiter irgendwelche Informationen über sich oder die Firma zu geben, was eindeutig gesetzwidrig ist.

9. Derzeitige Hit in Estland heisst Oh kui raske Eestis olla, was übersetzt heisst: Wie schwer ist es in Estland zu leben. Hier ist der übersetzte Text:

Refrain: Oh kui raske Eestis olla 2x

Wir leben in einem kalten Land
Uns nennt man Estland,
Wir sammeln Opfergaben,
Welche man uns manchmal gibt.
In EU sind wir wer,
wichtige Herren,
wir haben ein Grund stolz zu sein,
wir haben eigenes Wasser

Refrain

Oft macht man Witze über die Esten,
dass wir lange denken
wir haben nicht genug Sonne
für Stoffwechsel
Wir bräunen uns viel im Sommer,
damit wir schneller denken können,
es ist gut im Sommer 10 lange Tage lang

Refrain

Wir haben eigene Regeln
wir sind ein geregeltes Volk
auf unseren Feldern sind Gräben
und nicht irgendein Kuddel-Muddel
unsere Landwirtschaft ist gut entwickelt in unserem Heimatland
wir düngen die Erde nur mit patentierten Sch..e

Refrain

Wir haben keine Angst vor Russland,
Wir haben eine eigene Armee
Ein Tausend Fahrradfahrer und ein halbes Schiff im Hafen
Auf der Grenze ist alles dicht, keiner kommt durch
Ein Angriff ist nicht möglich,
wir geben denen kein Visum

Refrain

Wir haben keine Angst vor Russland,
eigentlich hat man uns gar nicht gefragt.

Mittwoch, Februar 18, 2009

Für die Eltern

Bitte lesen Sie folgendes Zitat (rus. Quelle, est. Quelle) aufmerksam durch:

"Das feindliche Land hat für riesige Summen die besten PR-Firmen der Welt engagiert, es hat diesen Vorteil. Doch auch kleine Strukturen haben ihren Vorteil und können als Sieger hervorgehen, denn in einem Informationskrieg ist es nicht wichtig, ob du gross bist oder klein, die Geschwindigkeit ist wichtig.

Und auch wenn das feindliche Land jetzt zielgerichtet und systematisch arbeitet, muss man nicht mal ungefähre Summen wie, die die das feindliche Land zahlt, bezahlen.

Was getan werden muss: es sollten schnellstens Informationen gesammelt und bearbeitet werden, sie müssen im richtigen Winkel, durch richtige Kanäle in richtige Medien gelangen. Die Erschaffung des erforderlichen Netzes ist das Ergebnis einer systematischen Arbeit. Die Grenze zwischen Propaganda und der Erschaffung eines Landesimages, unterscheidet sich dadurch, ob man über das spricht, was es tatsächlich gibt und dem, was es in Realität nicht gibt. Doch ist Propaganda während eines Informationskrieges sehr oft effektiv."

Frage an die Eltern: Würden Sie dem Mann, der so aus dem Nähkästchen über die Meinungsbeeinflussung plaudert, ihr Kind in z.B. Geschichtsunterricht geben? Vielleicht will der Mann ihr Kind auch zum Teil des Netzes machen? Auch bearbeitete Informationen im richtigen Winkel verabreichen? Tja, wenn Sie in Estland wohnen, haben Sie gar keine Wahl, denn die Geschichtsbücher, nach denen in estnischen Schulen gelehrt wird, stammen von diesem Mann.

Der Mann von dem dieses Zitat ist, hat seine Fähigkeiten als Informationskrieger schon während des russisch-georgischen Krieges unter Beweis stellen dürfen. Er war nämlich Berater des georgischen Präsidenten Saakaschwilli. Seine Bücher haben schon die Aufmerksamkeit des deutschen Grenzschutzes geweckt, die sie als nazistische Propaganda beschlagnahmte. Gerade versucht er in Wall Street Journal und Economist (das Netz wirkt) das Image Estlands als das letzte neoliberale Land aufzupolieren.

Hier kommt die Auflösung:

Sonntag, Februar 15, 2009

Artikel über Wirtschaft

Nach langer Pause hat Knut wieder einen guten Artikel über die Wirtschaftskrise in Estland geschrieben. Angesichts der Wirtschaftkennzahlen vom 4. Quartal 2008 und Ausblick auf dieses Jahr, sind radikale Lösungsansätze gefragt, ohne Rücksicht auf die Besitzverhältnisse der estnischen Banken und internationale Kreditratings. Welche Möglichkeiten überhaupt im Rahmen der EU durchführbar sind (Enteignung der ausländischen Banken, Zwangskonvertierung der Kredite in Krone, Zwangsvergabe von günstigen Krediten an Unternehmen), weiss ich auch nicht. Was klar ist, dass mit derzeitigem Kurs Estland in wirtschaftliche und soziale Katastrophe schlittert.

Update: Wenn man diesem Artikel Glauben schenkt, ist alles noch viel schlimmer, als wir gedacht haben.

Sonntag, Februar 08, 2009

Februar-Report von Hr. Dornemann

Am 22. Januar waren wir, wir von Notchnoi Dozor, in Narva eingeladen, um die Organisation dort vorzustellen. Der Präsident, wie er sich nennt, Juri Mishin, von der russischen Gemeinschaft Narvas, hatte die Veranstaltung fest im Griff, zu der etwa 35o (ich habe sie überschlägig gezählt), meist wohl Rentner, Invaliden und Veteranen gekommen waren. Von einem Zolloffizier wurden die neuesten EU-Vorschriften erklärt und die Veränderungen dazu an der Grenze infolge des Schengener Vertrages.

Nun war doch Notchnoj Dozor bis vor noch nicht langer Zeit und ganz sicher noch nicht zur Zeit des April Desasters 2oo7 eine geordnete Organisation mit eingetragenen Mitgliedern, wie ich es seinerzeit schon mal beschrieb. Das ist nun anders.
Und ich bin ordentliches Mitglied, während Linter, Klenski und Mark S. sich zwar als Angehörige feiern lassen, aber es nicht sind. Sie sind Trittbrettfahrer und genießen den bekannten Namen. Mehr nicht.

Auf der Rückfahrt von Narwa trafen wir im Zentrum von Kohtla Järve einen jungen Mann, der Mitglied werden möchte. Er meinte am Telephon, uns gegen 21oo Uhr uns dann zu treffen. Wir warteten auch nicht lange, und er kam über einen recht großen, verschneiten Platz gestiefelt. Nichts, kein Mensch und kein Auto war zu sehen. Doch er hatte uns noch nicht erreicht, kam ein Polizeiauto und zwei Privatfahrzeuge, die etwa 1o Meter neben uns hielten. Und mit Richtmikrophonen uns belauschten. Nach etwa einer halben Stunde hatten wir das Gespräch unter freiem Himmel beendet und der junge Mann bat uns eindringlich, ihn nach Hause zu begleiten, denn er habe Angst vor den ungebetenen Zuhörern, die ihn für den nächsten Tag ins KAPO-Büro geladen haben.

Bei einer anderen Gelegenheit hat man uns fünf mal angehalten und bequatscht, sodaß wir mehr als eine Stunde zu spät zu der Veranstaltung kamen. Das ist die Taktik von KAPO. Das sind sicherlich keine Methoden eines demokratischen Gefüges, sondern altstalinistisches Gehabe in Reinform. Das wird von der Masse der Esten als legitimes Mittel des Staates akzeptiert um all die Staatsfeinde dingfest zu machen. Was für eine windige Demokratie inmitten der EU ??

Am 28. Januar war dann der russische Schriftsteller Sergej Lukjanenko zu Besuch in Tallinn, um sich über Noschnoi Dozor zu informieren. Er schreibt ein Buch darüber. Lukjanenko hat auch in Deutschland eine Reihe von Büchern erfolgreich herausgegeben, worüber er mir ganz stolz erzählte.



Noschnoi Dozor mit dem Schriftsteller, in der Mitte mit Lederjacke, links mit weißem Bart ich.